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Seltener Besuch
ОглавлениеMama hielt meine gegenwärtige Beschäftigung für nutzlose Zeitverschwendung, für eine Art Krankheit. Aus Sicht meiner Mutter wurde es Zeit, eine geeignete Braut zu finden. Deshalb förderte sie die Besuche von Grace. Diese waren aus ihrer Sicht so etwas wie Therapie.
Sie ahnte ja nichts davon, dass ich schon längst verliebt war und nur an Liebeskummer litt. Ich hatte mich bis über beide Ohren in eine Unbekannte verliebt.
Aus Vorsicht erzählte ich niemandem im Hause von meiner außergewöhnlichen Liebe. Man sah ja bei Grace, wozu die Wahrheit führte. So litt ich weiter allein. Mein junges Herz schmachtete. Unruhe und Sehnsucht bestimmten seitdem mein Gemüt. Wie konnte man sich auch in eine Unbekannte verlieben, selbst wenn sie die Vollkommene war?
Wer war sie nur und wo konnte ich sie finden? Wir waren Seelenverwandte und füreinander geschaffen. Das stand fest.
Mama befürchtete inzwischen sogar, dass ein merkwürdiges Fieber mich heimgesucht hatte und vielleicht meinen Verstand beeinträchtigte.
Entschlossen, mich von niemandem aufhalten zu lassen, arbeite ich Stunde um Stunde und Tag für Tag. Ich bemerkte nicht, wie die Zeit verging und verlor jegliches Maß für sie.
Es klopfte.
„Was ist?“, rief ich ungehalten vom übergroßen Schreibtisch aus. Zwischen den bekritzelten Papierbergen war seine dunkle Mahagoniplatte nur noch zu erahnen.
Die Tür öffnete sich. Unser guter alter Hausdiener, der sein Gesicht mit überlangen, gekräuselte Koteletten verzierte, erschien in seiner blauen Uniform. Der inzwischen unmoderne krause Backenbart war scheinbar frisch gestutzt. Er hatte noch ein wenig Seifenschaum im Gesicht. Hingegen war seine Kleidung durch die vielen Dienstjahre an Knien und Ellbogen so abgeschabt, dass man seine gelbliche Haut hindurch schimmern sah. Er weigerte sich jedoch eine neue Uniform zu tragen. Zu sehr war ihm die alte ins Herz gewachsen. Da half kein Schimpfen oder Drohen. In der linken Hand balancierte er ein silbernes Tablett, auf dem Gläser und Schalen im russischen Stil standen.
„Guten Tag, Percy! Wie wäre es mit einem belegten Butterbrot, Schinken, Käse und einem Kännchen Tee mit Honig?“ Da der Hausdiener meine Wenigkeit von klein auf kannte, redete er mich als einziger vom Gesinde noch mit dem Vornamen an. Ich gestattete ihm dies, da er für mich fast zu einem Vaterersatz geworden war.
Der Geruch der Speisen wehte mir durch den Raum entgegen. Der Kamin knisterte und verbreitete Gemütlichkeit. Normalerweise hatte ich einen gesunden Appetit. Doch ich winkte ihm mit der Hand eine abweisende Geste zu. Er sollte verschwinden, denn ich war zu beschäftigt.
„Nimm das Zeug ruhig wieder mit. Du darfst alles selbst essen.“
Verblüfft starrte der treue Diener mich an. Sein Mund stand offen, als hätte er einen Geist gesehen. Er sah traurig aus. Kopfschüttelnd schloss der Bedienstete die Tür. Sein kahler Schädel verschwand zwischen den Flügeln.
Er tat mir leid, aber wie konnte der gute alte Tropf, der sicherlich niemals in seinem ganzen Leben verliebt gewesen war, mein grandioses Vorhaben und meine Gefühle verstehen?
Eine Unterbrechung meiner Herzensaufgabe mit Schlaf, Essen und Toilette kostete nur wertvolle Zeit. Selbst die Haare waren mir inzwischen lang gewachsen und der erste dünne Bartflaum machte sich auf den Wangen breit. Ich vermied jede Zeitverschwendung, da der Durchbruch nahe war.
Alle Wände meines imposanten Zimmers waren mit Schmierblättern tapeziert. Ein ordnungsverliebter Bürokrat würde den Kopf schütteln und die Ansammlung für Chaos halten. Für mich war es aber keins. Auch auf dem Boden häuften sich kniehohe Papierberge und die alten Möbel erstickten unter den mathematischen Dekorationen.
Doch immer tauchten neue Probleme auf. Meine wahre Liebste entfloh mir wie ein Schneehase. Immer wieder schlüpfte sie durch die Löcher meiner Zahlennetze und das hübsche Gesicht von Grace tauchte statt dessen auf. Ich sah vertraute Bilder, in denen wir vertraut beieinander saßen.
Nur wenige Minuten später klopfte es erneut.
Ein wenig Blut stieg mir vor Ärger zu Kopf. Genau diese Störungen waren es, die meinen Gedankenfluss und die mühsam geknöpften logischen Ketten unterbrachen. Man konnte wahnsinnig werden.
Abermals trat unser Diener ein.
„Kein Essen bitte!“, rief ich ungehalten, ehe er den Mund öffnen konnte. Trotzdem versuchte ich äußerlich die Beherrschung zu behalten. Streit und Auseinandersetzungen lenkten mich von meiner Aufgabe ab. Alles musste sich dem neuesten Ziel unterordnen, wirklich alles. Selbst der Weltuntergang musste warten.
„Der Sekretär des Finanzministers bittet um Einlass. Er fragt nach, ob das Lottosystem fertig ist“, rechtfertigte der gute Alte sein nochmaliges Erscheinen. Was sollte der arme Kerl auch tun?
Diese Lottosache also… Zum Glück hatte ich den Kleinkram schon erledigt, bevor mich Amors Pfeil getroffen hatte. Meine Hand zitterte für einen kurzen Moment vom inneren Ringen. Im Augenblick wollte ich eigentlich nicht einmal den Präsidenten selbst empfangen. Aber ich zwang ein Lächeln auf meine Lippen. Hoffentlich wirkte es echt genug.
„Er soll eintreten“, entgegnete ich bemüht höflich, „auch wenn ich nur wenig Zeit habe …“ Den Nachtrag murrten meine Lippen so leise, dass es niemand außer mir hören konnte.
Unter einem Berg bekritzelter Blätter suchte ich nach dem Ordner und fand ihn. Welch ein Glück war das! So hatte ich wenigstens etwas Zeit gewonnen.
Der uniformierte und mit vielen klappernden Orden behängte Mann trat ein und warf einen Seitenblick auf die Unordnung. Er erwähnte sie jedoch nicht. Bei Wissenschaftlern sah es nun einmal anders als bei normalen Menschen aus. Man musste kein Hellseher sein, um diesen Gedanken zu erraten.
„Ich suche Mr. Percy Racliff, den Mathematiker“, erklärte er.
Unser Diener schmunzelte in seine gestutzten Koteletten hinein. Er war an solche Verwechslungen gewohnt.
„Ich bin der, den Sie suchen“, klärte ich den Besucher auf. „Nennen Sie mich einfach Percy!“
Meine Jugend verschlug dem Gesandten die Worte.
„Das System ist fertiggestellt“, füllte ich die sprachlose Lücke. „Es garantiert die gewünschte Gewinnquote und ist von einfachster Art, sodass selbst Dummköpfe es verstehen müssten.“ Ich drückte ihm die dreißig Blätter voller Zahlenmyriaden in die Hand und hoffte, dass er jetzt in einer perfekten Gerade zum Ausgang marschierte.
Doch der Mann begann in aller Seelenruhe die Unterlagen zu prüfen. Dazu setzte er sich wie selbstverständlich in einen Sessel.
Ich unterdrückte einen Fluch. Sein Beamtenhintern zerknitterte die darauf liegenden Papiere, was ihm jedoch völlig egal war.
Währenddessen trippelte unser Butler von einem Fuß auf den anderen und wusste nicht, ob er sich entfernen sollte. Da ich seine Entlassung vergessen hatte und er sich nicht nachzufragen traute, blieb er unruhig an seinem Platz stehen.
Ich zuckte mit den Schultern, überließ jeden sich selbst und huschte ungeduldig an meinen Arbeitsplatz zurück. Bald vergaß ich den Diener und den stummen Besucher ebenso. Im Nu war ich in eine neuerliche Berechnung vertieft. Einige Zeit verging auf diese Weise, ohne dass ich es eigentlich zur Kenntnis nahm. Wieder öffnete sich die Tür. Sie knarrte dabei. Mama trat zusammen mit dem dünnen, unsympathischen Kerlchen ein, das sich kürzlich mit ihren Brüsten und wer weiß was noch beschäftigt hatte. Der Wicht schaute gewichtig auf die Unordnung und machte sich dabei bedeutungsvoll Notizen in ein ledernes Büchlein. Das an der Gurkennase klemmende Monokel ließ sein dahinter liegendes Auge irrsinnig groß wirken.
„Unglaublich!“, rief irgendwer.
Ich schaute endgültig von meinem neusten Zahlengerüst auf. Die Worte waren dem Gesandten des Ministers entglitten, der immer noch studierend in dem Sessel saß.
„Das konnte nur ein mathematisches Genie entwickeln!“ Jetzt hielt er den Papierpacken vor sich wie ein Porträt, als wollte er es wie eine Ikone küssen.
„Mein Gott!“, ertönte nun die Stimme meiner Mutter.
„Ja, wirklich!“, sagte der Beamte. „Ihr Sohn ist ein Gott. Ich werde dem Präsidenten persönlich von ihm berichten.“
Der faszinierte Redner bewertete die plötzliche Bemerkung fälschlich als Begeisterung für seine letzten Worte. Er stand auf und verneigte sich höflich zu Mama. „Mr. Racliff übertrifft jeden Mathematiker, den ich kenne! Als ich hörte, jemand habe Poincarés Vermutung bewiesen, habe ich mit einem steinalten Kauz gerechnet.“
„Es ist es keine Vermutung mehr, sondern ein Fakt“, stellte ich bescheiden klar. „Jede n-Mannigfaltigkeit mit dem Homotopietyp einer n-Sphäre ist zur n-Sphäre homöomorph.“
Mama und der Arzt rissen erstaunt die Augen auf. Sie verstanden sicher nichts von allem.
Der Beamte schwärmte weiterhin in höchsten Tönen von mir. Wie verbale Goldmünzen regneten die Worte auf mich nieder. Ein wenig schmeichelte mir sein Lob doch. Außer uns beiden verstand aber niemand, wovon wir redeten – oder? Der Gnom mit der großen Nase machte sich weiter eifrig Notizen.
Hingegen hielt sich meine Mutter die Ohren zu. „Schweigen Sie bitte!“, herrschte sie den Boten bestimmt an.
„In diesem Haus geht es immer nur um Zahlen, Zahlen und nochmals Zahlen!“
Ohne den hohen Gast weiter zu beachten, wandte sie sich an mich: „Du hast seit drei Tagen nichts gegessen. Ich bin in großer Sorge! Du siehst zudem ungesund und blass aus.“
Der Gesandte schwieg verblüfft. Er wusste nicht, was er dazu sagen sollte. In fremde Familienangelegenheiten wollte er sich nicht einmischen.
Mir war das natürlich äußerst peinlich. Mama behandelte mich wie ein Kind.
„Mutter, doch nicht vor dem Besuch!“, klagte ich und setzte ein entschuldigendes Lächeln auf.
Das dürre Männchen hatte sich inzwischen bis zu meinem Schreibtisch vorgearbeitet und griff sich kess eine meiner Berechnungen. Er war resistent gegen meinen Charme. Das machte ihn gefährlich.
Seine widerlich lange Nase, die zudem ein dickes behaartes Muttermal neben der Spitze hatte, rümpfte sich wie die eines Schweines. Dieses Organ war erstaunlich. Es zeigte offenbar sogar seinen Gemütszustand an und besaß eine eigene Mimik. Angewidert schaute ich auf das Schnüffelspiel. Was fand meine Mutter an diesem hässlichen Kerl?
Doch keiner sollte erfahren, woran ich wirklich arbeitete. Deswegen drehte ich die oberen Blätter um und versuchte ihm das gestohlene Papier aus der Hand zu nehmen. Er wehrte sich, als nähme ich ihm sein Betthupferl.
„Das dürften Sie ohnehin nicht verstehen“, spottete ich.
Die Riesennase ließ jedoch nicht los und betrachtete das Blatt wie ein Beweisstück. Aber für was sollte es ein Indiz sein? Immer energischer zogen wir an beiden Seiten, bis das Papier zerriss. Er hatte meine ganze Arbeit zerstört!
„Fassen Sie die Sachen nicht an!“, ermahnte ich ihn aufgebracht. „Es reicht, wenn Sie meine Mutter belästigen!“
Dieser verschlugen meine offenen Worte die Sprache. Ihr Antlitz schimmerte zuerst bleich, dann eroberte das Rot die Wangen. Beinahe sah es aus, als wuchsen dort zwei Tomaten. Sie warf dem Besuch einen pikierten Blick zu. Mein Wissen war ihr unangenehm.
Aber das Männchen wiegte nur nachdenklich den Kopf, beobachtete mich durch das Monokel und kritzelte wieder eilig etwas in sein Buch. Seine Nase erschien mir dabei höhnisch gebläht.
Meine geliebte Mutter fand ihre Fassung jedoch rasch wieder und war nun nicht mehr zu bremsen. „Welcher siebzehnjährige Junge hat nur Zahlen im Kopf? Da sollten jetzt Mädchen drin sein! Andere haben in deinem Alter längst eine Freundin oder suchen schon nach einer Braut! Die Mathematik macht dich besessen!“
Der Doktor nickte zustimmend und kritzelte wild in sein Buch.
„Was schreiben Sie da?“, erkundigte ich mich und errötete zugleich. „Und ich bin zudem achtzehn Jahre alt!“
„Was schreibst du da?“, konterte meine Mutter mit Blick auf das Blätterchaos. Wenn ihre Augen das Zeug verbrennen könnten, würde meine Stube lichterloh flackern.
Ich fühlte mich hilflos. Wie sollte ich Mama erklären, dass ich bereits nach der vollkommenen Liebe suchte? Ich wollte nicht irgendeine. Dann würde ich am Ende nur unglücklich werden.
„Bist du denn besessen?“, fragte der Doktor ganz nebenbei, als sprächen wir über die Qualität von einem Tee.
„Ich bin vollkommen gesund!“, rief ich wütend. Was erlaubte sich der Kerl nur?
Er rümpfte die Nase, lächelte verschmitzt und brachte seine Gedanken erneut zu Buche.
Indessen schlich der Gesandte in Richtung der Türflügel und überlegte, wie er sich standesgemäß verabschieden konnte. Er wollte sich dem Desaster entziehen.
Meine Mama verprügelte mich weiter mit Worten.
„Er ist ein Genie“, versuchte der Bote mir beizustehen. „Wahrhaft ein Genie!“
„Genie und Wahnsinn sind oft vereint“, belehrte die Nase ihn überheblich.
Bei diesem Satz kam mir ein Gedanke. Natürlich, wie hatte ich das übersehen können? Die Lösung lag direkt vor mir!
Ich stürzte zu einem Papierhaufen und wühlte darin. Man musste Poincarés Vermutung unbedingt in Bezug zu chaotischen Systemen setzen!
„Sehen Sie!“, stieß Mama hervor und wies anklagend auf mich. „Er ist krank!“
„Vollkommen besessen!“, ergänzte ihr Begleiter zustimmend, als wäre es ein unumstößlicher Fakt.
Das war ein Narrenhaus. Der hohe Besuch wirkte verwirrt. Der Arzt wog seinen Kopf sinnend hin und her, gab sich besorgt und klopfte meiner Mutter beruhigend auf die Schulter. Das wirkte unangemessen intim, als wären sie bereits ein Paar.
„Die Zahlen machen ihn noch wahnsinnig! Er hat schon Fieber!“, stöhnte Mama leidvoll und stützte sich auf einen Stuhl, als verlöre sie sonst den Halt.
Ohne dass ich etwas dagegen machen konnte, ergriff der Gnom beinahe habgierig meine Hand und fühlte den klopfenden Puls.
„Sehr beunruhigend! Zeig mal deine Zunge!“, befahl er, als wäre ich ein kranker Knabe.
Um meine Ruhe zu haben, tat ich es.
„Ich habe es befürchtet!“, stieß der Arzt hervor. Das Auge unter dem Monokel schien noch größer zu werden und seine Nase bebte erschüttert. Allein durch dieses merkwürdige Schauspiel hatte er die Aufmerksamkeit der Gesellschaft auf seiner Seite.
„Was?“, rief meine Mutter ängstlich. Sie sorgte sich ehrlich um mich. Kein Wunder, denn ich war ihr einziger Sohn.
Aber der Quacksalber verfolgte eigene Pläne. Ich musste mich in Acht nehmen. Er war durchtrieben. Und dann kam sie, die Diagnose.
„Er leidet bereits unter schizoider Psychopathie!“
Alle machten bei diesen gefährlich klingenden Begriffen erschrockene Augen, selbst der Sprecher.
„Oh!“, entfuhr es Mama. Es sah aus, als fiele sie jeden Moment in Ohnmacht.
Ich lachte laut über diesen Quatsch. Die Ärzte erklärten jeden für verrückt, der anders als sie selbst erschien. Die ganze Welt war für sie krank und behandlungsbedürftig. Es gab für sie keine Gesunden, sondern nur nicht gründlich genug Untersuchte. Natürlich stand ihr Diagnosewahn in direkter Beziehung zu ihrer grenzenlosen Geldgier. Nicht ohne Grund hatte Casanova die Ärzte, die ihn zur Ader lassen wollten, mit seiner Pistole davongejagt. Wenn man lange leben wollte, sollte man diesen Berufsstand konsequent meiden.
Der Doktor funkelte mich böse an. Er hielt sich wohl für besonders schlau und wollte mir meine ironische Bemerkung von vorhin heimzahlen. Wir mochten uns nicht. Das stand fest.
„Die mathematische Überaktivität, verbunden mit seinem jugendlichen Geschlechtstrieb, hat eine Überhitzung der inneren Säfte bewirkt. Sein Blut gerinnt bereits“, ängstigte er die anderen weiter.
„Das ist doch Schwachsinn!“, warf ich nochmals ein. „Da klumpt nichts!“
Doch keiner hörte auf mich. Sie glotzten erschrocken die übergroße Nase an, als wäre ich Luft.
„Sehen Sie, meine Kostbare?“, fuhr der Lügner mit kalter Stimme fort. „Den Erkrankten geht in der Regel jede Einsichtsfähigkeit verloren. Sie halten sich deswegen für vollkommen gesund.“
Alle schauten mich mitleidig an. Der Gesandte des Ministers umklammerte erschrocken den Ordner und war wohl insgeheim froh, dass ich die Arbeit überhaupt noch geschafft hatte.
Dieser ärztliche Schurke war wirklich gewieft. Sagte ich jetzt, ich wäre gesund oder schmisse ich ihn aus dem Haus, hielten sie mich erst recht für behandlungsbedürftig. Ich war noch nicht volljährig und somit den Anordnungen meiner Mama ausgeliefert. Sein teuflischer Plan funktionierte.
„Wie wäre es mit einer Kur auf dem Lande?“, fragte meine Mutter den Scharlatan. „Alle kuren doch heutzutage.“
Der Mistkerl machte ein nachdenkliches Gesicht. Gewiss wollte er mich nur loswerden, um sich ungestört an meine Mutter und unser Geld heranzumachen. Ein kluges Söhnchen im Haus war da nur hinderlich. Andererseits wollte er in diesem Moment vertrauenswürdig erscheinen.
„Das könnte durchaus hilfreich sein“, murmelte er nachdenklich. „Die Winde kühlen sein Blut. Es ist vielleicht seine letzte Chance.“ Insgeheim wog er ab, was diese zumindest zeitweilige Verbannung meiner Person für ihn an Vorteilen brachte.
Wenn ich weniger wohlerzogen wäre, würde ich ihm an die Gurgel gehen. Der Hinterhältige wollte mich lieber heute als morgen kaltstellen. Es war erstaunlich wie viel Einfluss er auf meine Mutter bereits hatte. Diese war ihm verfallen.
Beide beratschlagten gerade, welche bäurische Region für mich ideal sei, aber so schnell wollte ich mich nicht geschlagen geben. Außerdem hielt eine Kur mich nur auf. Mein Herz verlangte, dass ich meine große Liebe fand.
„Ich habe keine Zeit für so etwas!“, rief ich aufgebracht dazwischen.
„Sehen Sie, keine Einsichtsfähigkeit!“, bestätigte der Betrüger sein medizinisches Urteil.
Alle warfen sich bedeutungsvolle Blicke zu. Ihr Urteil stand fest. Das Gefecht war für mich im Augenblick verloren.
„Du fährst zu deinem Urgroßvater in die Black Hills“, entschied Mama aus dem Bauch heraus. „Er ist sehr betagt. Du kannst ihm Gesellschaft leisten und dabei deine angegriffenen Nerven erholen.“
Der hinterhältige Medikus machte ein zweifelndes Gesicht. Diese Wendung gefiel ihm nicht so sehr. Er hätte mich doch lieber in der Anstalt gesehen.
„Seit wann habe ich einen Urgroßvater? Ich kenne ihn gar nicht!“ Mein Inneres sträubte sich noch immer. Niemand hatte mir jemals von einem Verwandten in den abgelegenen Bergen erzählt. Lebten dort nicht noch immer Indianer? Zumindest war das Gebirge für diese heilig, da deren Geister dort angeblich hausten.
„Dann wird es Zeit ihn kennenzulernen!“, schloss meine Mutter bestimmt ab. Sie wollte sich als Hausherrin präsentieren – als strenge Dame, die einen Sohn in die Schranken wies. „Dieser Urgroßvater ist der Vater der Mutter deines Vaters. Er wirkt vielleicht etwas merkwürdig und unmodern, jedoch immer noch rüstig, obwohl er bereits das hunderte Jahr überschritten hat. Zudem hat er gewisse medizinische Kenntnisse.“
Alle drei nickten zustimmend, als wüssten sie, was das Beste für mich wäre. Ich stand wie ein Dummkopf da und hatte verloren.
„Das werde ich nicht machen!“ Bockig verschränkte ich meine muskulösen Arme. Das Hemd spannte sich.
„Welche Alternative gibt es?“, wandte sich meine Mama an den Arzt. Mein Widerspruch machte sie unsicher, denn sie liebte mich – und hoffentlich mehr als den Arzt.
„Die Krankheit führt zum Verlust des Verstandes“, erklärte der Fiesling mit gespielt traurigem Gesicht. „Ich müsste ihn leider ansonsten ins Irrenhaus einweisen.“
Seine Nase wirkte sehr zufrieden und das riesige Auge funkelte mich spöttisch hinter dem Monokel an. Zwinkerte er mir sogar höhnisch zu? Mir stockte der Atem, zugleich erahnte ich die reale Gefahr daraus und den hinterhältigen Plan. Der Kerl wollte mich loswerden, um so an mein Erbe zu kommen. Indessen sah meine Mutter den Arzt wie die personifizierte Hoffnung an, die Rettung für ihren Sohn.
Nein, ich durfte auf keinen Fall in der Klapsmühle landen!
„Ich wollte schon immer mal meine Verwandtschaft kennenlernen!“, übernahm ich nun selbst das Zepter, beschloss aber, es dem scheinheiligen Arzt so bald wie möglich heimzuzahlen. Die Schlacht war verloren, aber der Krieg noch nicht zu Ende. Dieser Teilsieg ging jedoch an ihn. Leider ließ sich meine Mutter wie alle alternden Frauen durch Komplimente und Schmeicheleien blenden. Eine Frau in den Zwanzigern ist wählerisch, eine über Vierzig nimmt jedoch jeden.
Das Dreiergespann wirkte auf seine Weise zufrieden. Nur der Diener war offenbar noch auf meiner Seite und funkelte den Arzt böse von der Seite an. Der Gesandte nutzte den Moment, verabschiedete sich eilig und wünschte mir gute Besserung. Gleich darauf gingen meine Mutter und der Arzt vertraut miteinander tuschelnd davon. Seine knochigen Finger tätschelten dabei ungeniert ihren Hintern. Er drehte sich noch einmal kurz um, kniff sein riesig wirkendes Auge spottend hinter dem Monokel zu und machte mir eine boshafte Fratze.
Ich war verärgert, aufgeregt und beschloss, die noch verbleibende Zeit in der Villa so gut wie möglich zu nutzen. Wie gern hätte ich jetzt Grace hier gehabt, ihre Nähe gefühlt und in ihre schönen Augen gesehen. Ja, sie war wunderschön. Sie erschien mir nach den letzten Erlebnissen wie ein Engel des Lichts, fast vollkommen. Sicher hätte Grace mein Herz ganz gewonnen, wenn ich nicht schon eine andere lieben würde.