Читать книгу Die Tote im Vena-Kanal zu Chioggia : Kriminalfälle aus Venedig - Meinhard-Wilhelm Schulz - Страница 9
Оглавление4. Teil: Mein neues Leben mit dem Vater
Wie geschockt ich damals war, ich, die Vierzehnjährige, Signore Tartini, brauche ich Ihnen nicht ausführlich zu schildern. Auch nach fast drei Jahrzehnten stößt mir das Grauen eisig seine Dolche ins Herz, wenn ich daran denke, auf welche Weise meine Mama und ihre Zofe ums Leben kamen. Doch wie hätte ich dem Vater Trost spenden können, wo ich selber des Trostes bedurfte?
Ich brach die Schule ab, kümmerte mich von nun an um den Vater und führte ihm den Haushalt.
Seit dem grausigen Ereignis war er ein anderer Mensch geworden. Seine schon immer schweigsame und mürrische Art trat nun überwältigend zutage, verbunden mit einer unvorstellbaren Wucht der Trauer und der Niedergeschlagenheit, seit seine Frau, meine Mutter eingeäschert worden war und eine Seebestattung gefunden hatte. Er wollte nicht an ihrem Grab stehen. Das sei zu viel für ihn, sagte er. Der Gedanke daran, dass dieses zauberhafte Wesen dort unten allmählich zu Staub zerfiel, war ihm unerträglich.
Nichts gab es seitdem mehr, was seine Aufmerksamkeit erregt, was ihn interessiert hätte. Zu niemandem außer mir pflegte er noch Kontakt. Stundenlang konnte er tieftraurig vor dem Tisch sitzen und grübeln. Knarrte dann eine Tür oder knackte das Holz der alten Treppe, fuhr er empor, bleich wie ein Gespenst, um dann stundenlang in der Wohnung auf und ab zu laufen, als suchte er nach etwas, das es nicht gab. Meldete sich das Telefon, zuckte er zusammen und ging nicht dran. Ich musste es für ihn tun. Ich musste alles für ihn tun; kurz: Er war vollkommen mit den Nerven herunter und wartete vergebens darauf, dass sich der Mörder der geliebten Frau finden ließe, denn die Ermittlungen verliefen im Sande. Er war nicht mehr fähig zu arbeiten und lebte fortan von Sozialhilfe.
Ich selber wurde in diesen trostlosen Jahren Achtzehn und hatte den Verlust der Mutter allmählich weggesteckt oder verdrängt. Wie sehr ich in Wirklichkeit darunter litt, war mir nicht bewusst, denn ich stürzte mich wie besessen in den Taumel des Lebens.
Ich war das schöne Mädchen, nach dessen Besitz die Jungen lechzten und machte von dieser Tatsache reichlich Gebrauch. Meine Kleider konnten nicht kurz und knapp genug geschnitten sein. Ich war die Prinzessin der Disco und ließ mich herumreichen oder aushalten. Am Strand zeigte ich bedenkenlos, was ich hatte, und das Gefolge wuchs und wuchs. Ebenso wuchs mein Bankkonto. Statt einen Beruf zu erlernen, statt arbeiten zu gehen, lebte ich fürstlich von meinem Körper. Auch für gewisse Magazine ließ ich mich ablichten und machte meinen Reibach damit.
So war es, so ging es, bis ich Sechsundzwanzig wurde und sich die ersten Verschleißerscheinungen dieses aufreibenden Lebens einstellten. Die süßen Jungs, die mich umschwärmt hatten, waren allesamt in den Hafen der Ehe eingelaufen und hatten der Frau das Verhältnis mit mir als eine unbedeutende Episode hingestellt. Die Preise fielen in den Keller. Keiner meiner Verehrer hatte mir einen Heiratsantrag gemacht. Ich gehörte allen und keinem.
Jetzt war ich auf dem besten Weg, zur billigen Nutte für ältere Herren herabzusinken und wurde allmählich häuslicher. Aus dem Taumel, in den ich mich gestürzt hatte, um Vergessen zu finden, gab es ein grausames Aufwachen, und jetzt stellte ich fest, dass ich das mörderische Geschehnis noch längst nicht überwunden hatte, auch wenn seitdem zwölf Jahre vergangen waren. Infolgedessen rauchte ich wie ein Schlot und trank wie ein Loch. Ich war drauf und dran, jeden Halt im Leben zu verlieren.
Eines Nachts kam ich mit meinem Vater von Venedig, wo er mit mir durch die Kneipen getourt und ich in meiner freizügigen Aufmachung zur Attraktion geworden war, nach Mestre zurück. Es war kurz vor Mitternacht, und kein Taxi wartete mehr vor dem Bahnhof auf Kundschaft. Notgedrungen machten wir uns zu Fuß auf den ungefähr einstündigen Heimweg.
Die Nacht war tropisch warm. Die Lagune sandte ihren fauligen Geruch ans Land. Der Mond stand weit draußen über ihr und goss sein weißes Licht über die Landschaft.
Nachdem wir dem lärmenden Verkehr der Industriestadt entronnen waren, schritten wir durch die Stille der einsamen Straße. Ich zerrte das am Körper klebende Kleid über den Kopf und schlenkerte es dann in der einen Hand, bevor ich es in den Graben schleuderte. Das Geräusch unsere Schritte und das endlose Zirpen der Grillen und Schnarren der Heupferdchen beherrschte die Szene. Schweigend schwankten wir durch die lauwarme Nacht, längst Arm in Arm, um einander Halt zu geben.
Endlich erreichten wir die Allee, die zu unserem baufällig gewordenen Haus empor führte. Der Mond warf die Schatten der Bäume quer darüber, so dass wir abwechselnd im grellen Licht und der größten Finsternis wandelten.
Schon kamen wir ans gusseiserne, grässlich verrostete Tor unsers Anwesens. Ich wollte hindurch schreiten, aber Ernesto hielt mich am Slip, den ich immerhin noch trug, fest und sagte in einer Mischung von Stöhnen und Grauen:
»Guter Gott! Wer kommt uns da entgegen?«
»Ich sehe nichts. Du bist betrunken«, sagte ich und machte mich von ihm los; er stöhnte und stammelte:
»Nicht betrunken genug, Lucilla! Siehst du nicht die schwarze Gestalt da, die mit ausgebreiteten Armen auf uns zu schwebt?«
Ich nahm ihn in den Arm und sagte:
»Nichts als Halluzinationen! Vater, lass uns ins Haus gehen! Soll ich unseren Arzt rufen? Du bist krank.«
Er antwortete nicht mehr, riss sich los, stand stumm und starr mitten auf der gekiesten Allee und sah stieren Blickes hinauf zu unserem majestätisch in der Nacht liegenden Haus. Sein Gesicht nahm im unsteten, durch die Zweige der riesigen Kastanien sickernden Mondlicht einen qualvollen Anblick ein. Fragend sah ich ihn an, denn mir war nicht das Geringste aufgefallen.
Ernesto schien meine Anwesenheit jetzt vergessen zu haben und begann, langsam rückwärts zu gehen, einen Schritt nach dem anderen und starrte weiterhin auf etwas, das ich nicht sehen konnte.
Eine Weile verharrte ich noch auf der Stelle. Dann folgte ich ihm zögerlich und legte ihm den Arm über die Schulter, als ich ihn erreicht hatte. Furcht hatte ich nicht die geringste. Vielmehr schob ich den Zwischenfall Vaters zerrütteten Nerven zu.
Doch jetzt ergriff ein nie gekannter Schauder von mir Besitz. Mir ward, als umhüllte mich eine eisige Wolke, von Kopf bis Fuß. Alles an mir fröstelte. Ich wollte, ich hätte das Kleid nicht weggeworfen. Mir klapperten die Zähne. Das Haar sträubte sich und wehte im kalten Hauch. Es wollte mir vorkommen, als ob eine unsichtbare Gestalt mitten durch mich hindurch ging. Der Schock war so grenzenlos, dass ich ums Haar daran gestorben wäre.
In diesem Augenblick stieß der Vater einen, wie es mir vorkommen wollte, minutenlangen gellenden Schrei aus. Seine Stimme wurde dabei schriller und schriller, bis sie sich überschlug und in einem solch heiseren Wimmern endete, wie es ein zu Tode gemartertes Kind von sich geben könnte.
Bevor ich ihm noch gut zureden konnte, hatte er schon meinen Arm abgeschüttelt und tauchte mit einem in der Ferne allmählich abebbenden Stakkato von Kreischen in der Finsternis unter.
Ich habe ihn seitdem nie wieder gesehen; und genau darum, Signore Tartini, bin ich zu Ihnen gekommen. Ich bitte Sie herauszufinden, was aus meinem armen Vater geworden ist. Signore Tenente Ambrosio di Fusco erklärt sich nämlich für nicht zuständig und schickt mich zu Ihnen. Ohne seine Aufforderung wäre ich nicht gekommen, denn im Grunde mag ich keine privaten Detektive, aber er empfiehlt Sie. Geistern nachzuforschen sei nicht seine Aufgabe. Das überlasse er gerne anderen. Er glaube nicht an Gespenster. Ferner sei zu viel Wasser die Adige heruntergelaufen und in die Adria geströmt, um so einen alten Fall noch einmal aufzurollen.
Mein erster Eindruck von Ihnen ist durchaus positiv, Signore Tartini. Wollen Sie den Auftrag übernehmen?