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2.1 Eine Ellipse: Tradition und Kontext

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Interessanterweise sind es oft gerade Dogmatiker und Fundamentaltheologen gewesen, die die systematische, ja: die offenbarungstheologische Bedeutung einer pastoraltheologischen Kontextanalyse betont und als Desiderat gefordert haben. Die akademische Pastoraltheologie verdankt Denkern wie Karl Rahner, Klaus Hemmerle, Johann Baptist Metz, Walter Kasper, Karl Lehmann, Elmar Klinger, Jürgen Werbick, Hans-Joachim Hilberath oder Hans-Joachim Sander sehr viel.26 Was sich in den Werken dieser in sich natürlich wieder sehr differenten Autoren spiegelt, ist der Optimismus, dass ‚Tradition‘ kein Vorgang der Reformulierung des immer Gleichen und prinzipiell Wissbaren bedeutet, sondern prozessuale, relationale und damit performative Qualität hat: Tradieren als Prozess im Vollzug erschließt der kirchlichen Glaubensgemeinschaft als Ganzer neue Potenziale der Erkenntnis, des Ausdrucks und der Verehrung. Tradieren hat substantiell mindestens genauso viel mit Risiko wie mit Sicherheit zu tun. Denn erst die mutige, lernende Selbstüberlieferung an den Kontext beglaubigt, was die Verkündigung des Evangeliums inhaltlich aussagen will: dass über der Welt das Versprechen eines Gottes liegt, diese zum Heil zu führen; dass man im Glauben an die Erfüllung dieses Versprechens gewagte Vertrauensvorschüsse an Andere hin signalisieren kann; dass man sich im Fremden seiner selbst gerade nicht verliert, sondern findet.27

Letztlich geht es hier um ein dynamisches Verständnis von Tradition, das sein uneinholbares Zielbild in der ‚Tradition‘ (wörtlich: Dahingabe; griechisch: paradosis) des Gottessohnes selbst am Kreuz findet.28 Nach dem Zeugnis der neutestamentlichen Schriften wird Jesus in vielfacher Weise ‚tradiert‘, so oft und vielfältig, dass man sagen kann, dass der Gestus des Selbstrisikos geradezu das Typische der Jesusgeschichte selbst ist: Beim Letzten Abendmahl übergibt sich Jesus den Jüngern in den Gestalten von Brot und Wein (Lk 22,19 f); Judas liefert ihn an die jüdische Obrigkeit aus (Mk 14,10), der Hohe Rat übergibt ihn den Römern (Mk 15,1), und schließlich übergibt ihn Pilatus den Soldaten zur Kreuzigung (Mk 15,5). Im innertrinitarischen Geschehen ist es der Vater, der den Sohn dahingibt (Joh 3,16; vgl. auch Röm 8,32) und ist es der Gekreuzigte, der seinen Geist aufgibt (Joh 19,30; vgl. Joh 15,13). Schließlich bekennt Paulus, dass er für den Sohn Gottes lebt, der sich für ihn hingegeben hat (Gal 2,20). ‚Tradition‘, Selbstüberlieferung ist nach diesem exegetischen Kurzbefund also ein Prozess, der alle Geschehenspartner involviert und anfordert und niemanden unverändert hinterlässt – und ist eben keine Nachlassverwaltung eines bereits definierten Erbes, das keinen Außenweltkontakt mehr vertrüge. Tradition ist ein paradoxes Verb: die Entdeckung der je neuen Neuheit dessen, was der gegenwärtige Gott in seinem Geist je heute wirken will. Die konstitutive Hinwendung zum Kontext fügt der restfreien Selbstmitteilung Gottes in Jesus Christus nichts hinzu; sie vollzieht die Grundbewegung dieser Selbstmitteilung aber prozessual nach; und sie macht sie erst zur Mitteilung, das heißt: Ohne den Kontextbezug bleibt eine als Kommunikation verstandene Offenbarung reine Information. Zur echten Mitteilung wird sie erst über das Aussetzen ihrer selbst in einen externen Verstehenshorizont.29

Diese Idee: dass der christliche Glaube sich erst findet, wenn er sich von seinem externen Kontext her neu sieht und empfängt, ist die Leitperspektive dieses Buches. Die Milieus der Deutschen werden als Kontexte modelliert, an denen und von denen her Pastoral selbst neu lernen kann, was ihre Begriffe und Rituale überhaupt bedeuten wollen. Erst die Dezentrierung, die risikofreudige Selbsttradierung an ihre kulturellen Kontexte verschafft kirchlichem Sprechen neues Erkennen und Verstehen der Botschaft, die sie nach diesen Durchgängen wiederum in ihre Kultur hinein verkünden soll.

Das Konzil selbst wollte dieses ‚aggiornamento‘ des Gottesgeistes nachgehend bedenken und ausformulieren. Darum muss auch die Rezeption der Konzilsaussagen von einer „Hermeneutik der Erneuerung“ gekennzeichnet sein, wie Kardinal Walter Kasper dies in seinem jüngsten Buch benennt.30 „Reform bedeutet demnach nicht nur Rückführung auf den Ursprung oder auf eine frühere als authentisch angesehene Traditionsgestalt, sondern Erneuerung, damit das Alte, Ursprüngliche und Bleibend Gültige nicht alt aussieht, sondern in seiner Neuheit neu zur Geltung und zum Leuchten kommt.“31

Das Alte nicht alt aussehen lassen – „das Alte neu sagen“32: Das ist die herausfordernde Aufgabe, die speziell der Pastoraltheologie zukommt. Sie muss hierzu eine Methode finden, die die beiden Brennpunkte der Ellipse aufzunehmen vermag: den Kontext und das bisherige Wissen um den Glauben.33

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