Читать книгу Die Tote im Vena-Kanal zu Chioggia : Kriminalfälle aus Venedig - Meinhard-Wilhelm Schulz - Страница 15
Оглавление10. Teil: Lucilla in voller Fahrt
Nachdem mir Giovanni die Waffe aus der Hand geschlagen hatte, leiste ich noch eine Zeitlang Widerstand. Schließlich lag ich auf dem Boden, die drei Männer über mir, und musste ich mich geschlagen geben. Die Hände auf dem Rücken gefesselt, hievte man mich wieder in den Korbsessel, wo ich zähneknirschend und wutschnaubend verharrte. Was dann geschah, besiegelte meine Niederlage.
Giovanni brachte nämlich ein Notebook samt Beamer in den Raum und projizierte eine Aufnahme der gesamten Szene, die sich gerade abgespielt hatte, an die weiß gekalkte Wand. Sie endete mit meinem Versuch, drei Männer zu töten.
Der Tenente meinte freundlich, es sei jetzt für mich an der Zeit, ein umfassendes Geständnis abzulegen. Ich tat es; was auch sonst? Volpe, Giovanni, er und ich unterzeichneten das Protokoll, das Giovanni auf dem Notebook getippt und anschließend dreifach ausgedruckt hatte. Schon wollte der Tenente zwei Carabinieri ordern, um mich ordnungsgemäß abzuführen, als Volpe sagte:
»Giulio, wie hättest du an ihrer Stelle gehandelt?«
»Blöde Frage!«, erwiderte Marcello, »wenn ich ihren beneidenswerten Mumm gehabt hätte, genauso wie sie.«
»Tut sie dir nicht ein Bisschen leid?«
»Das schon; sogar verdammt; aber das Biest hat zwei Menschen umgebracht und hätte uns alle drei ums Haar erschossen. Ich bin Carabiniere. Ich habe meinen Amtseid. Was soll ich da machen?«
»Mensch bleiben! «
»Leichter gesagt als getan. Wir können sie doch nicht einfach laufen lassen. Sie wollte einen Carabiniere im Dienst umbringen. Das wird ihr im Prozess das Genick brechen.«
»Wie wäre es, Giulio, wenn wir diesen Vorfall einfach nicht meldeten? Schließlich ist uns ja nichts widerfahren. Giovanni könnte diesen Teil der Szene problemlos löschen.«
Der Tenente rang schweigend mit sich. Es war in seiner noch jungen Karriere die bislang schwerste Entscheidung. Immer wieder blickte er auf mich schluchzendes Häufchen Elend im in Fetzen gegangenen rosa Seidenhemdchen, die Hände auf dem Rücken. Dann straffte er sich und sagte:
»Es ist das erste Vergehen meiner Dienstzeit. Ich riskiere, dass man mir die bereits vorgesehene Beförderung streicht und ein übles Disziplinarverfahren an den Hals hängt. Dennoch will ich es wagen. Du hast es da besser, Volpe. Du bist an keinen Eid gebunden.
Aber das Mädchen tut mir unendlich leid. Ja, es gibt in meinem Metier immer wieder einmal Menschen, die von der Hölle, in der sie leben mussten, zu Verbrechern gemacht wurden. Dieser Gruppe gehörte schon immer mein Mitgefühl. Solche Leute lassen sich durch entsprechende Maßnahmen wieder ins bürgerliche Leben zurückführen. Daher will ich mit Dir und Giovanni einen Pakt des Schweigens schließen, damit unsere Wildkatze eine kleine Chance hat, irgendwann wieder einmal auf freien Fuß zu gelangen.«
Nach solchen Worten wollte er seine Leute kommen lassen, um mich abholen zu lassen, aber auch hier widersprach ihm Volpe und sagte mit belegter Stimme:
»Lass sie doch bei mir im Gästezimmer logieren und von hier aus den unvermeidlichen Prozess führen. Ich garantiere für sie. Es besteht keine Fluchtgefahr.«
»Gut, auch das will ich riskieren«, sagte der Tenente und befreite mich von den Handschellen. Ich dehnte und streckte mich genüsslich und war für diesen Augenblick vom unerwarteten Glück wie überwältigt. Giovanni, dieser prächtige Mensch, legte mir den Arm über die Schulter und sagte:
»Signora, Ihr Zustand lässt zu wünschen übrig; darf ich bitten?«
Gehorsam erhob ich mich. Er nahm mich an der Hand und geleitete mich ins Bad, wo er mir aus dem mit Rotwein getränkten zerrissenen Hemd half, mich unter die Dusche bugsierte und mir dann beim Rückenwaschen behilflich war. Wäre ich doch nur einmal im Leben von meiner Mutter so feinfühlig behandelt worden wie von ihm!
In ein bunt geblümtes bodenlanges Flatterding gehüllt, das der liebe Mann mit dem Herz am rechten Fleck aus der Kleiderkammer hervorgezaubert hatte, gelangte ich zu Volpe und dem Tenente zurück, wo wir das stille Glück mit ein paar saftigen Schnittchen und einem guten Tropfen begingen. Ich hatte drei wunderbare Menschen zu Freunden gewonnen.
Was der Prozess brachte, Signori, ist allgemein bekannt. Alberto Scimmia, Venedigs erster Journalist, berichtete in allen möglichen Medien darüber, sogar im Corriere della Sera. Dabei rühmte er Marcello und Volpe, der sich die ausgesetzte Belohnung von 10.000 Euro redlich verdient habe, über den grünen Klee. Marcello wurde postwendend zum Capitano befördert. Wie ich es ihm gönnte!
Volpe hatte mir übrigens einen ausgezeichneten Strafverteidiger engagiert, der die Geschworenen eindrucksvoll über all das, was ich früher erlitten hatte, in Kenntnis setzte. Ich war voll geständig und arbeitete vorbildlich mit dem Gericht zusammen. Das wirkte sich zu meinen Gunsten aus:
Statt, wie vielleicht verdient, zu lebenslanger Haft, verurteilte man mich nur zu vergleichsweise milden zehn Jahren. Aber auch zehn Jahre sind eine unendlich lange Zeit. Hätten Giulio, Giovanni und Volpe mich nicht regelmäßig besucht, wäre mir der Aufenthalt dort zur neuen Hölle geworden. So konnte und durfte ich noch hoffen.
Entscheidend aber für mein gesamtes neues Leben waren die wenigen wunderbaren Wochen des Prozesses, die ich hier im Palazzo am ‚Calle di Cavallo‘ verbringen durfte.
Dort lernte ich nämlich einen Mann von wahrhaft göttlicher Einfühlsamkeit kennen, den ersten in meinem ganzen Leben, der nicht nahm sondern gab; der mir ohne Hintergedanken eine Fülle an Liebe schenkte, so unendlich viel Liebe, dass ich es lernte, mich jetzt auch selbst zu lieben. In seinen Armen geborgen, fühlte ich mich um die zwanzig Jahre jünger.
Cari Amici! Ich bin kein besonders religiöser Mensch, aber es beeindruckte mich zutiefst, als er mir eine Stelle aus dem ‚Neuen Testament‘ zu lesen gab. Dort steht, die wichtigsten Dinge im Leben seien ‚Glaube, Hoffnung und Liebe‘.
Die Liebe aber sei das Größte; ohne sie alles andere nichts. Daher solle ich den Glauben an das Gute zurückerobern, mit der Hoffnung auf ein gutes Ende der vorübergehenden Haft entgegen sehen, denn auf seiner Liebe könne ich felsenfest das Haus meiner Zukunft bauen, wie auf einem Massiv aus Granit.
Ja, jetzt konnte sogar ich ihn trösten und über den Verlust seines Mädchens, dem er immer noch nachtrauert, ein Wenig hinweghelfen. Es war für mich wie ein Erwachen aus dem Todesschlaf, als ich ihm das geben durfte, statt immer nur die Nehmende zu sein. Wir beteten gemeinsam in seinem kleinen Tempel vor der Venusstatue seiner so früh ums Leben gekommenen Jugendliebe Renata, und wir beteten um das Gute und sonst nichts, denn die Götter allein, so Giuseppe, wüssten, was gut für uns sei.
Ja, meine lieben Freunde! Der berühmte Detektiv Volpe ist nicht nur ein exzellenter Geiger und Maler, nein, er hätte auch das Zeug dazu, ein ganz besonders guter Pastor zu werden.
Nach acht schweren Jahren und seinem achtem Antrag auf Begnadigung wurde ich zur Bewährung auf freien Fuß gesetzt. Er hatte mir eine Einzimmerwohnung in Mestre besorgt. Aber ach! Was war ich in diesen Jahren gealtert! Als noch einigermaßen hübsche Frau hatte ich die Haft angetreten, als graue alte Schachtel verließ ich sie, das Gesicht voller Runzeln.
Volpe steckte mich umgehend in eine Schönheitsfarm im prächtigen Bergland das Alpago. Sie gehört seinem angeheirateten Onkel, dem ‚Conte d’Alpago‘, einem feinfühligen Adelsmann, der von meinem Schicksal dergestalt betroffen war, dass er keinen einzigen Cent für die Behandlung verlangte, auch wenn Volpe aus eigenen Mitteln dafür aufkommen wollte.
Graf Alfredo hat übrigens eine wunderbare Ehefrau, eine trotz ihres Alters ungemein hübsche Donna, die mir beim wöchentlichen Kaffeeklatsch hoch oben im ‚Castello d’Alpago‘ von einem süßen jungen Mann vorschwärmte, der überall durch seinen feuerroten Zopf auffalle. Ja, ums Haar hätte sie ihn sogar geheiratet, sagte sie schmunzelnd, damals, als er noch ‚Giuseppe‘ und nicht ‚Volpe‘ hieß und den aufsehenerregenden Kriminalfall vom ‚Diadem des Basiléus‘ löste, mit dem er seine steile Karriere als erster Detektiv des Veneto begonnen habe. Aber sie hätte ja seine Mama sein können, so sie, und darum habe sie lieber den Conte genommen. Sofia und ich sind bis heute Freundinnen geblieben.
Über ihrem Bett hing übrigens ein Ölgemälde, das die Gräfin in Gestalt einer liegenden Venus zeigte, gemalt von keinem Geringeren als Giuseppe Tartini, leuchtende Erinnerung an die traumhaft schönen Tage, die sie mit ihm auf der Berghütte des Grafen, hoch oben im Alpago, verbringen durfte.
So kehrte ich denn nach einem halben Jahr mit wunderbar wiederhergestelltem Körper, vor allem aber mit neuem Gesicht und voller jugendlicher Lebensfreude nach Venedig zurück, um einen kleinen Job im ‚Museo di Storia Naturale‘ am Südufer des Canal Grande anzutreten. Giulio Marcello, dieser prächtige Mensch, hatte ihn mir kraft seiner Beziehungen persönlich vermittelt.
Jetzt erlaube ich es mir sogar, wie in alten Zeiten im Tangabikini am Strand der Insel Lido zu flanieren, voller neu gewonnener Lebensfreude und habe dort einen netten Signore kennen gelernt. So Gott will, laufen wir demnächst in den Hafen der Ehe ein. Ihr alle seid schon jetzt zur Feier eingeladen. Hier an meinem linken Ringfinger, Signori, seht ihr den Verlobungsring.