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Michelle Shocked „Captain Swing” (1990)

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Eine Frau sitzt am Lagerfeuer, irgendwo in Texas. Sie spielt Gitarre und singt dazu: freche und melancholische Lieder, im Duett mit den Grillen. Die Flammen prasseln, Funken stieben. Ein Mann hört ihr zu. Die Batterien seines Walkman sind schwach, und dennoch schneidet er mit. Er weiß: Magischen Momenten wie diesen kann selbst versagende Technik nichts anhaben. Zufällig besitzt dieser Mann ein Plattenlabel, und er findet., diese Musik sei es wert, von vielen gehört zu werden – trotz des Knisterns und Gezirpes und bedrohlich schwankender Tonhöhen. Er tauft die Platte schlicht „The Texas Campfire Tapes“ (wie auch anders), und sie ist eine Ohrfeige fürs CD-Zeitalter. Die junge Frau, sie heißt Michelle Shocked, ist inzwischen nach Europa abgereist; mit Reagans Amerika hatte sie so ihre Probleme. In Amsterdam erzählt ihr irgendjemand, ihre Platte erobere gerade die englischen lndependentcharts, und sie kann es kaum glauben. Im Frühjahr 1987 sind sie und ihr Grillenchor die Nummer eins, ein ganzes Jahr lang sorgen die Campfire-Tapes für Lagerfeuerflair in englischen Hitlisten. Die Plattenindustrie nimmt sich des texanischen Talents an, ein zweites Albumfolgt. Dem Profiproduzenten traut Michelle trotzdem nicht recht. Doch siehe da: „In spite of his car phone and satellite dish we completed a second album“ – Titel: „Captain Swing“. Und in der Tat: Der Name ist Programm. Da röhren die Bläser, Bässe swingen und Besen fegen die Becken blank. Texas-Girl Michelle schwelgt nun so richtig in der Blues-und Jazzhistorie, mit Herz und GefühL Ihre eingestandenen Einflüsse lesen sich denn auch wie ein nostalgisches Who’s Who: Otis Rush, Fats Domino, Gershwin gar, Jerry Lee Lewis und viele mehr. Zum Glück hat sie sich trotz aufgemotzter Arrangements den Lausbubencharme des spröden Erstlings nicht abkaufen lassen. Ihre Texte: verschmitzt und keck, manchmal nachdenklich („Too little too late“), manchmal verspielt („The Cement Lament“). Die Musik klingt durchweg altmodisch – eine einzige Hommage an die gute, alte Zeit. Stilsicher bewegt sie sich zwischen Blues, Sintijazz und Dixieland, mit fließenden Übergängen und von allem immer etwas. Gut vorstellbar, dass selbst ein Woody Allen, ansonsten ausgewiesener Feind jedweder Musik nach 1950, bei „Captain Swing“ dahinschmölze – vor allem beim rasanten Oldtimejazzer „Must be luff“. Gut gemacht, Michelle. Indes: Die originäre Musik der 90er werden andere kreieren müssen.

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