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1. Teil: Bei Volpe im Kaminzimmer


An einem lauen Sommerabend im Oktober 2021 saßen wir in trauter Runde bei Volpe im Kaminzimmer, Commissaria Debora, der Volpe zweimal das Leben gerettet hatte, Tenente Ambrosio di Fusco, Giovanni und ich.

Zu später Stunde, als wir allesamt heiterer Stimmung waren, kam das Gespräch auf das Thema des Übernatürlichen. Debora, Ambrosio und ich bestritten energisch, dass es solche Dinge zwischen Himmel und Erden gebe, aber Giovanni war sichtlich anderer Meinung. Offenbar kannte er sich damit aus.

Mit süffisant angehobener linker Augenbraue sah er zu Volpe hinüber. Mein Freund, der sich bislang noch nicht zu dieser Frage geäußert hatte, lächelte hintergründig, um schließlich zu sagen:

»Amici cari! Vor ungefähr neun Jahren, als ich Sergiu noch nicht begegnet war, schwappte ein solcher Fall von Geisterseher in meine Praxis. Da mir das literarische Genie des Dottore noch nicht zur Verfügung stand, übernahm Giovanni das Protokoll und bewies meines Erachtens damit, dass er nicht nur ein exzellenter Koch sondern auch ein schriftstellerisches Naturtalent ist. Mein Lieber, vielleicht hättest du die Güte, uns deine damaligen Aufzeichnungen zum Besten zu geben? Das wäre nett und unterhaltsam.«

Ich hatte einen zu viel in der Krone, um zu bemerken, dass es sich hier um ein abgekartetes Spielchen handelte. Unser Butler zierte sich nämlich gekonnt, um dann geheimnisvoll zu flüstern:

»Muss es sein, Sir?«

»Es muss sein, Giovanni. Siehst du nicht, wie sehr ich unseren Gästen den Mund wässerig gemacht habe? Wie sehr sie auf deine Story gespannt sind. Gib dir einen Ruck!«

»Nun gut, wenn es denn sein muss«, sagte der Butler und steckte die lange Nase tief ins Glas und murmelte darauf:

»Gut, dann werde ich halt mal. Ich hoffe, ihr erlaubt mir den freien Vortrag. Sonst müsste ich in unser Archiv kriechen, um danach zu suchen, und dazu habe ich keine Lust. Der Fall war ja auch nicht weltbewegend; im Grunde eine simple Angelegenheit.«

»Sprich, wie dir der Schnabel gewachsen ist! Wir werden schon unser Vergnügen haben, und den Dottore darf ich bitten, seine Neidgefühle zurückzuhalten«, rief Volpe.

Giovanni reckte und streckte sich im knatschenden Korbsessel, nahm die theatralische Pose des geübten Redners an und begann seinen Vortrag, indem er sagte:

»Beginnen möchte ich mit dem Bericht der Signora Lucilla Amanda Bosoni aus der Cannaregio in unserer schönen Stadt Venedig. Um es authentisch erscheinen zu lassen, referiere ich in ihrem Namen. Es war ein heißer Juliabend, als sie bei uns einschneite. Ich half ihr aus dem zwei Nummern zu klein geratenen Jäckchen und reichte ihr unsere roten Flipflops für den Hausgebrauch, um sie dann ins Besucherzimmer zu geleiten.

Zunächst möchte ich sie beschreiben, wie ich sie noch in lebhafter Erinnerung habe: Ich schätzte ihr Alter auf Ende Vierzig. Sie war von mittlerer Größe, schlank und von durchaus kurvenreicher Gestalt. Ihr feines und schon fein gefälteltes Gesicht war von einer goldblondierten Löwenmähne eingerahmt und wirkte irgendwie verhärmt. Sie trug eine Goldrandbrille auf der schmalen langen Nase. Ihr breiter Mund mit seinen dezent geschminkten wulstigen Lippen, die zwei Millimeter breit klafften, um die regelmäßigen Zähne zu zeigen, ließ meine Lippen sich unwillkürlich kräuseln.

Sie trug ein tief dekolletiertes kurzes Kleid aus schimmernder schwarzer Seide, das vorne zum Bustier ausgearbeitet war, einen welligen Baby-Po herausquetschte und im Rücken aus nichts als sich überkreuzenden Trägern bestand. Ihre hübsch geschwungenen Beine hätten sogar unserem Sergiu gefallen, hihihi, aber er war bei uns noch nicht mit von der Partie. Den Rosenduft, welchen sie reichlich verströmte, spüre ich bis heute in der Nase.

Nervös fummelte sie eine rechteckige vergoldete Blechdose aus der Handtasche und entnahm ihr eine Zigarette. Eilig gab ich ihr Feuer, wie sich das gehört.

Rauchend saß sie also hier in einem dieser Sessel und hatte die bloßen Schenkel malerisch übergeschlagen. Giuseppe, schüchtern wie immer, errötete, als diese geschmeidige Katze ihm gegenüber lauerte. Er wusste nicht, warum sie gekommen war und bat sie, sich zu äußern. Eine Zeitlang war sie nicht im Stande zu sprechen. Schließlich hub sie mit belegter Stimme zu sprechen an.«

Die Tote im Vena-Kanal zu Chioggia : Kriminalfälle aus Venedig

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