Читать книгу Die Tote im Vena-Kanal zu Chioggia : Kriminalfälle aus Venedig - Meinhard-Wilhelm Schulz - Страница 11

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6. Teil: Der Text des anonymen Briefes


Heute bin ich noch am Leben. Doch morgen wird hier in diesem möblierten Zimmer, in welchem ich vegetiere, starr und steif meine Leiche am Balken hängen. Das ist alles, was ich hinterlasse. Der Rest ist Schweigen.

Falls dann jemand, der meinen Tod untersuchen muss, nachdem man mich herunter geschnitten hat, das Laken von meinem ekelhaften Körper zieht, wird er sagen, es sei gut gewesen, dass ein Scheusal wie ich aus dieser Welt gegangen ist.

»Wer war der Tote?«, wird man fragen.

»Antonio Lucarelli«, dürfte die Zimmerwirtin sagen, denn sie kennt meinen richtigen Namen nicht, da ich mir vor sechzehn Jahren einen neuen, den obigen, zulegte, um mit ihm sechzehn endlos lange Jahre der Sinnlosigkeit zu überleben.

Doch wozu dient einer Leiche der alte oder der neue Name? Ich gehöre jetzt zu den Namenlosen. Ich bin einer von denen, die im Reich der Schatten angekommen sind, der riesigen Mehrheit aller Menschen. Zugegeben, ich hatte kein Recht auf den obigen Namen, aber er diente mir sechzehn Jahre lang.

Der alte Name hatte ausgedient. Ihn gibt es nicht mehr. Darum der neue, denn jeder Mensch muss einen Namen haben. Ohne Namen existiert kein Mensch. Menschen, die sich nur durch Ziffern unterscheiden, findet und fand man nur in Vernichtungslagern wie Auschwitz oder den Haftanstalten der Diktaturen dieser Welt. Die Eltern geben uns den Namen schon vor der Geburt. Er ist unser Zwangseigentum und endet mit dem Tod.

Zwei Monate vor meinem Ende begegnete ich zufällig einer Polizeistreife. Einer der beiden Carabinieri musterte mich neugierig und sagte dann zum anderen:

»Der lumpige Drecksack da drüben sieht aus wie Nummer 398. Los! Greifen wir ihn uns!«

Ich zuckte zusammen und erbleichte auf den Tod, so sehr traf mich die Botschaft. Dann rannte ich wie entfesselt in eine Seitengasse und tauchte in der Menge unter. Die Carabinieri versuchten, mir zu folgen, gaben es aber nach kurzer Zeit auf. Ich aber stürmte davon, als wäre Satan persönlich hinter mir her und sank erschöpft auf die marmornen Stufen einer alten Kirche.

Die Zahl 398 war mir fortan wie eingebrannt, denn sie war verbunden mit der Vorstellung eines großen grauen Gebäudes mit vergitterten Fenstern, einem Ort, der der Hölle ähnelt, einem Ort, wo schwere Schritte über düstere Gänge stampfen, um eiserne Türen zuzuschmettern, hinter denen der Eingekerkerte ein freudloses Gelächter ausstößt.

So kam ich zur Erkenntnis, dass auch ein angenommener Name besser als eine Zahl ist, obwohl ich als Leiche zur reinen Nummer geschrumpft bin, sobald man mich auf dem anonymen Gräberfeld verscharrt hat.

Ja! Es ist wahr, ich habe mir selbst das Leben genommen. Mit einem Strick um den Hals habe ich mich umgebracht, mich still und leise davongemacht. Ich hatte das Recht dazu.

Den Empfänger dieser Botschaft bitte ich um gnädige Nachsicht. Der Versuch, mein Leben in wenigen Zeilen zu schildern, ist mir gewiss zur Gänze misslungen. Was bleibt, sind ein paar Farbtupfer, zusammenhanglos niedergeschrieben.

Die Ereignisse liegen um Lichtjahre zurück. Wie könnte ich sie da mit der erforderlichen Objektivität aufzeichnen? Es sind nur grelle Lichtzeichen, die da glühen und gleißen in der schwarzen Einöde meines vergeudeten Lebens.

Jetzt stehe ich am Ufer des düsteren Flusses Acheron und warte auf den schmutzigen Fährmann Charon, der mich ins finstere Land des Vergessens bringen wird.

Zu meinem Rücken liegen die blutigen Fußstapfen, welche ich in ungefähr dreißig Jahren hinterlassen habe. Aus dem Leben in einem fürstlichen Palazzo heraus führen sie bei zunehmender Unsicherheit in ein Dasein voll von qualvoller Armut, von Not und Elend, in der ich einsamer als jeder Steppenwolf dahinvegetierte.

Doch jetzt, mein lieber Leser, will ich zu den Ursprüngen meines Unglücks zurückkehren, in eine Zeit, bevor ich meinen Gang ins Nichts beschreiten musste, der mich begleitete, bis ich ins Greisenalter eintrat, in dem ich mich jetzt befinde, um auch dies für immer zu verlassen und durch die dunkle Pforte zu gehen, hinter der verborgen die andere Welt auf mich lauert, mit der grimmen Wut des schwarzen Panthers, der düster entschlossen in seinem Versteck kauert, um die kleine Antilope zu reißen.

Von meiner Kindheit weiß ich nichts mehr. Die Erinnerung daran liegt unter dem Leichentuch des Vergessens. Aber auch mein späteres Leben ist so weit von mir entfernt wie ein schwaches Wetterleuchten. Ich denke da an ein großes Haus, in dem neben mir zwei schöne Frauen lebten. Es muss eine glückliche Zeit gewesen sein, doch seit meiner überstürzten Flucht ist nichts davon geblieben.

Mitten in der Nacht rannte ich auf und davon, bis ich bei Morgengrauen halbverhungert und durstig an einem einsamem Bauernhof anklopfte und um Speise und Trank bat. Der Inhaber des Hauses fragte mich nach meinem Namen. Ich wusste ihn nicht mehr, obwohl doch alle Menschen Namen haben und floh in die Einsamkeit, wo ich mich von wilden Früchten ernährte.

Nachdem ich im Freien übernachtet hatte, kam ich in eine Stadt, die ich nicht kannte. Natürlich erfuhr ich, wie sie heißt, möchte ihren Namen aber nicht nennen. Es wäre ja auch müßig, es zu tun, denn von nun an zog ich als obdachloser Bettler durch die Lande und nahm ein unstetes Wanderleben auf.

Im alten Griechenland hätte man gesagt, dass ich von den Furien, den Geistern der Rache, getrieben ward, die mich ob eines furchtbaren Verbrechens verfolgten und durch die weite Welt hetzten.

Vor meinem Verbrechen lebte ich in der Nähe einer Stadt, die als schönste der ganzen Welt gilt und war ein gesuchter und reicher Rechtsanwalt. Meinen Palazzo bewohnte neben mir und einer Zofe meine bildschöne Frau, der ich in Liebe und Misstrauen zugetan war. Wir hatten eine gemeinsame Tochter, an die ich mich aber so gut wie gar nicht mehr erinnern kann. Je mehr ich nachdenke, desto verschwommener erscheint ihre Gestalt.

Eines Tages gab mir Satan einen üben Gedanken ein. Er flüsterte mir ins Ohr, ich solle die Treue meiner Frau auf die Probe stellen, denn sie sei zu schön, um nur einen Mann zu haben.

Das leuchtete mir ein, und ich täuschte eine Geschäftsreise vor, die es verlangte, dass ich die kommende Nacht auswärts würde verbringen müssen. Da dies nichts Ungewöhnliches war, schöpfte sie keinen Verdacht und wünschte mir ‚gute Reise‘.

Ich kehrte jedoch mitten in der Nacht zurück, sah, dass noch Licht im Palazzo brannte und begab mich zur Rückseite des Hauses, um die dortige Tür aufzuschließen, zu der ich mir den Ersatzschlüssel mitgenommen hatte. Vorsorglich trug ich feine Lederhandschuhe.

Als erstes begab ich mich im seitlichen Raum an den Kasten mit den Sicherungen und legte rasch sämtliche kleinen Hebel um. Im Haus herrschte jetzt undurchdringliche Finsternis.

Schon wollte ich mich in den Kellerkorridor und von dort aus zur Treppe nach oben begeben, als ich unsicheres Tappen vernahm. Zu Stein erstarrt hörte ich sie näher kommen und zückte das Messer, das ich dabei hatte, um gegebenen Falles zuzustoßen.

Aber der unheimliche Besucher war schneller als ich und huschte hinaus ins Freie. Im fahlen Licht des Neumondes erblickte ich die Umrisse eines Mannes und nahm verbissen die Verfolgung auf, aber er war schneller als ich und entkam in die Finsternis, die ihn sozusagen verschluckte.

In mir kochte nun eine satanische Mischung von Hass und Eifersucht. Auf Zehenspitzen schlich ich die Kellertreppe empor und traf im Korridor des Erdgeschosses auf eine weibliche Gestalt.

»Sind Sie es, Signore?«, fragte mich unverkennbar die Zofe, und ich stieß ihr den Stahl ins Herz. Mit leisem Stöhnen sank die fiese Kupplerin zu Boden und war tot. Zweifellos hatte sie die Aufpasserin gespielt und nun für ihr schändliches Tun gebüßt.

Jetzt trampelte ich die hölzerne Stiege ins Obergeschoss hinauf und wollte hinein ins Gemach meiner Frau, doch das Zimmer war von innen verschlossen. Mit der Wut des Berserkers warf ich mich gegen die Tür, bis das Schloss aus dem Rahmen splitterte und sie sich ganz von selber auftat. Ich stürzte hinein.

Als erstes tastete ich mit Händen nach ihr im zerwühlten Bett, aber sie war nicht darin zu finden. Da machte ich auf dem Absatz kehrt, durchsuchte den Rest des Raumes und entdeckte sie.

Nackt und bloß kauerte sie in einem Winkel, und ihr Atem ging verräterisch stoßweise. Vor Furcht vermochte sie nicht einmal zu schreien. Mit der Linken packte ich sie beim Schopf, den ich einst so geliebt hatte, um ihr mit dem Messer in der Rechten die Kehle abzuschneiden. Sie leistete keine Gegenwehr, als ich sie tötete und sank seufzend und sanft in sich zusammen.

An dieser Stelle endet mein Alptraum. Was sich in ihm ereignete, gehört einer unendlich fernen Vergangenheit an. Ich überlege, ob es nur ein Traum ist oder mehr als das.

Dann liege ich wach im Obdachlosenasyl, und der Regen schlägt oder knistert gegen die schmutzigen Fensterscheiben. Leise dringt das Summen des Straßenverkehrs in meine Ohren und ich weiß, dass ich verloren bin. Alles ist dunkel und trostlos um mich herum. Die Zeit, in welcher mir noch die Sonne schien und die Vögel sangen, ist für immer vorbei. Ich bin ein namenloser Vagabund. Im Grunde bin ich bereits tot.

Manchmal aber, wenn ich in der stinkenden Enge des Asyls zwischen schnarchenden Leidesgenossen wach liege, kommt mir noch eine andere Erinnerung in den Sinn. Sie ist für mich nicht minder grausig als die oben geschilderte Bluttat.

Ich gehe eine Allee aufwärts, die mich zu einem düsteren Haus empor führt. Jemand ist an meiner Seite, weiß Gott, wer, denn ich bin mir seiner Anwesenheit kaum bewusst. Ich weiß nicht, wer es ist und wie er heißt. Es ist nur ein namenloser Niemand.

Jetzt stehen wir im Schatten eines riesigen Baumes. Warum ich auf der Stelle verharre, weiß ich nicht. Ich blicke zum Haus hinauf. Das Portal öffnet sich. Eine Gestalt, in weiße Gewänder gehüllt, tritt heraus und schreitet geräuschlos den Kiesweg hinunter, auf mich zu, also, ohne dass der Kies, wie zu erwarten, knirscht.

Jetzt steht die Frau unmittelbar vor mir und blickt mich an. Ihre Kehle ist abgetrennt. Ein roter Spalt klafft. In Ihrem wunderschönen Gesicht glüht kein Hass, flackert kein Vorwurf, aber ihre Augen sind in grauenhaftem Vorwurf auf mich gerichtet. Sie schweigt.

Ich gehe Schritt für Schritt rückwärts. Sie schwebt mir hinterher. Vor Grauen will ich schreien, aber mein Hals ist ausgetrocknet wie die afrikanische Wüste. Dann drehe ich mich um und renne davon, als ginge es ums Leben.

Mehr weiß ich nicht zu sagen. Alles ist in Dunkelheit gehüllt. Alles ist in finstere Ferne gerückt. Ich bin jetzt wieder ganz ruhig, wieder Herr meiner selber und werde das tun, was zu tun mir als Einziges noch übrig bleibt.

Die endlosen Jahre dieser Hölle auf Erden sind nun vorüber. Ich habe das Urteil über mich gefällt. Als Ankläger, Richter und Henker in einer Person habe ich mich selber zum Tod durch den Strang verurteilt. Möge ich in der anderen Welt den Frieden finden, der mir hienieden nicht vergönnt war!

Die Tote im Vena-Kanal zu Chioggia : Kriminalfälle aus Venedig

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