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I. Behinderungs- und Diskriminierungsverbot für marktstarke Unternehmen (§ 20 Abs. 1 GWB)
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§ 20 Abs. 1 GWB soll Situationen einer Machtungleichgewichtung erfassen, in denen zwar eine marktbeherrschende Stellung des Unternehmens i.S.d. § 19 GWB nicht festzustellen ist, kleine oder mittlere Unternehmen (KMUs) aber von einem anderen Unternehmen bilateral derart abhängig sind, dass sie nicht über ausreichende und zumutbare Ausweichmöglichkeiten verfügen. Nach § 20 Abs. 1 GWB gilt das Diskriminierungs- und Behinderungsverbot des § 19 Abs. 1 i.V.m. § 19 Abs. 2 Nr. 1 GWB daher auch für Unternehmen mit relativer Marktmacht in der gleichen Weise wie für marktbeherrschende Unternehmen. Der AEUV enthält keine vergleichbare Regelung.
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Eine relative Marktmacht im Vertikalverhältnis ist nach § 20 Abs. 1 GWB dann zu bejahen, wenn kleine oder mittlere Unternehmen als Anbieter oder Nachfrager von einem Unternehmen abhängig sind, weil keine ausreichenden und zumutbaren Ausweichmöglichkeiten bestehen. Ob ein Unternehmen als kleines oder mittleres Unternehmen einzustufen ist und es damit in den Schutzbereich der Vorschrift fällt, lässt sich nicht schematisch anhand bestimmter Umsatzgrößen festmachen. Vielmehr sind die Umstände des Einzelfalls entscheidend, wobei hier die Umsatzgrößen bei der Bewertung jedenfalls miteinbezogen werden.
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Im Rahmen des geforderten Abhängigkeitsverhältnisses unterscheidet man im Grundsatz zwischen vier Abhängigkeitskonstellationen, die sich in der Rechtsprechung herausgebildet haben: Die sortimentsbedingte, unternehmensbedingte, nachfragebedingte und mangelbedingte Abhängigkeit.[157]
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Hauptanwendungsfall des § 20 Abs. 1 GWB ist die sog. sortimentsbedingte Abhängigkeit. Diese liegt dann vor, wenn Handelsunternehmen bestimmte Waren und insbesondere Markenartikel in ihrem Sortiment führen müssen, um weiterhin wettbewerbsfähig zu sein. Dabei unterscheidet man regelmäßig zwischen einer Spitzenstellungsabhängigkeit und einer Spitzengruppenabhängigkeit. Von einer Spitzenstellungsabhängigkeit spricht man dann, wenn ein Hersteller aufgrund der Qualität und Exklusivität seines Produktes ein solches Ansehen genießt und eine solche Bedeutung auf dem Markt erlangt hat, dass der nachfragende Händler in seiner Stellung als Anbieter darauf angewiesen ist, gerade dieses Produkt zu führen. Das Fehlen des Produkts in seinem Angebot würde zu einem Verlust an Ansehen und zu einer gewichtigen Beeinträchtigung der Wettbewerbsfähigkeit des Händlers führen.[158] Eine Spitzengruppenabhängigkeit ist im Gegensatz dazu davon geprägt, dass ein Händler zwar nicht eine bestimmte Marke, aber dafür mehrere führende Marken im Sortiment führen muss, um wettbewerbsfähig zu sein.[159]
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Eine unternehmensbezogene Abhängigkeit besteht insbesondere, wenn der Abnehmer hinsichtlich seines Bezuges seinen Betrieb derart auf einen Vertragspartner ausgerichtet hat, dass er nur unter Inkaufnahme erheblicher Wettbewerbsnachteile auf die Produkte eines anderen Lieferanten ausweichen kann.[160] Eine unternehmensbezogene Abhängigkeit liegt häufig zwischen KFZ-Vertragshändler und Automobilhersteller, sowie zwischen einem Franchisenehmer und einem Franchisegeber vor.[161]
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Von einer nachfragebedingten Abhängigkeit[162] spricht man im umgekehrten Fall, in welchem ein Unternehmen darauf angewiesen ist, dass seine Produkte oder Leistungen von marktstarken Nachfragern abgenommen werden, weil es selbst nicht über ausreichende und zumutbare andere Abnehmer als Ausweichmöglichkeit verfügt. Ein solches Abhängigkeitsverhältnis findet sich insbesondere bei Zulieferern der Automobilindustrie, im öffentlichen Beschaffungswesen oder bei Lieferanten großer Handelsgruppen.[163]
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Eine mangelbedingte Abhängigkeit liegt vor, wenn ein Unternehmen wegen einer generellen Verknappung auf dem entsprechenden Markt, Waren nicht mehr in ausreichender Menge oder gar nicht mehr erhält, so dass es nicht mehr unter konkurrenzfähigen Bedingungen auf andere Anbieter ausweichen kann.[164]
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Gem. § 20 Abs. 1 S. 2 GWB wird vermutet, dass ein Anbieter einer bestimmten Art von Waren oder gewerblichen Leistungen von einem Nachfrager abhängig ist, wenn dieser Nachfrager bei ihm zusätzlich zu den verkehrsüblichen Preisnachlässen oder sonstigen Leistungsentgelten regelmäßig besondere Vergünstigungen erlangt, die gleichartigen Nachfragern nicht gewährt werden.[165]