Читать книгу Completely - Gesamtausgabe - Mej Dark - Страница 10

Die seltsame Wahrsagerin

Оглавление

Der Streit mit Grace und die geradezu bizarren Erlebnissen der letzten Tage blockierten meine Kreativität. Die verschiedensten Gedanken schossen gleich Kolibris kunterbunt und blitzschnell durch meinen Kopf. Ich kam einfach nicht weiter und trat bildlich auf der gleichen Stelle im Sumpf der Mathematik herum. Meinen unruhigen Geist zog es leider zu profanen Alltagsproblemen und zur Philosophiererei. Warum nur konnte ich ihn nicht auf mein wichtigstes Thema fokussieren?

Natürlich tat mir Grace und das, was ich ihr in irgendwie dümmlicher Aufrichtigkeit gestanden hatte, leid. Sie verdiente sicher einen Besseren als mich. Was nutzte all die hehre Wahrheit, wenn man damit nur Menschen verletzte? Zu diesem Problem kam noch hinzu, dass mich der Liebhaber meiner Mutter nervte. Was wollte der Kerl nur hier und warum bot meine Mutter ihm nicht Einhalt? Er gehörte nicht in unser Haus. Wie wurde ich ihn nur wieder los?

Die Welt schien sich im Augenblick irgendwie gegen mich zu verschwören. Wen schickte man denn zu einer Kur in die Black Hills? Das war eine absolut unsinnige Idee. Trug ich vielleicht selbst irgendeine Schuld an diesem merkwürdigen Karma?

Diese allgemeine Unruhe, das plötzlich aufkommende Gefühl der Zerbrechlichkeit des beständig Geglaubten war natürlich kein förderliches Umfeld für meine Suche nach der Allervollkommensten. Mein verliebtes Herz zog sofort wehmütig bei dieser Erinnerung.

Ein aufdringliches Räuspern drang durch das Geflecht meiner geistigen Abwesenheit vom Hier und Jetzt. Unser guter alter Hausdiener stand offenbar schon wieder eine geraume Weile im Raum herum und hatte anscheinend geduldig darauf gewartet, dass ich ihn wie üblich ansprach. Es kam zuweilen vor, dass er zwar klopfte und ich dies überhörte. Schwierige Dinge verlangten nun einmal einen fokussierten Geist.

„Ein Mädchen hat eine Depesche abgegeben!“ Er streckte mir ein silbernes Tablett entgegen, auf dem ein parfümierter Brief lag. Der Geruch und die mir bekannte Handschrift verrieten natürlich die Absenderin.

„Nenn sie nicht Mädchen, das klingt einfach so fremd“, ermahnte ich ihn honorig, als hätte er sie durch sein Benehmen vertrieben.

Warum ging ich nur mit denen, die mir am meisten bedeuteten, so ungeschickt um? Ich nahm mir halbherzig vor, meinen Charakter mehr zu beobachten.

„Es war nicht das Fräulein selbst, sondern nur ein Dienstmädchen!“, präzisierte er.

„Ach so. Danke, mein guter alter Freund!“, versuchte ich meine naseweise Belehrung wieder gut zu machen. Den gutmütigen Kauz verblüffte diese überaus herzliche Anrede. So hatte ich ihn bisher noch nie genannt. Er kratzte mit dem Zeigefinger nachdenklich in seinen langen Koteletten.

„Schau nicht so erstaunt“, fuhr ich großherzig fort. „Ja, du bist für mich nicht nur irgendein bezahlter Diener, nein, sondern im Herzen ein wahrer Freund.“

Sein üblicherweise graues Gesicht bekam erhebliche Farbe an den Wangen. Seine aufgequollene Nase, die Zeugnis von einer gewissen Trinkerkarriere ablegte, errötete geradezu. In Amerika tranken eigentlich alle. Das hochprozentige Nationalgetränk hieß Whisky. Man trank üblicherweise zum Geburtstag, zur Hochzeit, zum Begräbnis, zum Unglück, aus Anlass von Glück, wegen des schlechten Wetters, der Arbeit, wegen der Untreue der Ehefrau, des Ehemannes, wegen des Sonnenscheins und des Regens, einfach immer. Man sah schon neunjährige Buben betrunken auf einer Bank liegen und keiner scherte sich darum. Wie sollte man auch sonst das schwierige Leben in diesem finsteren Land ertragen?

„Geht es dir wirklich gut?“, stammelte mein Freund und wusste nicht so recht, wie er mit dieser plötzlichen Bekundung durch mich umgehen sollte.

„Ich habe mir vorgenommen ehrlicher und wahrhaftiger zu sein!“, setzte ich ihn jovial ins Bild. „Diese Trennung zwischen uns ist doch nur eine Trennung durch die Geburt. Niemand kann etwas für sein Elternhaus, seine niedere Geburt und dass er dazu verdammt ist, für Geld andere zu bedienen. “

Sein lebendiger Gesichtsausdruck wechselte in die übliche Fahlheit und Abgestumpftheit, mit der er seine Arbeit verrichtete.

„Meine Mutter war nicht von niederer Geburt. Sie war eine ehrenvolle Frau“, murmelte er gekränkt. „Vielleicht hat Gott sich etwas dabei gedacht, wie er die Welt geschaffen hat“, wandte er geradezu philisterhaft ein. Diese Aussage war typisch für die unsinnige abergläubische Philosophie der kleinen Leute. Daher blieb alles beim Alten.

„Hoffentlich gibt es den auch wirklich“, spottete ich geradezu blasphemisch. „Die ersten Flugmaschinen erobern gerade den Himmel. Da müssen sie ihn doch bald entdecken! Ich geb dir Nachricht, wenn ich davon etwas lese!“

„Sehr lustig, darüber spottet man nicht!“ Er schien wirklich verärgert. Woran sollte sich der arme alte Tor sonst klammern? Autsch, meine Äußerungen waren erneut recht überheblich. Ich war offenbar in der Tat ein Besserwisser und musste lernen, dies besser zu verbergen. So viel war mir klar.

„Ja, du hast wohl recht“, versuchte ich mich aus der Schlinge der Unhöflichkeit zu ziehen und lenkte vom Thema ab. „Ich habe doch ein wenig Furcht, den Brief zu öffnen. Mein Benehmen kam auch bei Grace nicht so gut an. Scheinbar fehlt mir das gewisse Talent zur Diplomatie.“

Nun reichte es meinem alten Freund und treuen Dienstboten endgültig. Er brabbelte etwas Unverständliches in seine langen Koteletten. Das war bei ihm ein Zeichen höchster Verärgerung.

„Oh!“, entglitt es mir erstaunt. Ich achtete nicht weiter auf meinen Gesprächspartner. Der verließ offenbar mein Arbeitszimmer.

Grace hatte mir tatsächlich eine Einladung gesandt. Sie schlug ganz unverbindlich einen gemeinsamen Spaziergang im Stadtzentrum vor und benannte auch einen Treffpunkt, an dem sie auf mich ein wenig warten wollte. Falls ich kein Interesse hätte, würde sie eben allein bummeln gehen. Das war ein klares Freundschaftssignal. Sie war nun einmal temperamentvoll und bereute anscheinend ihre Überreaktion. Das war gut. Mir war ein solches Zusammensein nur recht. Ich konnte ihr so vermitteln, dass ich sie auf keinen Fall hatte kränken wollen. Dieses Treffen konnte vielleicht unsere Freundschaft retten. Das hübsche Mädchen würde schon verstehen, dass mein Herz reserviert und Wahrheit letztlich doch die beste Medizin gegen Liebeskummer war. Warum war ich nicht selbst auf eine solche Idee gekommen?

Frohen Mutes und guter Laune wandte ich mich nun wieder meinen Berechnungen zu. Ein frischer Wind durchzog die staubigen Gestade meines Geistes und ich kam zumindest gefühlt einer Lösung näher. In Zukunft gab es vielleicht aufgrund meiner Arithmetik eine Maschine, in die alle Menschen einfach eingaben, wie man so ausschaute, was man so dachte, welche Philosophie man mochte und was man sich so wünschte. Flugs bekam jeder seine zukünftige Liebste als Ergebnis ausgespuckt. Ein Gefühl der Erhabenheit durchzog mich.

Am nächsten Tag brachte ich mich mit gutem Essen, ein paar Schlägen auf den Boxsack und einem duftenden warmen Bade in Form für den Ausflug mit der hübschen Grace. Dem scharfen Rasiermesser fiel mein bereits wuchernder jugendlicher Bart und der Schere meines Dieners das ungepflegte Haar zum Opfer. Das Spiegelbild machte mich zufrieden.

Rechtzeitig genug bestieg ich die bestellte Droschke. Inzwischen gab es zwar erste Automobile, aber das gute alte Fuhrwerk dominierte noch. Ich wollte keineswegs durch eine Verspätung Grace erneut verärgern.

Die spätherbstliche Abendsonne stand blutrot am Horizont. Ihr Untergang nahte. Dunkle Wolken zogen auf und fraßen Stück für Stück Düsternis verbreitend langsam diese illuminierende Friedlichkeit. War das ein gutes oder schlechtes Omen? Amerikaner waren nun einmal sehr abergläubisch.

In meiner rechten Hand hielt ich einen kleinen hübschen Blumenstrauß für Grace, in der anderen meinen langen Spazierstock. Ein eleganter silberner Knauf in der Form einer Weltkugel zierte sein oberes Ende.

Je näher wir dem Zentrum kamen, um so mehr verlangsamte sich leider unsere Fahrt. Die Zahl der Passanten nahm kontinuierlich zu. Wie Ameisen schienen sie von allen Seiten kommend das gleiche Ziel zu haben. Ein immer größer werdender Teil spazierte geradezu rebellisch auf der Straße, behinderte unser Gefährt und machte bald gar keine Anstalten mehr beiseite zu gehen. Ihre Masse machte es schier unmöglich, sie irgendwie zu umfahren. Ihre einfache Kleidung wies sie zumeist als Proleten aus. Sie warfen meinem eleganten Gefährt vergiftete Blicke zu. Zuweilen hob jemand sogar drohend seine Faust. Was war das nur für ein merkwürdiger Auflauf?

Der Kutscher gab es schließlich ganz auf, in das Horn zu blasen und die Leute mit dem Pferd zu bedrängen. Wir kamen dadurch nur noch im Schritttempo voran.

„Was ist denn heute los?“, fragte ich unruhig von meinem Sitz aus.

„Die Gewerkschaften haben die Arbeiter zu einem Protestmarsch aufgerufen?“, erwiderte der Kutscher. Er war offensichtlich genau im Bilde.

Sein Gesicht wirkte irgendwie zufrieden. Er schien als einfacher Mann mit ihnen heimlich zu sympathisieren.

Unser Fuhrwerk hielt.

„Wir kommen nicht mehr weiter!“ Der Kutscher sprach plötzlich in einem gänzlich anderen Ton, fast aufsässig mit mir. Es war fast so, als würde ihn die kämpferische Stimmung der zur Demonstration strömenden Masse anstecken und plötzlich zu meinem Feind machen. Aus Freunden werden eben schnell Feinde.

Ich warf ihm ein Geldstück zu, öffnete den Verschlag und sprang hinaus.

„Ich gehe zu Fuß!“, teilte ich ihm abschließend mit. Dem Mann war es nur recht. Er hatte sein Geld erhalten und würde schon irgendwie nach Hause kommen.

Eiligen Schrittes bewegte ich mich mit dem Strom schlecht gekleideter und zuweilen übel riechender Zeitgenossen. Wenn ich zügig ging, würde ich vielleicht gerade noch pünktlich ankommen.

Grace empfing mich mit leuchtenden Augen und winkte mir zu.

„Du bist tatsächlich gekommen!“ Sie hatte anscheinend nicht wirklich damit gerechnet.

„Klar, du bist doch meine beste Freundin!“, versuchte ich den Graben zwischen uns zuzuschütten und überreichte ihr den kleinen Strauß als Aufmerksamkeit.

Ich glaubte Tränen der Rührung in ihren Augen zu sehen. Ihre Nase schnupperte begeistert an den Blüten. Mein Herz setzte einen Schlag aus und klopfte dann um so heftiger. Wieso nur wurde mir plötzlich so heiß und mein Mund so trocken? Bedeutete die Kleine mir vielleicht doch mehr als ich mir eingestand? Ich verscheuchte rasch diesen unsinnigen Gedanken, denn ich musste mein Herz frei halten. Es hatte nur Platz für die eine.

„Wir sollten hier schnell verschwinden“, schlug ich vor.

Grace klopfte die Hände zusammen. Ihr Gesicht war gerötet!

„Lass uns noch ein wenig Zeit mit dem einfachen Volk verbringen!“, schlug sie vor und hakte sich bei mir ein. „Wann erleben wir schon eine so aufrührerische Demonstration?“

Sie wies auf Männer am Straßenrand in dunklen Mänteln.

„Sogar die Polizei ist da“, kicherte sie mädchenhaft.

„Wohin gehen die Leute und was ist ihr Ziel?“, fragte ich meine hübsche Begleiterin, um das Gespräch in Gang zu bringen.

„Der Weg ist doch das Ziel“, spottete sie gutgelaunt.

Wir spazierten also ein wenig mit der Arbeiterklasse, obwohl mir das nicht so richtig gefiel und ein ungutes Gefühl mich instinktiv warnte. Die Sonne war inzwischen versunken, dunkle Wolken hatten die Herrschaft übernommen und tauchten die gesamte Umgebung in gespenstische Finsternis. Die wenigen Gaslaternen, deren fahles Licht kaum durchdrang, verstärkten nur diesen Eindruck. Ich bemerkte außerdem erneut böse Blicke, die einige Demonstranten mir zuwarfen und auch lüsterne, die auf Grace gerichtet waren.

„Was wollt ihr denn hier?“, fauchte mich dann sogar ein großer rothaariger Kerl grob direkt an.

„Für die Ziele der Gewerkschaft demonstrieren“, erwiderte Anastasia keck. Das verschlug dem unhöflichen Burschen für einen Moment vollkommen die Sprache. Sein Mund stand verblüfft offen und entblößte unschöne kariöse Zähne.

Ein komischer Singsang erscholl zuerst zögerlich dann immer kräftiger.

„Ist das nicht aufregend?“ Meine Begleiterin hängte sich Nähe suchend in meinen Arm, kuschelte sich dicht an mich. Es war ein gutes Gefühl.

Inzwischen sangen alle um uns herum ein ansteckendes und kämpferisches Lied.

Der freche junge Kerl wollte anscheinend unbedingt Streit suchen. Er hatte sich nun mit einigen weiteren Kumpanen zusammengeschlossen und drängte mit ihnen in unsere Richtung.

„Lass uns doch lieber verschwinden!“, raunte ich Grace zu. „Es könnte gefährlich werden.“

Der Zug der für oder gegen irgendetwas Protestierenden war inzwischen zum Stehen gekommen. Vorn gab es anscheinend ein Hindernis. Vielleicht war es auch geplant.

„Das Kapitalistenpack macht sich über uns lustig und spaziert frech mit!“ Der grobschlächtige Bursche wies in unsere Richtung und hetzte ein paar Gleichaltrige auf. Ich sah sogar, wie er ein kurzes Messer hervorzog und in seinem Mantelärmel versteckte. Als er meinen Blick bemerkte, grinste er boshaft. Es wurde unangenehm bedrohlich. Was sollte ich bei einem direkten Angriff inmitten der Masse tun? Grausige Bilder geisterten durch meinen Kopf. Hier wollte ich keinesfalls sterben.

„Komm!“ Ich zog Grace energisch mit mir zur Seite, weg von dem gefährlichen Kerl.

„He!“, beschwerte sie sich etwas über den unerwarteten Zwang. Das abenteuerlustige Mädchen folgte mir willig und unwillig zugleich. Mein Beschützerinstinkt und das Spiel mit dem Feuer gefielen Grace gleichermaßen. Ihr heimlicher Plan war aufgegangen.

Eine kleine Gruppe folgte uns durch das Gedränge und kam uns gefährlich nahe.

„Dem reichen Schnösel hauen wir eins auf die Schnauze und mal sehen, was wir danach mit seinem frisch gewaschenen Täubchen machen!“, hörte ich ihn die anderen weiter anstacheln. Diese grinsten in gehässiger Vorfreude. Ich beobachtete sie aus den Augenwinkeln und zog gleichzeitig meine sich immer noch leicht stäubende Freundin allen Widerstand beiseite drängend mit.

Der hässliche Kerl hatte Grace fast erreicht, die durch ihr künstliche Ziererei unsere Flucht etwas behinderte. Ihr war die große Gefahr anscheinend überhaupt nicht bewusst. Als er nach ihrem Mantel griff, um sie festzuhalten, stieß ich unerwartet stehen bleibend den silbernen Knauf meines Stockes mit aller Wucht in sein Gesicht. Er schrie schmerzhaft auf. Sein Messer klirrte zu Boden.

Ich riss Grace nun mit aller Kraft mit mir. Sie folgte willig. Zum Glück erreichten wir unbehelligt die am Straßenrand stehende zivile Polizei.

„Banditen verfolgen uns!“, stieß ich angstvoll hervor.

Sie musterten uns beide kurz und nickten.

„Verschwinden Sie rasch hinter uns! Wir lassen keinen hier durch. Verlassen sie bitte diesen gefährlichen Ort!“, ermahnte man uns abschließend.

Unsere Retter wiesen auf eine Seitenstraße.

„Gehen Sie dort entlang und dann schnell nach Hause!“Erst jetzt schien der hübschen Grace wirklich das ganze Ausmaß der Gefahr bewusst zu werden. Wie ein artiges Kind trippelte sie mit großen zufriedenen Augen neben mir. Diese Naivität gemischt mit ihrer Abenteuerlust gaben ihr einen ganz besonderen Zauber. Ich mochte sie mehr und mehr. Für einen Moment war ich sogar bereit … Nein, fort mit einem solchen Gedanken! Mein Herz konnte nur einer gehören. Die Versuchungen des gewöhnlichen Lebens waren größer als ich gedacht hatte, gestand ich mir ein.

„Ich wusste gar nicht, dass du so kämpferisch bist“, bewunderte sie mich. „Man unterschätzt dich schnell!“

„Du wusstest doch, dass ich recht sportlich bin“, wandte ich ein.

„Schon, aber nur theoretisch. Ich kenn dich leider überwiegend nur als diesen unerotischen Mathematiker.“

Das gefiel mir jetzt überhaupt nicht. „Mathematik ist gar nicht so trocken, wie man gemeinhin denkt. …“, erwiderte ich etwas gekränkt.

„Liebster, hör jetzt bloß auf!“, unterbrach sie mich. „Du zerstörst gerade die beste Stimmung. Dafür hast du offenbar ein besonderes Talent.“

Unvermittelt hielt Grace im eiligen Gang inne und betrachtete nachdenklich ein kleines von Hand geschriebenes Aushängeschild an der schiefen Tür eines heruntergekommenen kleinen Hauses: Madam Bourier, Wahrsagerin - geöffnet -. Das Haus befand sich vollkommen deplaziert zwischen zwei prächtigen Neubauten in der Gasse.

„Von der Frau habe ich gehört.“, murmelte meine temperamentvolle Begleiterin erstaunt. „Sie war mal eine Berühmtheit. Ich dachte eigentlich, sie wäre schon lange tot. Lass uns doch nachsehen. Das ist eine seltene Gelegenheit und sicher kein Zufall.“

Ich wollte Grace widersprechen. Sie zog mich aber energisch zur Tür. Dahinter erwartete uns ein kleiner unscheinbarer Laden, wenn man ihn überhaupt so nennen konnte. Allerlei mystischer Krimskams wie Amulette, Heilsteine, getrocknete Tiere, alte Bücher und Tarot-Karten lagen ungeordnet und verstaubt herum. Ein wenig Kerzenlicht und ein aus dem letzten Jahrhundert stammender Mief in der Luft vervollkommneten die gruselige Atmosphäre. Es roch nach Sumpf, Kräutern und kalten Zigarrenrauch, wie in einem Gasthaus, das schon seit Jahrzehnten geschlossen war.

Eine feine Glocke schellte beim Öffnen der knarzenden Tür nach.

„Wahrsagen? Das ist doch nicht dein Ernst?“, protestierte ich halbherzig, nachdem mir klar wurde, was sie hier wollte. „Wahrsagen ist keine Wissenschaft, sondern einfach Humbug!“

„Humbug ist es vielleicht, wenn man die Allervollkommenste mit Hilfe der Mathematik finden will!“, antwortete mir eine fremde tiefe Stimme. Sie klang ungewöhnlich, wie die eines alten Mannes.

Ich erschauerte innerlich. Woher konnte hier überhaupt jemand von meinem Vorhaben wissen?

„Hast du jemandem davon erzählt?“, hauchte ich Grace hastig an. „Warst du schon einmal hier?“

„Nein, ich wusste nicht einmal von diesem Haus!“ Sie wirkte paralysiert und sah mich mit ihren großen Augen erschrocken an. Vielleicht bereute sie schon ihre Spontanität, die uns hierher geführt hatte.

„Tretet doch näher, ich kann nicht mehr so gut laufen!“, klagte der oder die Unbekannte.

Die Stimme kam aus einem Raum hinter dem uralten Perlenvorhang. Nun war ich doch durch diese merkwürdige Antwort neugierig geworden. Meine Hand schob die mit mattem Bernstein beperlten Fäden beiseite. Staub stob auf und uralter Schmutz rieselte zu Boden, als wäre der Vorhang seit Jahrzehnten nicht mehr durchquert worden.

„Sie kennen mich?“, wandte ich mich an die in Lumpen gehüllte Dame, die dort saß. Ihr Kleid musste aus vergangenen Jahrhunderten stammen. Für einen Moment musste ich mir sogar die Nase zu halten, so unangenehm süßlich beißend war der Geruch, der uns empfing.

„Es gibt diese Welt und es gibt sie zugleich nicht“, murmelte das seltsame Wesen geheimnisvoll.

Das Grauen des Unheimlichen erfasste mich. Mir war, als öffnete sich im Geiste eine verborgne Tür. Grace wirkte wie eine leblose Puppe und sagte kein Wort. Ihr Mund stand verblüfft offen. Wir gingen mit weichen Knien, eigentlich war es mehr ein Gefühl des Schwebens, zu den zwei wackligen Stühlen gegenüber der Hexe. Der Begriff schoss mir unwillkürlich ein. Ja, anders konnte man die Person nicht bezeichnen. Die Umgebung und auch die Stimmung war wie in den klassischen Grusel-Geschichten. Grace drückte angstvoll meine erkaltete Hand und wagte gar kein Wort zu sagen.

„Kennen Sie mich?“, stammelte ich erneut meine Frage mit brüchiger Stimme.

Die uralten verschleierten Augen wandten sich in in meine Richtung. Ich konnte diesen unschönen Anblick kaum ertragen und schlug die Augen nieder. Die alte Dame musste grauen Star haben und war vielleicht sogar schon komplett blind. Der von ihr permanent herüber wehende modrige Geruch eines geöffneten Grabes sowie die schmutzige Umgebung erfüllten mich mit Ekel.

„Ich sah dich gerade mit einem Mädchen in einer fernen Zukunft“, brabbelte ihr zahnloser Mund.

„Mit der Allervollkommensten?“, rief ich nun doch aufgeregt und vergaß all die Hässlichkeit. Die widerliche Alte zog mich tatsächlich durch ihre merkwürdigen Worte und das Wissen, welches nicht aus dieser Welt stammen konnte, in Bann. Das, obwohl ich eigentlich als Mann der Wissenschaften weder an Wahrsagung noch Hexerei glaubte.

Die Prophetin lachte jetzt wie ein Zicklein.

„Man kann die Zukunft nicht genau voraus sagen!“, beharrte ich halbherzig, war aber in Wirklichkeit doch neugierig auf mehr. Mein Gerede kam mir in diesem Moment selbst dumm vor.

„Hast du das denn schon berechnet und kannst es mit Gewissheit beweisen?“, spottete sie den Nagel auf den Kopf treffend. Mir wurde schwindelig. Sie schlug mich mit den eigenen Waffen und hatte zugleich eine mir vollkommen unbekannte gezückt. Woher hatte sie überhaupt wissen können, dass ich mich mit Mathematik beschäftigte?

Ihre Stimme hatte sich inzwischen auch noch verändert. Sie klang nun geradezu jung und weiblich. Meine feinen Rückenhaare schienen sich zu sträuben, Schauer liefen über meine Haut und ich schwitzte kalten Schweiß. Meine Begleiterin schien einer Ohnmacht nahe und glotzte wirr auf das Geschehen. Nur mit Mühe schien sie sich überhaupt noch aufrecht zu halten.

„Nur Narren glauben an die Wahrheit!“, fuhr sie fort. Das klang fast so nebulös, als wäre sie ein geschultes Mitglied der Philosophischen Vereinigung.

Ich reichte ihr die linke Hand.

„Wer bin ich denn?“

Ihre warzige Hand ertastete geschickt meine Linien. Die Fingernägel waren lang, schmutzig und zerschlissen, als hätten sie lange in Grabeserde gewühlt. Leblos wirkende Augen waren auf mich gerichtet. Sie schien kaum noch sehen zu können.

„Ich bin leider vollkommen blind!“, bestätigte sie meine Gedanken und kicherte abermals ein wenig verrückt dazu.

„Was ist denn so lustig?“, versuchte ich zumindest äußerlich selbstsicher zu erscheinen.

„Sofern du etwas gesagt hast, muss ich leider mitteilen, dass ich auch vollkommen taub bin“, fuhr sie fort. Mein Gott, wo war ich hier nur? Der Wunsch sofort auf zu springen und fort zu laufen kämpfte mit meiner Neugier. Das Streben nach Weisheit beginnt nun einmal mit dem Verlangen, etwas zu lernen.

„Du bist nicht, was du zu sein glaubst, aber auch nicht was andere sehen. Unabhängige Existenz - selbst des Bewusstseins - ist eine Illusion“, erklärte sie in orakelhafter Manier weiter.

„Dies ist mir schon klar, ich verstehe ein wenig von Philosophie“, erwiderte ich. Zugleich ärgerte ich mich jedoch über meine Dummheit. Die Alte war doch taub und konnte gar nicht meine Worte hören.

„Wenn ich nun schon Geld für die Wahrsagerei ausgebe, würde mich interessieren, ob ich die Vollkommene auch wirklich finde?“ Um zu vertuschen, dass mir das erneut in der Aufregung herausgerutscht und tatsächlich an die taube Wahrsagerin gerichtet war, tat ich zum Schluss so, als spräche ich zu Grace. Zumindest sie sollte den Eindruck behalten, dass ich alles unter Kontrolle hatte und nicht mit einer Gehörlosen sprach. Anastasia schien aber in ihrem fast somnambulen Zustand diese Feinheiten nicht zu bemerken.

„Manchmal sieht man das Offensichtliche nicht, selbst wenn es neben einem sitzt“, antwortete die Blinde mit einem alten Spruch. Ich vermutete insgeheim, dass die Hexe log und doch zumindest ein wenig hörte. Wie konnte sie mir sonst so passend antworten? Das gehörte sicher zu ihrer speziellen Vorführung.

Ein Schauer des Entsetzens übermannte mich trotzdem. Zugleich jubelte es in mir. Die Antwort war doch so etwas wie eine Zustimmung zu meiner Frage. Ein Seitenblick zeigte mir, dass sogar Grace sich zu freuen schien. Sie hatte einen Teil ihrer Beherrschung wieder gefunden und sah plötzlich zufrieden aus. Das alles war seltsam und wirkte vollkommen burlesk.

Als Mann der Wissenschaft wollte ich aber absolute Gewissheit.

„Bitte keine Metaphern mehr. Werde ich sie finden, ja oder nein?“, forderte ich eine unmissverständliche Antwort ein. Oh je! Wozu fragte ich schon wieder, wenn sie mich doch nicht hörte?

Aber die angeblich Taube erwiderte vollkommen passend: „So klug bist du anscheinend auch nicht. Ich habe dir schon die Antwort gesagt.“

„Ja oder nein?“, beharrte ich. „Wie können Sie überhaupt meine Frage beantworten, wenn Sie mich doch angeblich gar nicht hören. Lippenlesen geht auch nicht, da sie ja angeblich auch noch blind sind?“, spottete ich. Mich konnte sie nicht mit ihren gruseligen Tricks beeindrucken. Na gut, sie war vielleicht tatsächlich blind. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie mit diesen trüben Augen etwas wahrnehmen konnte.

Laute Gewehrschüsse unterbrachen den merkwürdigen Dialog zwischen Wissenschaft und Aberglaube. Die Alte zeigte keine Reaktion und sah mich nur grinsend an. Sie hörte ja nichts. Grace und ich blickten uns jedoch erschrocken in Richtung des Geknalles um. Die Demonstration schien in einem Gewaltexzess zu enden. Ich hatte diese durch die merkwürdigen Erlebnisse hier fast vollkommen vergessen.

Doch diese Verblüffung war nichts gegen die neuerliche. Vor Schock sprangen wir auf und hielten uns sogar an den Händen fest. Ein spitzer Schrei entrang sich Graces Kehle. Sie bekreuzigte sich. Auf dem Platz der alten Dame befand sich nichts außer einem uns böse aus feuerroten Augen anfunkelnden schwarzen Kater. Wo war die Wahrsagerin von einem auf den anderen Augenblick hin? Wie konnte die Alte sich quasi auflösen? Wir hatten doch nur einen ganz kurzen Moment in die andere Richtung geschaut. Dass sie sich in den Kater verwandelt hatte und somit eine echte Hexe war, erschien mir dann doch eine zu unwissenschaftliche These. Ich verstand eigentlich gar nichts und suchte mit den Augen nach einer verborgenen Tür. Die schreckliche Alte musste erfolgreich irgendeinen magischen Trick angewandt haben.

„Was geht hier nur vor?“, murmelte die bleiche Grace entsetzt und drückte so sehr meine Finger, dass ich Schmerzen empfand. Sie zitterte an allen Gliedern. Für einen Moment war ich versucht, sie in meine Arme zu nehmen. Wir sollten so schnell wie möglich von hier verschwinden. Auch meine innere Angst stieg.

„Lass uns gehen!“, forderte ich. Grace sah mich mit großen Augen an. „Ich habe große Furcht!“, hauchte die Arme. Wir waren uns durch die verborgene Gefahr auf besondere Weise nahe, wie noch nie. Sie erschien mir so kindlich bezaubernd, geradezu des Beschützen wert und unheimlich schön.

Wir eilten schnurstracks aus der Tür. Diese schlug zäh quietschend hinter uns in den Riegel. Als ich kurz zurücksah, war mir so, als gewahrte ich die verschwundene Alte hinter einer Gardine uns nachschauen und verächtlich lachen. Das konnte aber auch eine Sinnestäuschung sein, denn es war ziemlich dunkel auf der Straße und hinter den Gardinen nur mattes Kerzenlicht.

Wir hörten ganz in der Nähe weiteres Gewehrfeuer und panisches Geschrei. Das ließ nichts Gutes ahnen.

Wir schritten hastig davon, fast liefen wir. Nieselregen setzte ein.

„Ich weiß nicht, ob man der Alten glauben kann“, relativierte ich im Laufen. „Zumindest hat sie mir bestätigt, dass ich die Allervollkommenste finde. Ich muss mich gleich wieder den Berechnungen zuwenden.“

Grace schüttelte den Kopf und blieb stehen. Sie hatte sich inzwischen wieder gefasst. Die frische Luft tat nach dem Gestank in dem Hexenhäuschen gut.

„Sie hat doch nicht gesagt, dass du die Vollkommene nur mit Hilfe der Mathematik findest, eher das Gegenteil. Erinnere dich einfach, was sie zu Anfang murmelte. Sie bezeichnete deine Idee als Humbug.“

Ich dachte verblüfft nach. Wäre die Alte nur nicht so schnell verschwunden, dann hätte ich da noch nachhaken können.

„Nein, so war das nicht von ihr gemeint. Indirekt hat sie später bestätigt, dass ich die Vollkommene finde“, beharrte ich.

„Nein! Sie hat etwas vollkommen Anderes gesagt.“ Meine Begleiterin wirkte unzufrieden.

„Inwiefern?“, bohrte ich und hatte das Gefühl, dass wir uns heftig stritten.

„Was heißt wohl: Du siehst nicht das, was direkt neben dir ist?“, klärte sie mich auf.

„Das ist oft so bei wissenschaftlichen Problemen und zudem eine allgemeine Redeweise“, belehrte ich sie. Wieso stellte sie sich gerade jetzt so aufreizend hin? Ich übersah nicht, dass sie ihren schönen Busen unter dem Mantel besonders in meine Richtung präsentierte.

Die aufgebrachte Grace schlug sich aufgeregt die Hand vor den Kopf.

„Denk doch nach! Es gibt eben auch etwas anderes als die Wissenschaft! Wer saß denn da gerade neben dir, als sie das sagte?“

Wir waren an einem Platz angekommen, an dem zwei wartende Droschken standen. Die Kutscher unterhielten sich aufgeregt und wiesen in Richtung der Schüsse.

Ironisch schaute ich Grace an. „Du meinst doch nicht etwa, dass sie das wörtlich meinte …“

Meine Freundin schmiss den kleinen Blumenstrauß wütend auf die Straße. Aufgebracht bestieg sie eine Kutsche und gab ihre Adresse an. Das Bummeln war anscheinend beendet.

Im Abfahren rief Grace mir zu: „Melde dich, wenn du endlich weißt, wer die Vollkommene denn nun ist! Vielleicht ist es ja die alte Hexe?“

Temperament hatte die Süße. Doch so sollte eigentlich die Versöhnung nicht enden.

„Meine Mutter schickt mich für längere Zeit zu einer Kur fort!“, rief ich ihr nach.

Durch das laute Getrampel der mit Eisen beschlagenen Pferdehufe verstand ich leider nicht, was sie mir erwiderte.

Completely - Gesamtausgabe

Подняться наверх