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3 Kurzes fazit und Ausblick
auf den weiteren Gedankengang

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Soweit die zunächst im Konzeptionellen verbleibende Vorstellung des neuen pastoraltheologischen Dreischrittes, wie er sich aus der ganzen Pastoralkonstitution und vor allem aus ihrer Nummer 44 ergibt. Die Perspektive bleibt in diesem ganzen Teil I klassisch theologisch, und manche Leserin, mancher Leser wird ungeduldig darauf warten, dass endlich die Milieuforschung behandelt wird. Zwar ist sicher deutlich geworden, in welcher Funktion diese zum Einsatz kommen wird: nämlich als operative Durchführung jener Kontextbezogenheit, deren Konstitutivität für die kirchliche Selbsterkenntnis in den zurückliegenden Gedankengängen hergeleitet wurde. Aber es braucht noch etwas Zeit, dies konkret durchzuführen. Erst ab Kapitel 5 wird die soziologische Milieutheorie als diejenige Wissenschaft identifiziert, die es in hervorragender Weise erlaubt, dem Auftrag von GS 44 nachzukommen, sich als Kirche in die gegebenen kulturellen Kontexte einzustellen und die eigene Identität von dieser Dezentrierung der Perspektive her zu gewinnen. GS 44 ist eine Programmatik, die die Theologie von sich aus sowohl inhaltlich wie methodisch in die Interdisziplinarität verweist. Dabei dürfte deutlich geworden sein, dass – in diesem Fall – die Soziologie mehr ist als eine reine Hilfswissenschaft, eine Magd (ancilla) der Theologie. Denn wir haben gesehen, dass die Kontexterkenntnisse die Offenbarung erschließende Informationen bedeuten, gerade weil sie aus jener nicht abgeleitet werden können. Man verlässt darum auch nicht das Gebiet der Theologie, wenn man soziologische Milieuforschung betreibt – jedenfalls dann nicht, wenn das Erkenntnisziel des ganzen Unternehmens darin liegt, die je aktuelle Selbstmitteilung Gottes besser erfassen zu wollen.

Wie der pastoraltheologische Dreischritt operativ durchgeführt werden kann; inwiefern soziologische Milieuforschung das ‚auscultare‘, ‚commercium‘ und ‚proponere‘ der Kirche präzisiert und zu verarbeitbaren Daten macht, das ist Gegenstand der Kapitel ab der Nummer 5.

Davor liegt ein weiterer notwendiger Zwischenschritt, den das Kapitel 4 durchführt. Hier ist das vor allem an Empirie interessierte Leseinteresse um Geduld zu bitten – oder um das Vorblättern. Denn es bedarf neben der konzilsgeschichtlichen noch einer systematischen Sondierung. Wenn man es genauer betrachtet, war die bisherige Argumentation eine ‚ad auctoritatem‘. Ihre Kraft lag in dem Hinweis auf eine externe Autorität, nämlich der eines ganzen ökumenischen Konzils der Weltkirche und damit auch der lehramtlich höchst denkbaren. Die aktivierte Logik war: Das Konzil hat den Text so verabschiedet, also müssen wir das auch so umsetzen. Nun sind Argumente ‚ad auctoritatem‘ eher schwach. Sie überzeugen den, der bereits dazugehört, weil er dieselbe Autoritätszuschreibung vornimmt wie der Argumentierende. Und auch wenn das Kapitel 2 neben der reinen Konzilsargumentation bereits einige offenbarungstheologische Analysen von Rahner und Theobald vorgelegt hat, so steht und fällt doch die Stringenz des Gedankenganges mit der Grundakzeptanz des Konzils und vor allem seiner Pastoralkonstitution. Wie wir gesehen haben, ist das aber prekär: Durchaus nicht jeder nachkonzilstheologische Ansatz ist der Meinung, dass ausgerechnet in GS 44 der Durchbruch, der ‚Anfang des Anfangs‘ liegt, sondern anderswo – oder, bei manchen, eben auch nirgendwo. Wenn selbst die lehramtlichen Nachfolgedokumente ganzer Synoden und Kongregationen zur Evangelisierung ohne jeden Hinweis auf das ‚lex evangelizationis‘ aus GS 44 auskommen und die dort gegebene plurale Perspektive in die gewohnte integrale zurückdrehen, ist zwar nach wie vor an das lehramtliche Gewicht des Konzilstextes zu erinnern. Trotzdem tut man gut daran, noch mehr Substanz aufzubieten.

Schließlich geht es um etwas. Die Frage nach einer substantiellen theologischen Begründung der soziologischen Milieutheorie findet ja nicht ihr Ziel darin, irgendein Milieumodell in den Rang einer Glaubenswahrheit zu erheben. Es geht im Kern noch nicht einmal um Milieus. Vielmehr ist es das Ziel, in der Praxis der Pastoral und in der Theorie der Pastoraltheologie pluralitätsfähig zu werden. Es geht um die Erschließung neuer Informationspotenziale über das Geheimnis Gottes in unseren Tagen. Hierzu benötigt man Unterstützung, und es wird zu zeigen sein, wie hilfreich dazu das Instrumentarium der Milieuforschung ist. Wir brauchen Hilfe beim entschlossenen Verlassen der integralistischen Perspektive, in die wir als Theologinnen und Theologen, aber auch als Glaubende so dermaßen einsozialisiert sind, dass es massiver Impulse bedarf, uns hier zu Alternativen zu drängen. Diese Impulse werden uns, so GS 44, von unserer Gegenwartsgesellschaft geliefert, und genau das ist ja überhaupt der Initialpunkt für die Einberufung des Konzils gewesen. Natürlich haben sich seit den frühen 1960er Jahren die damaligen Problemanzeigen radikalisiert: etwa unsere Unfähigkeit heute, unseren Glauben so zu versprachlichen, dass unsere Kulturen diesen nicht nur als diskutabel, sondern sogar als attraktive biografische Option bewerten; unsere anthropologische Ratlosigkeit gegenüber den Durchbrüchen in Biotechnologie, Apparatemedizin oder Robotertechnik; unsere behördliche Schwerfälligkeit, neu entstehenden Stilen von Partnerschaft, Lebensführung, Konsumverhalten oder ästhetischer Selbstbestimmung Vertrauen zu schenken; unser Stress, in den großen moralischen Fragen unserer Zeit wie Armut, Abtreibung, Umweltzerstörung und Waffenhandel aus der Rolle der Moralistin herauszukommen und mit den anderen Kräften der Humanisierung wirksam allianzfähig zu werden; usw.65

Die Ausgangslage heute ist jener der Konzilszeit ähnlich. Wenn dem aber so ist, und wenn die Neuheit theologischer Erkenntnis prominent über Kulturkontakte gewonnen werden kann, dann muss eine neue Verhältnisbestimmung zur Gegenwartsgesellschaft gefunden werden. Und dies muss eine sein, die auch den gesellschaftlichen Ort der Kirche selbst verändert. Dann muss Kirche neu zur Welt kommen. Das war und ist das Projekt von Gaudium et spes. Integralistisch ist dabei die Idee, die Gegenwartsgesellschaft sei quasi die öffentliche Abholstelle des Paketes, das die Kirche mit Offenbarung vollpackt und freundlicherweise an ihre Kulturen adressiert. Wer so tut, als hätte man etwas, was die anderen nicht haben (können); wer die Welt so modelliert, dass alle Anderen entweder auf diese exklusive Leistung warten oder im Falle des Nichtwartens defizitär sind; wer sich selbst ein Sonderwissen zuschreibt und nicht verständlich machen kann, woher er das hat und warum nur er es empfing, der steht im Verdacht, Integralismus zu brauchen, weil er Pluralität nicht akzeptiert oder nicht aushält.

Also ist die systematisch-theologische Herausforderung eine erkenntnistheoretische.66 Die These von GS 44, dass die für die Kirche identitätsstiftende Erkenntnis des Offenbarungswillens Gottes geschichtlich verfasst ist67 und nicht ohne wechselseitige kulturelle Lernprozesse vollständig sein kann, bedeutet bis heute ein enormes Forschungsprogramm für die Ekklesiologie, die Offenbarungstheologie oder den interreligiösen Dialog. Interessanterweise hat aber die nachkonziliare Theologiegeschichte die Kulmination der Herausforderung in der theologischen Anthropologie gefunden. In der Freiheitsphilosophie der Neuzeit und der unhintergehbaren Freiheitssignatur modernen Lebens sieht ein wesentlicher Teil der Theologie ab 1965 den entscheidenden Startpunkt auch für die Gotteslehre.

Insofern ist das Programm von GS 44 im Folgenden mit dem Traktat aktueller theologischer Anthropologie zu kontrastieren. Dies liegt auch insofern nah, als ja die ganze Pastoralkonstitution selbst anthropologisch aufgehängt ist (vgl. nur Nr. 3, 45 f, 91). Zum anderen kann auch die Milieutheorie als Ethnologie betrachtet werden, die wiederum eine Unterwissenschaft der Kulturanthropologie darstellt.

Das Ziel des folgenden Kapitels ist damit dreifach: Die theologische Dignität einer pastoralsoziologischen Aufnahme der Milieuforschung soll weiter begründet werden; der als unhintergehbar ausgewiesene Übergang integraler zu pluraler theologischer Argumentation wird weiter plausibilisiert; und die Notwendigkeit soziologischen Differenzierungsdenkens (Anthropologie als Ethnologie) soll aufscheinen. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Es wird sich zeigen, dass wichtige gegenwärtige Ansätze theologischer Anthropologie zwar dahin drängen, den Menschen als jemanden zu zeigen, der in den Gesten seiner freiheitlichen Lebensführung Signale sendet, die über seine reine Daseinsbewältigung hinausweisen und daher transzendent zu deuten sind. Trotzdem verbleiben die meisten Theologien weiter bei der These eben ‚des Menschen‘, also einer integralen Perspektive, die die Differenz der realen ‚Leute‘, ‚Leben‘ und ‚Kulturen‘ gerne auf eine essentialistische Folie bringen. Dies führt dazu, dass man im Wesentlichen, Allgemeinen, Prinzipiellen stehenbleibt – wodurch unklar wird, wie der reale Beitrag wechselseitiger kultureller Kommunikation zur ‚angepassten Predigt‘ aussieht. Es ist ja hilfreich zu hören, dass ‚der Mensch‘ in seinen Alltagsgesten seine auch religiös bestimmbare ‚Freiheitssehnsucht‘ ausdrückt. Aber wie genau macht er das? Welcher Mensch, welche Freiheit? Und welche Signale? An wen? All dies wäre im Sinne von GS 44 wichtig zu wissen; es bleibt aber unbestimmt, denn die Antworten auf diese Fragen kann kirchliche Erkenntnis nicht aus sich heraus – also aus Schrift, Tradition, Lehramt usw. – generieren. Soll theologisch-anthropologisches Sprechen nicht im Ungefähren stehenbleiben, benötigt es eine doppelte Hilfe: Sie muss sich konsequent auf die Standards pluraler, das heißt kontingenter Wissenschaft einlassen; und sie muss neugierig sein auf spezifisch empirische Forschungsdesigns und ihre Ergebnisse.

65 Eine ausführliche Bestimmung heutiger (hoffentlich) theologieproduktiver ‚Zeichen der Zeit‘ bietet Hünermann 2006a.

66 Dies ist bei Rahner sehr klar auf den Punkt gebracht. Wer seine hier bereits zitierten Aufsätze liest, bemerkt, dass Rahner die neue Situation der Theologie nach dem Konzil als genuin erkenntnistheoretische Anstrengung präzisiert. Auch Rahners Widerstand im Entstehungsprozess von Gaudium et spes war über weite Strecken von speziell erkenntnistheoretischer Skepsis geprägt; vgl. oben Anm. 19.

67 Dazu Hünermann 2006b; ein Text, der die Neuheit der Konzilstheologie des Vatikanum II gegenüber der des Vatikanum I gerade wegen der akzeptierten radikalen Vergeschichtlichung des Glaubens aufzeigt: Theologie wird zur ‚interpretatio temporis‘ und verbleibt damit im Raum der immer zweideutigen kulturellen Zeichen.

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