Читать книгу Die Tote im Vena-Kanal zu Chioggia : Kriminalfälle aus Venedig - Meinhard-Wilhelm Schulz - Страница 10
Оглавление5. Teil: Volpe reagiert
Mit diesen Worten, Signori, endete der Bericht unserer charmanten Besucherin. Volpe hatte sich schweigend zurückgelehnt, die Fingerspitzen aufeinander gepresst, die Augen geschlossen und dachte angestrengt nach. Schließlich sagte er:
»Auf Ihre Verantwortung will ich den Fall übernehmen, sage Ihnen aber jetzt schon im Voraus, dass Sie keineswegs mit einem guten oder überhaupt einem Ergebnis rechnen können. Dazu hat die Zeit zu viel Staub auf der Sache niedergehen lassen, und die Ungereimtheiten sind mir zu groß. Ich befürchte Schlimmes.«
»Das ist mir gleichgültig«, sagte die einstmals Schöne, »ich will, ich muss endlich Bescheid wissen. So kann ich nicht weiterleben.«
»Gut«, sagte Volpe gedehnt, »aber bevor ich loslege, muss ich wissen, was der Prozess ergab, der zwangsläufig kurz nach dem Tod Ihrer Mutter stattfand. Wie es sich denken lässt, zog der Staatsanwalt die Version Ihres Vaters in Zweifel, und Ernesto wurde unter Anklage gestellt. Wie ging die Sache aus?«
»Sie haben vollkommen recht, Signore Tartini, aber seine Version des Mordes konnte nicht widerlegt werden, und er wurde mangels Beweisen freigesprochen. Die Nachbarn wollten aber nichts mehr mit ihm zu tun haben und mieden uns beide, als hätten wir die Pest am Leib. Man glaubte ihm kein Wort, und mein Ruf war bereits vorher aus bestimmten Gründen ohnehin nicht der beste gewesen, insbesondere bei den Frauen des Dorfes, diesen neidischen missgünstigen Weibern. Aber das war mir gleichgültig, Signori.«
Volpe ging nicht auf das ungehemmte Vorleben unserer Besucherin ein sondern griff gleich das Geister-Thema auf; er sagte:
»Kommen wir zum unheimlichen Ereignis in der vom Mond beschienenen Allee vor Ihrem Elternhaus, aus der heraus Ihr Vater für immer verschwand: Spürten Sie das, äh, äh, unsichtbare Gespenst nur, wenn Sie körperlichen Kontakt zu ihm hatten?«
»Nur dann.«
»Nur dann, aha! So war es also. Ihrem Vater alleine, der diese Erscheinung hatte oder zu haben behauptete, erschien der Geist. Im Unterschied zu Ihnen will er die Gestalt sogar gesehen haben. War das so, Signora?«
»Genau so war es. Aber er war psychisch krank. Naturgemäß glaubte er, in dieser gespenstischen Atmosphäre meine verstorbene Mutter zu sehen. Das denke ich bis heute, und darum floh er aus dem Dunstkreis des Mordhauses. Er hätte es unmittelbar nach ihrem Tode tun sollen. Das wäre besser gewesen, für ihn und für mich.«
»Haben Sie damals eine Vermisstenanzeige aufgegeben?«
»Gewiss doch.«
»Unmittelbar, nachdem er davon gerannt war?«
»Natürlich nicht. Ich rechnete tagelang damit, dass er wieder auftauchte. Er war nicht entmündigt und konnte gehen, wohin er wollte, der unbescholtene Mann. Ich fasste mich in Geduld.«
»Wie lange?«
»Zwei Monate lebte ich im Landhaus mutterseelenalleine und geriet an den Rand des Wahnsinns. Dann ging ich aufs Revier.«
»Was haben die Carabinieri unternommen?«
»Abgesehen davon, dass sie die Anzeige aufnahmen, rein gar nichts, bis heute nichts. Hunderte von Menschen, so sie, verschwänden bei uns im Lande und tauchten wieder auf. Ich solle Geduld haben oder mir einen Privatdetektiv nehmen.«
»Und da kommen Sie jetzt, sechzehn Jahre nach seinem Verschwinden, achtundzwanzig Jahre nach dem Tod ihrer Mutter in meine Praxis und verlangen, dass ich diesen staubbedeckten Fall klären soll!? Warum nicht früher? Warum erst jetzt? Wie soll das nach so langer Zeit noch gehen?«
Die Signora antwortete nach kurzem Nachdenken so:
»Vor wenigen Tagen erhielt ich einen Anruf von der Kriminalpolizei. Ein junger Commissario namens Ambrosio di Fusco war am Apparat und sagte mir, der Fall meiner Eltern, mit dem er seit Kurzem betraut sei, werde jetzt endgültig zu den Akten gelegt; ob ich dagegen Widerspruch einlegen wolle.«
»Ohne lange nachzudenken, widersprach ich energisch. Vielleicht hätte ich das nicht tun sollen und zufrieden sein müssen, dass sich die Aktendeckel endlich geschlossen hatten, aber ich protestierte trotzdem gegen die Entscheidung der Behörde. Darauf sagte der Commissario, er werde noch zwei Monate abwarten, aber dergleichen Dinge seien im Grunde nur etwas für die Gilde der Privatdetektive und verwies mich an Sie, Signore Tartini.
Scusa! Eigentlich halte ich nichts von dieser teuren Konkurrenz unserer Carabinieri, aber da Sie der Commissario nun einmal empfohlen hatte, führt mich der Weg hierher.«
»Aha! Ganz freiwillig sind Sie also nicht gekommen.«
»Gezwungen, reiner Zwang! Aber jetzt bitte ich Sie dennoch darum, den höchstwahrscheinlich vergeblichen Versuch zu unternehmen, etwas Licht in die alte Sache zu bringen.«
»Gut, schön, Signora«, sagte Volpe trocken, »ich werde mein Bestes geben und zunächst einmal die verstaubten Akten anfordern. Außerdem wüsste ich gerne die Adresse Ihres Onkels, der Ihnen damals die Schreckensbotschaft überbrachte. Ich würde die Geschichte gerne aus seinem eigenen Munde vernehmen. Nicht wahr, er heißt Eugenio Bosoni.«
»Seine Adresse wollen Sie wissen? Wirklich?«
Lucilla lachte höhnisch, hässlich und hämisch.
»Was gibt’s da zu lachen?«
»Eugenio ist unbekannt verzogen.«
»Mein Gott! Noch ein Verschollener.«
»Er ist tot. Entweder steckt er in der Hölle, was ich vermute, vielleicht aber auch im Fegefeuer. Falls Gott den Schuft begnadigt hat, könnte er auch einen Platz im Himmel gefunden haben.«
Volpe blickte geschockt aus der Wäsche. Nach einer langen Pause des Schweigens sagte er ganz leise:
»Sie konnte ihn wohl nicht besonders leiden?«
»Ich hasse ihn wie die Pest«, schrie Lucilla mit schriller Stimme.
»Warum?«
»Weil es so ist. Stellen Sie keine dummen Fragen!«
»Wann ist er gestorben? Woran?«
»Er ist nicht, äh, einfach so gestorben.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Dieser alleinstehende Hurenbock wurde genau vor einer Woche tot in seiner Wohnung aufgefunden. Die Leiche war bereits in Verwesung übergegangen. Signore di Fusco unterrichtete mich und schleppte mich zur Identifizierung der Leiche an den Tatort. Es war furchtbar, es war das Grauen. Ich musste mich übergeben.«
Volpe war zutiefst erschüttert. Die Signora schluchzte jetzt hemmungslos. Zwischen den Fingern ihrer vors Gesicht geschlagenen Hände quollen die Tränen hervor und perlten in die Tiefe. Als Butler wusste ich, was zu tun war und brachte beiden ein Becher Wasser, dem ich eine Grappa beigegeben hatte. Nachdem die Gläser geleert waren, sagte Volpe:
»Könnte der Tod Ihres Onkels vielleicht in ursächlichem Zusammenhang mit dem Mord an Ihrer Mutter sowie dem Untertauchen Ihres Vaters stehen?«
»Der Commissario glaubt nicht dran, schon gar nicht an Gespenster. Ich glaube auch nicht dran. Nach so langer Zeit? Wohl kaum. Es wird eine andere Ursache haben.«
»Auf welche Weise wurde er ermordet?«
»Das ergab die Autopsie: Er war stockbetrunken und hatte Rauschgift genommen. So war es dem unbekannten Täter ein Leichtes, ihn mit einem Kissen zu ersticken.«
»Was ergab die Spurensuche?«
»Sie verlief im Sande.«
»Gibt es sonst noch etwas, Signora Lucilla?«
»Ja, das da«, erwiderte sie und fischte ein zusammengefaltetes Papier aus der Handtasche, um es auf der Glasplatte des runden Tisches, an dem sie mit Volpe saß, glattzustreichen. Es war ein Computerausdruck, der mit einem Briefkopf versehen war, wie er in die typischen Fensterumschläge passt.
»Sie haben ein Schreiben erhalten?«, fragte Volpe.
»Ja, vor zwei Wochen; auch darum bin ich zu Ihnen gekommen.«
»Haben Sie den Umschlag aufgehoben?«
»Nein; wozu?«
»Man hätte vielleicht den Ort ausfindig machen können, an dem das Schreiben aufgegeben wurde.«
»Er wurde nachts in meinen Briefkasten geworfen, einfach so, ohne Briefmarke; entweder vom Absender oder einem Boten.«
»Anonym?«
»Wie man’s nimmt. Lesen Sie!«
Volpe nahm das knittrige Blatt zur Hand und murmelte halblaut vor sich hin, was darin geschrieben stand. Ich stand hinter ihm, sah, dass dem Schreiben jedwede Anrede, jedwede Adresse des Absenders fehlte und hörte jedes Wort.