Читать книгу Die Tote im Vena-Kanal zu Chioggia : Kriminalfälle aus Venedig - Meinhard-Wilhelm Schulz - Страница 12
Оглавление7. Teil: Anschließende Beratung
Erschüttert legte Volpe das Blatt auf den Tisch. Er kämpfte mit den Tränen, und auch ich war zutiefst berührte. Als er sich wieder gefasst hatte, sagte er ganz leise:
»Signora Bosoni! Sie haben von mir verlangt, dass ich Ihren Vater ausfindig machen soll. Wenn ich vom obigen Schreiben ausgehen darf, sollte er bereits tot sein, und da er diesen, äh, Abschiedsbrief doch wohl persönlich bei Ihnen eingeworfen hat, müsste der Suizid in Venedig oder näherer Umgebung erfolgt sein.«
»Aber der Commissario sagte mir, es habe hier in den letzten Tagen keinen Selbstmord gegeben, ja, nicht einmal in der Ferne, jedenfalls nicht durch den Strick. Außerdem seien die Identitäten sämtlicher Selbstmörder bekannt. Ein Tippelbruder sei nicht dabei.«
»Signora, das ist eine verdammt üble Geschichte. Giovanni wird das Schreiben für meine Unterlagen kopieren und Sie dann hinaus geleiten. Ich gebe Ihnen Bescheid, sobald ich meine Ermittlungen abgeschlossen habe. Mir graut vor dem Ergebnis. Ich wollte, Sie hätten mich nicht konsultiert.«
Ich tat, was Volpe von mir verlangte. Als ich, nachdem ich Signora Bosoni auf den ‚Calle di Cavallo‘ bugsiert hatte, ins Besucherzimmer zurückkehrte, fand ich ihn in tiefstem Nachdenken versunken vor und setzte mich unaufgefordert neben ihn. Indem er aus dem Gestrüpp der Gedanken zum Leben erwachte, sagte er tonlos:
»Giovanni, was hältst du von unserer Donna?«
»Schwer zu sagen«, erwiderte ich, »sie war einmal eine Schönheit, zweifellos, ist aber vorzeitig verbraucht und gealtert. Kein junger Spund verdreht noch den Hals nach ihr. Ein geheimer Kummer zehrt an ihr, und die Eiseskälte ihrer Ausstrahlung macht mich schaudern. Ich möchte ihr nicht im Mondschein begegnen. Es ist der Typ, der über Leichen geht.«
»Danke für deine Einschätzung, auch wenn du übertreibst. Sie ist eine schöne Frau und ein armes Kind zugleich. Doch warum, mein Lieber, bemüht sie uns wohl? Das Melodram ist schon an die dreißig Jahre her und der Fall längst zu den Akten gelegt.«
»Ich denke, die Ereignisse von damals brannten sich in die Seele des vierzehnjährigen Mädchens ein. Sie war noch zu jung, um den entsetzlichen Tod der Mutter zu verwinden. Der Vater hätte sie unbedingt zur Psychotherapie schicken sollen, aber ausgerechnet er?!«
»Schön und gut«, meinte Volpe, »aber da ist ja auch noch die Geschichte mit dem Gespenst. Ich selber glaube nicht an Geister. Auch Lucilla will das Gespenst nicht gesehen, sondern nur gefühlt haben, als sie dem Vater den Arm auf die Schulter legte.«
»Signore Bosoni litt unter Halluzinationen. Das übertrug sich in gemäßigter Form auf die Tochter, vermute ich.«
»Das sagt sie! Aber vielleicht tischt sie uns ja ein Märchen auf. Nur soviel will ich als sicheres Terrain anerkennen: Das Grauen von früher ließ sie nicht zur Ruhe kommen. Daher sprach sie bei Ambrosio vor und ging unserem Freund mit der uralten Moritat dergestalt auf die Nerven, dass er sie postwendend uns auf den Hals schickte, naturgemäß, um die Nervensäge loszuwerden.«
»So ist es, Sir. Ohne den Commissario wäre sie nicht gekommen.«
»Oder ohne den mysteriösen Brief.«
»Was soll daran geheimnisvoll sein?«
»Mein Lieber! Versetze dich einmal in das Seelenleben eines Mörders, der sich drei Jahrzehnte nach der Tat, während der er als Obdachloser durch die Gegend tourte, aufhängen will! Wie kriegst du es da hin, einen solchen Brief in den gar nicht vorhandenen Computer zu tippen, auszudrucken, in einen hübschen Fensterumschlag zu stecken, um dann zu deiner Tochter zu pilgern und ihn anonym einzuwerfen. Wenn schon, dann doch wohl per Post mit dem netten Beginn, „Meine liebe Tochter, liebe Lucilla!“«
»Du meinst also, Lucilla habe ihn selber verfasst.«
»Das halte ich für wahrscheinlich. Der emotionale Stil lässt mich auf eine Donna als Verfasserin schließen. Auch die anderen Geschichten um ihren Vater und Onkel Eugenio nehme ich ihr nicht unbedingt ab. Sie verlangt, dass wir ihr Glauben schenken, ohne dass sie uns Beweise vorlegen könnte.«
»Aber warum verhält sie sich so?«
»Nun, die Leiche des Signore Bosoni wurde nirgendwo am Strick baumelnd gefunden. Also dürfte es diese Leiche gar nicht geben. Ich gehe daher davon aus, dass der ganze sogenannte Brief nichts als ein Ablenkungsmanöver dieser psychisch schwer gestörten Frau sowie Ausdruck ihrer schriftstellerischen Kunst ist.«
»Wovon sollte sie ablenken?«
»Hast du mir nicht selber gesagt, sie sei der Typ, der über Leichen geht? Hinzu kommt die Tatsache, dass Mord nicht verjährt.«
»Mein Gott! Ich blicke in einen Abgrund.«
»Mir geht es nicht viel besser, Giovanni. Vermutlich wusste Lucilla, dass Ernesto der Mörder ihrer Mutter war. Eines Tages reifte in ihr der Gedanke, ihn dafür umzubringen. Zu diesem Zweck erfand sie die Gespenstergeschichte, in deren Folge der Vater angeblich aus dem Haus floh, in dem er seine Frau gemeuchelt hatte und sein Leben fortan als Bettler und Vagabund fristete.
Niemand kam damals auf die Idee, Lucilla könnte ihn ermordet haben, die eigene Tochter! Man glaubte ihr, dass der doch wohl tatsächlich psychisch schwer angeschlagene Mann wirklich aus diesem Haus des Grauens flüchtete und für immer verschwand.«
»Und was ist aus der Leiche des Vaters geworden? Was hat Lucilla mit ihr gemacht?«
»Was hättest du getan?«
»Sie im Park verscharrt und Gras darüber wachsen lassen, um erst nach Monaten die Vermisstenanzeige aufzugeben.«
»Hinzu kommt der mysteriöse aktuelle Tod ihres Onkels. Ich denke, lieber Giovanni, wir haben den Fall mit gemeinsamem Nachdenken gelöst. Schicke der Signora eine Mail und lade sie für den morgigen Abend zur Cena ein. Dort werden wir den Rest besprechen, darunter auch, wie und warum sie ihren Onkel Eugenio umbrachte.«
»Was? Den auch!«, entfuhr es mir.
»Wenn man den Zeitpunkt in Betracht zieht, kommt nur sie dafür in Frage. Er wusste zu viel. Er hatte sie in seiner Gewalt. Sie behauptet, ihn zu ‚hassen, wie die Pest‘. Was schließt du daraus?«
»Er nutzte sein Wissen aus, um sie von sich abhängig zu machen, um sie seinen Gelüsten zu unterwerfen, wie sie ja andeutete.«
»Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen, Giovanni. Sieh zu, dass du morgen Abend ein anständiges Essen auf den Tisch zauberst. Auf mich kommt bis dahin noch viel Arbeit zu.«