Читать книгу "... es ist ein zu starker Contrast mit meinem Inneren!" - Meinhard Saremba - Страница 27

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Das instabile körperliche und psychische Befinden Robert Schumanns führte am 27. Februar 1854 zur Eskalation. Nachdem Clara, wie sie berichtete, ihren kranken Mann »schon seit 10 Tagen keinen Augenblick allein gelassen hatte«, musste sie »nur auf wenige Augenblicke das Zimmer verlassen und Mariechen zu ihm sitzen lassen, um mit Dr. Hasenclever etwas im andern Zimmer zu sprechen«. Diesen kurzen Augenblick nutzte Robert: Er trat aus seinem Zimmer und »ging seufzend« ins Schlafgemach. »Marie glaubte, er werde gleich wiederkehren«, erzählte Clara, »doch er kam nicht, sondern lief, nur im Rock, im schrecklichsten Regenwetter, ohne Stiefel, ohne Weste fort. Bertha stürzte plötzlich herein und sagte es mir, daß er fort sei was ich empfand, ist nicht zu beschreiben, nur so viel weiß ich, daß es mir war, als höre das Herz auf zu schlagen. Dietrich, Hasenclever, kurz alle, die nur da waren, liefen fort, ihn zu suchen, fanden ihn aber nicht, bis zwei Fremde ihn nach etwa einer Stunde nach Haus geführt brachten; wo sie ihn gefunden und wie, ich konnte es nicht erfahren.«142

Der Konzertmeister des Düsseldorfer Orchesters, Ruppert Becker, dokumentierte die Geschehnisse in seinen Tagebuchnotizen. Er stand den Schumanns nahe. Sein Vater hatte sich einst in den 1830er-Jahren auf die Seite des befreundeten jungen Liebespaares Clara und Robert gestellt und als Jurist geholfen, Claras Vater Friedrich Wieck gerichtlich zu verpflichten, die Eheschließung zuzulassen. Ruppert Becker selbst sollte später ein Kollege von Clara Schumann am Frankfurter Konservatorium werden – ein Wegbegleiter, der aufzeichnete, was sich Ende Februar 1854 zutrug: »Schumann hatte sich mittags 2 Uhr aus seiner Schlafstube geschlichen (in Filzschuhen) und war direkt nach dem Rheine zugegangen, von wo aus er sich, in der Mitte der Brücke, in den Fluss stürzte! Glücklicherweise war er schon am Eingang der Brücke aufgefallen, und zwar dadurch, dass er, da er kein Geld bei sich hatte, sein Taschentuch als Pfand abgab! Mehrere Fischer, die ihn deshalb mit den Augen verfolgten, nahmen, sogleich nach dem Sprung, einen Kahn und retteten denselben glücklich. Vom Kahn aus soll er noch einmal versucht haben, ins Wasser zu springen, woran ihn die Fischer hinderten. Fürchterlich muss sein Heimweg gewesen sein; transportiert von 8 Männern und einer Masse Volks (es war Carnaval), das sich nach seiner Weise belustigte.«143

Darüber, was an jenem Tag tatsächlich geschah, wurde Clara Schumann bis nach dem Tod ihres Mannes im Unklaren gelassen. Erst spät erfuhr sie, dass er mit dem Sprung von der damaligen Oberkasseler Pontonbrücke einen Selbstmordversuch verübt hatte. »Ich ahnte es damals nur«, erinnerte sie sich.144 »Als man ihn zu Haus ins Bett gebracht, wollte man ihn nicht aufregen durch das Wiedersehen mit mir, und so entschloß ich mich, für diesen Tag zu Frl. Leser mitzugehen, denn im Haus bleiben und ihn nicht sehen, das wäre mir zuviel gewesen!«145

Dass Clara Schumann ihren Mann in dessen letzten beiden Lebensjahren nur noch wenige Male zu Gesicht bekommen sollte, entsprach nicht ihrem eigenen Wunsch, sondern war Teil der Behandlungsmaßnahmen. Johannes Brahms wurde einer der wichtigsten Vermittler zwischen ihr und dem Menschen, der nicht mehr die Persönlichkeit war, in die sie sich verliebt hatte. Brahms erfuhr in Hannover von den Vorkommnissen und traf am 3. März in Düsseldorf ein, wo er sich zunächst am Schadowplatz Nr. 16 einquartierte. Am 4. März 1854 wurde Robert Schumann auf seinen eigenen Wunsch hin in die Nervenheilanstalt in Endenich (heute ein Stadtteil von Bonn) eingeliefert. Die Familie von Johannes nahm lebhaften Anteil an Claras Situation und Roberts Misere. »Ein Mann in seinen besten Jahren soll zeitlebens in Gefangenschaft sitzen«, schrieb Christiane Brahms, Johannes’ Mutter. »Das ist sehr traurig.«146

Man wählte eine Klinik aus, die nach den neuesten Erkenntnissen der Wissenschaft therapierte. Ihr Leiter, der Psychiater Dr. Franz Richarz, der 1834 bereits mit einer Arbeit über das Erkennen von Geistesstörungen und deren Heilung promoviert hatte (De vesaniae cognitione et cura quaedam), trat zehn Jahre später mit seiner Reformschrift Ueber öffentliche Irrenpflege und die Nothwendigkeit ihrer Verbesserung mit besonderer Rücksicht auf die Rheinprovinz hervor. Er stand den Theorien des Engländers John Conolly nahe, die sich im konventionellen Klinikalltag allerdings nicht angemessen umsetzen ließen. Deswegen gründete Richarz 1844 in Endenich seine Privatklinik. Dass er mit seinen Initiativen zunehmend Anerkennung gewann, belegt die Steigerung der Patientenplätze von anfangs 14 auf 60. Auch Clara und Johannes schenkten ihm Vertrauen, denn Brahms berichtete Joachim in einem Brief, er lerne ihn bei den Begegnungen »jedesmal mehr lieben«, sodass er sich »lange und gründliche Gespräche gönnte«.147 Die Grundhaltung des Therapieansatzes schloss jegliches gewalttätige Vorgehen gegen die Patienten aus. Nur in extremen Ausnahmefällen wurde – wie auch einmal bei Schumann – die Zwangsjacke angewendet. Zur Maxime »no restraint« (keine Zwangsmaßnahmen) gehörte auch, dass engste Angehörige keinen Kontakt mit dem in Pflege befindlichen Menschen haben sollten, zumal unberechenbar war, wie er sich gegenüber engen Bezugspersonen verhalten würde. Aus Rücksichtnahme auf die Befindlichkeit des Patienten wollte man ihn im Sinne der Genesung aus dem alltäglichen Umfeld herauslösen. Dementsprechend verhielt sich Clara ganz im Sinne der Behandlung, in die sie große Hoffnungen setzte. »Recht inständig bitte ich Sie«, hieß es in einem ihrer Briefe an den behandelnden Arzt Dr. Peters, »sobald es zulässig, daß ich ihm einmal schreibe, es mich wissen zu lassen, und so bald ein Besuch ohne Nachteil für ihn stattfinden kann.«148

Clara Schumann erhielt von der Klinik regelmäßig Nachrichten über die aktuellen Entwicklungen, zunächst wöchentlich, später alle zwei Wochen. Als Brahms und Joachim endlich Robert Schumann in Endenich aufsuchen durften, konnten sie ihn zunächst nur als wirr vor sich hinfaselnden Kranken beobachten. Auch der Berliner Freundin Mathilde Hartmann wurde gestattet, Robert »hinter einer Gardine« zu betrachten. Ihren Mann wie ein Tier im Käfig zu beobachten war Claras Sache nicht. Verständlich, dass sie in ihrem Tagebuch notierte, sie »ertrüge es ja nicht, ihn so zu sehen«.149 Später durften die Freunde auch mit dem Patienten sprechen. Nach einem halben Jahr wurde Clara im September 1854 gestattet, Briefkontakt mit ihrem Mann aufzunehmen. Sie nutzte diese Möglichkeit unverzüglich, allerdings kam der Schriftverkehr im Mai 1855 zum Erliegen, weil sich der Gesundheitszustand erheblich verschlechterte. Was der Freundeskreis wahrscheinlich nicht erkannte oder sich nicht eingestehen wollte: Roberts fortschreitender Zerfall war unaufhaltbar. Schon lange bevor er verstarb, existierte die Persönlichkeit nicht mehr, die Robert Schumann einmal gewesen war – der Liebende, der Vater, der Künstler, der Intellektuelle. Um nicht selbst vollends zu verzweifeln, tat Clara gut daran, für sich und ihre Kinder Robert so in Erinnerung zu behalten, wie er vor dem völligen Zusammenbruch war. Für Robert Schumann gab es keine Aussicht auf Heilung. »Melancholie mit Wahn«, lautete die Diagnose im Aufnahmebuch der Klinik am 4. März 1854, die dann nach seinem Tod am 29. Juli 1856 mit dem Bleistiftzusatz »Paralyse« versehen wurde.150 Wie die Krankenakten, Arztberichte und Analysen der Obduktion nahelegen, litt Schumann an hirnorganischen Abbauprozessen, die charakteristisch sind für eine syphilitisch bedingte progressive Paralyse.151 Die Fakten belegen, dass weder Clara und Johannes noch die behandelnden Ärzte die Entwicklungen hätten beeinflussen können: Schumann hatte sich wohl schon 1831 wahrscheinlich bei seiner Leipziger Geliebten Christiane Apitzsch infiziert, die er in seinen Tagebüchern »Christel« oder auch »Charitas« nannte. Im Laufe der Jahre plagten ihn immer wieder Kopfschmerzen, Depressionen und Aggressionen, die allerdings seine höchst produktive künstlerische Aktivität noch nicht beeinträchtigten. Aber es gab kaum zusammenhängende Monate, in denen sich das Leiden nicht bemerkbar machte. Ohne Claras teilnahmsvolle Pflege wäre das Aus wahrscheinlich schon früher gekommen. Verhindern konnte sie es letztlich nicht. »Was muß die arme Frau leiden!«, schrieb Brahms an Joachim.152 Johannes besuchte Robert Schumann mehrfach und hielt Clara und enge Freunde wie Joseph Joachim auf dem aktuellen Stand. Claras Mann schwankte zwischen apathischem Vor-sich-Hintranen, homöopathischen Dosen von lichten Augenblicken und konfusem Gebrabbel »mit einer schauerlichen Eile und Angst von dem, was ihm die Stimmen zuflüsterten oder auch die Ärzte, er verwirrte beides«, wie Johannes es formulierte.153 Letztendlich indes »sieht es schlimm, ja trostlos aus«.154 Die Hoffnung der Freunde, wie Johannes schrieb, dass eines Tages »Fr. Sch. ihn pflegen könnte«,155 zerschlug sich bald. Robert Schumann dämmerte zwei Jahre lang dem Tod entgegen.



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