Читать книгу Die Tote im Vena-Kanal zu Chioggia : Kriminalfälle aus Venedig - Meinhard-Wilhelm Schulz - Страница 13
Оглавление8. Teil: Das abendliche Drama bei Volpe
Am folgenden Tag war mein Chef ununterbrochen mit Nachforschungen beschäftigt. Meine Aufgabe bestand nur darin, Lucilla und den Tenente Giulio Marcello, den Lucilla im Unterschied zu Ambrosio noch nicht kannte, zur Cena einzuladen und den Abend vorzubereiten. So hatte ich naturgemäß keine Zeit, mich um die Angelegenheiten zu kümmern, mit denen sich Giuseppe beschäftigte.
Alles hing nun davon ab, ob sich Lucilla stellen würde. Sollte sie nicht zu unserer illustren Runde erscheinen, wäre ein behördlicher Haftbefehl unvermeidlich. Wie ich meinen Volpe kannte, wollte er eben das vermeiden, denn er sah in ihr Täter und Opfer zugleich.
Um die Besprechung, welche auf die Cena folgen sollte, samt allen möglichen Überraschungen zu dokumentieren, brachte ich im dafür vorgesehenen Besucherzimmer versteckte Mikrofone und Kameras an, ein Ding, auf das ich mich bekanntlich bestens verstehe.
Das Menu sollte übrigens aus folgenden Gängen bestehen: eine bunte Minestrone als Vorspeise; dann je eine kleine Portion Pennette in Vierkäsesoße mit Broccoli und Zucchini-Stückchen; danach je eine winzige Scheibe grobfaserigen Rindfleischs samt einem Blatt herben Gemüses und je zwei Scheiben der Pellkartoffel, alles in Olivenöl schwimmend; als Nachtisch je einen winzigen Tiramisù; dazu goldgelben Wein aus Udine samt einem großen Krug Leitungswasser zum Verdünnen.
Der Abend kam und mit ihm unsere beiden Gäste, zuerst der Tenente, lässig in Jeansbermudas und kurzärmeligem weißen Hemd, dann Lucilla. Sie stecke in einem Minikleid aus rosa Seide, das ihr wie mit der Spritzpistole an den Körper geklebt war. Sie hatte sich nach allen Regeln der Kunst geschminkt und aufgetakelt. Das blondierte Haar trug sie zur Krone vereinigt.
Volpe machte sie mit Giulio, den er als ‚alten Freund‘ ausgab, bekannt. Lucilla war misstrauisch und hätte das Haus sofort verlassen, wenn es noch möglich gewesen wäre, ohne sich verdächtig zu machen. Eine Intelligenzbestie wie sie ist nicht zu unterschätzen.
Als diese Prozedur überstanden war, nahmen sie allesamt zur Cena Platz. Ich hatte mein Bestes gegeben, und die Herrschaften ließen es sich schmecken. Das Lob für mich fiel einstimmig aus.
Anschließend wies ich ihnen den Weg zur Toilette und von dort aus hinüber ins gemütliche Besucherzimmer, wo ich vier Korbsessel um einen runden Tisch gerückt und für jeden einen großen Humpen halb Lambrusco, halb San Benedetto auf die Glasplatte gestellt hatte. Nachdem man miteinander angestoßen hatte, sagte Lucilla:
»Signori, das Essen war vorzüglich. Aber jetzt wüsste ich gerne, warum man mich eingeladen hat.«
»Ich habe eine erfreuliche Botschaft für Sie, Signora Bosoni«, sagte Volpe, »der Fall, für den Sie mich gestern engagiert haben, ist bis auf wenige Details geklärt.«
»Das ist ja unglaublich«, rief die Lady bass erstaunt und wurde trotz Schminke ein Wenig weiß um die Nase, »dann teilen Sie mir bitte mit, was Sie herausgefunden haben!«
»Fangen wir mit dem Todestag Ihrer Mutter an! Es war vor achtundzwanzig Jahren, als Sie angeblich von Ihrem Onkel Eugenio im venezianischen Internat angerufen wurden. Er wolle sich mit Ihnen am Bahnhof ‚Santa Lucia‘ treffen und unterwegs über alles informieren, sagten Sie uns gestern.«
»Genauso war es auch gewesen.«
»Nicht wahr, Sie hatten damals einen jungen Klassenlehrer? Hieß er nicht Adriano Celestini?«
»Gut möglich; ich erinnere mich nicht mehr an meine Lehrer.«
»Nun, die Unterlagen der Schule beweisen es. Adriano ist inzwischen Anfang Sechzig und immer noch an Ihrer ehemaligen Schule tätig, wo er sich übrigens ungebrochener Beliebtheit erfreut. Allerdings haben sich die Zeiten geändert, und dort sind jetzt auch Jungs zugelassen.«
»Wenn Sie das so sagen, wird es wohl stimmen«, knurrte Lucilla.
»Ich habe heute früh mit ihm telefoniert.«
»Wozu das? Er hatte damals schon eine schlechte Meinung von mir und meinte, ich verdürbe das Klassenklima.«
»Nun, damit hatte er nicht ganz unrecht, denn Sie spannten einer Klassenkameradin den ‚Boyfriend’ aus, was dazu führte, dass der Rest der Klasse Ihre sofortige Entfernung verlangte, nicht wahr? Und Sie sind dann ja auch tatsächlich nicht mehr zurückgekehrt, angeblich, weil Sie sich um den Vater kümmern mussten.«
»Lassen Sie die alten Geschichten! Tartini, Sie langweilen mich.«
»Ja, es sind böse alte Geschichten, und ein Mosaikstein kommt jetzt zum anderen, denn Ihre Saga mit dem lieben Onkel Eugenio, der Sie abgeholt und über den Tod der Mutter informiert haben soll, ist an allen Haaren herbeigezogen.«
»Wollen Sie behaupten, dass ich gelogen habe?«
»Entweder Sie oder Ihr Klassenlehrer. Kein anderer als er will Sie nämlich, nachdem ihn die Direktorin über den Tod Ihrer Mutter in Kenntnis gesetzt hatte, im Auftrag der Schulleiterin bis nach Mestre begleitet und vor dem Bahnhof in ein Taxi gesetzt haben. Ihre Geschichte mit dem lieben Onkel ist also eine Erfindung.«
»So ein Quatsch! Warum sollte ich es erfunden haben?«
»Um davon abzulenken, wie sehr Sie Eugenio hassten. Im gestrigen Gespräch ist ihnen herausgerutscht, dass Sie ihn sogar ‚hassen wie die Pest‘, wenn ich Ihren Wortlaut wiederholen darf. Das zu verraten, war ein Fehler, ein böser Schnitzer.«
»Ich verstehe nicht, worin er bestehen sollte.«
»Sie wollten davon ablenken, dass Sie ihn kürzlich mit einem Kissen erstickt haben, nicht wahr?«
»Das ist doch Wahnsinn! Warum hätte ich das tun sollen? Nein, jetzt reicht es mir. Das ist ja ein Verhör. Ich gehe.«
Lucilla sprang auf und stand auf schwankendem Boden. Hinter ihr polterte der Korbsessel, Lehne voran, auf den Boden.
»Nehmen Sie bitte wieder Platz, Lucilla«, sagte Volpe leise, während ich die Sitzgelegenheit wieder aufrichtete, »denn wenn wir die Chose hier und heute nicht klären, muss ich mein Wissen leider an die Kriminalpolizei weitergeben. Ihre sofortige Verhaftung wäre die Folge davon.«
Zögerlich setzte sie sich wieder. Sie zitterte am ganzen Körper. Ihre Hände flatterten. Schweißflecken traten auf dem engen Fähnchen zutage. Dies alles hielt ich mit Fug und Recht für die Entzugserscheinung der Alkoholiker. Rasch füllte ich ihr den Becher mit Lambrusco pur und gab einen Schuss Grappa dazu. Gierig leerte sie das Glas bis zum Boden, das sie mit beiden Händen umklammerte. Volpe wartete geduldig, bis ausgetrunken hatte:
»Lucilla, Sie hassten Ihren Onkel schon als junges Mädchen, nicht wahr?«, fuhr er unerbittlich fort, »denn er missbrauchte Sie seit Ihrem zwölften Lebensjahr. Sie haben sich Ihrem Klassenlehrer anvertraut, der daraufhin eine Anzeige erstattete, aber Eugenio bestritt alles. So kam es zu keinem Prozess. Fortan ließ er immerhin die Finger von Ihnen, bis auf Weiteres.«
»Warum graben Sie die alten Dinge wieder aus? Sehen Sie nicht, wie sehr Sie mich damit quälen?«
»Weil sie ein Nachspiel haben.«
»Ein Nachspiel?«
»Ja, sein gewaltsamer Tod.«
»Was habe ich damit zu schaffen?«
»Einiges! Aber kommen wir jetzt erst einmal zur Szene in der Allee vor Ihrem Elternhaus. Sie wollen dort einen Geist gespürt haben.«
»Ich schwöre, dass mein Vater das Gespenst sah. Ich selbst fühlte es zumindest. Es war da, zweifellos.«
»Hier will ich Ihnen ausnahmsweise einmal nicht widersprechen, Lucilla«, sagte Volpe, »aber dass Ihr Vater dann davongelaufen wäre, um sich nie wieder blicken zu lassen, ist ein Märchen.
Den Abschiedsbrief, den Sie mir gestern zu lesen gaben, haben Sie selber verfasst; eine literarische Leistung übrigens. Ich denke, Sie hätten das Zeug zur Schriftstellerin. Es gibt aber nur einen einzigen Grund, warum sie uns dieses Märchen aufgetischt haben.«
Lucilla schwieg, schlug sich die Hände vors Gesicht und knirschte hörbar mit den Zähnen. In ihrer Verzweiflung tat sie mir leid, aber Volpe fuhr unerbittlich fort:
»Seit der Szene in der Allee wussten Sie, dass es Ihr Vater war, der Ihre Mutter und die Zofe ermordet hatte. Zuvor war es nur eine vage Vermutung gewesen.
Nach diesem Vorfall geleiteten Sie den Mann, von dem die gesamte Nachbarschaft sah, dass er nach dem Tod seiner Frau zum Alkoholiker geworden war, ins Haus, brachten ihn um und verscharrten ihn so bald wie möglich im Park des Hauses. Auf welche Weise Sie ihn mordeten, steht noch nicht fest. Sie ließen sich dann auffällig viel Zeit, bis Sie schließlich die Vermisstenanzeige aufgaben und den Carabinieri, ebenso wie später auch mir, Ihre wirklich hübsch zusammengekleisterte Version vortrugen.«
»Das ist doch alles erlogen und erstunken«, stöhnte Lucilla.
»Oder auch nicht! Auf meinen Tipp hin haben die Carabinieri eine erste Untersuchung in Ihrem ehemaligen Park durchgeführt und ein illegales Grab entdeckt. Die Exhumierung findet morgen statt.«
»Sie können mir nichts beweisen«, sagte Lucilla trotzig.
»Nun, immerhin widersprichst du mir nicht mehr, meine Liebe, was das vorläufige Grab deines Vaters anbetrifft«, sagte Volpe und war unversehens ins familiäre ‚Du‘ übergegangen.
»Und was hat das Ganze mit Onkel Eugenio zu tun?«
»Es steht in ursächlichem Zusammenhang mit deinem ersten Mord. Dein Onkel hatte herausgefunden, dass du seinen Bruder umgebracht und im Park verscharrt hattest. Statt nun zur Staatsanwaltschaft zu laufen, um dich anzuzeigen, nutzte er sein Wissen dazu aus, dich armes Mädchen zu erpressen und erneut seinem Willen zu unterwerfen; prosaisch ausgedrückt:
Er machte dich zur Sexsklavin, was du ja als Jugendliche schon einmal gewesen warst, bis du rot sahst und den Onkel umbrachtest. Beide Morde, wenn auch richtige Morde, finden übrigens mein Verständnis. Wenn ich es einmal so ausdrücken darf:
Nicht der Täter sondern der Ermordete trägt hier die Schuld. Nicht wahr, deine Eltern waren bestens im Bilde, als der Onkel dich missbrauchte und unternahmen nichts dagegen?!«
»Mama hatte viele Liebhaber und meinte, ich solle mich nicht so zieren«, sagte Lucilla mit ersterbender Stimme, »und es ist so, wie du es sagst, Giuseppe«, sie duzte jetzt meinen Chef, allen Ernstes und sagte, inzwischen ganz gefasst, ja, leise lächelnd:
»Giuseppe, ich bin dir unendlich dankbar, dass du Verständnis für mein Handeln hast. Die drei Menschen, die mein Leben zerstörten, sind tot. Zwei davon habe ich umgebracht. Ich bereue nichts.«
»Im Namen des Gesetzes«, sagte Marcello jetzt, »Signora Bosoni, muss ich Sie leider verhaften. Hier ist meine Dienstmarke. Ich bin Tenente Giulio Marcello von der Kriminalpolizei. Es wäre nett, wenn Sie mir unauffällig zum Boot folgten. In diesem Fall könnte ich auf das Anlegen der Handschellen verzichten. Sie sollten wissen, dass es mir sehr schwer fällt, sie festzunehmen.«
Giulio tat zweifellos seine Pflicht, aber es war dennoch unklug, so mit der Tür ins Haus zu fallen, denn Lucilla sagte:
»Darf ich zuvor noch eine Zigarette rauchen, zur Beruhigung?«
»Sie dürfen«, sagte Giulio mit der typischen Beamtenstimme.
Lucilla öffnete die Handtasche und fischte etwas Blinkendes heraus. Zuerst dachte ich, es wäre wieder ihr edles Zigarettenetui, das ich schon kannte, aber diesmal war es eine kleine feine Pistole, die sie da hob, um den Tenente und Volpe zu erschießen. Gewiss wäre es mir danach an den Kragen gegangen, denn ich stand mit einem frisch gefüllten Humpen hinter ihr.
Eben krümmte sie den rechten Zeigefinger, um Giulio das Lebenslicht auszupusten, als ich ihr den gläsernen Henkelmann mit aller Kraft auf die Waffe haute. Das Glas splitterte. Der Rotwein ergoss sich über die Donna und floss auf den Boden. Mir blieb der Henkel in der Hand. Die Glastrümmer klirrten zu Boden.
Mit einem Aufschrei ließ Lucilla die Waffen fallen. Das Blut trat aus ihrer Hand hervor und vermischte sich mit dem Wein. Volpe schnellte empor und überwältigte die lästerlich fluchende Wildkatze. Giulio drehte ihr die Arme auf den Rücken, ließ die Handschellen zuschnappen, verstaute ihre Pistole in einem Umschlag, den er in der Aktentasche verschwinden ließ und dröhnte dann:
»Danke, Giovanni, prima Giovanni!«
»Gerne geschehen, Sir! Man tut, was man kann. Nur schade um den schönen Wein!«, sagte ich mit gedämpfter Stimme, schritt eilig hinaus, schleppte den Verbandskasten herbei und sagte:
»Signora Lucilla! Entschuldigen Sie bitte vielmals mein grobes Handeln! Soll nie wieder vorkommen. Dürfte ich Ihnen als gelernter Sanitäter die malträtierte Hand verarzten?«