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Die lange Reise

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Mama gab sich leider unerbittlich. Der Einfluss ihres neuen Liebhabers wuchs von Tag zu Tag. Mein Reden half nichts und prallte wie geworfene Steine von einer Mauer ab. Sie schien ihm geradezu hörig zu sein, so als hätte er sie mit Hypnose gefügig gemacht und aus ihr eine neue Persönlichkeit geformt. Ich fühlte mich wie ein Fremder im eigenen Haus. Einzig meine Berechnungen und meine Gedanken an Grace trösteten mich. Sie bildeten geradezu einen erholsamen Rückzugsort.

Unsere letzte Begegnung hatte den leidigen Streit leider auch nicht aus der Welt geschafft. Weder besuchte sie mich, noch schrieb sie mir seitdem. Ich wiederum war zu beschämt oder auch zu stolz, um sie erneut um Verzeihung zu bitten. Ungesagtes trennt zuweilen Menschen mehr als das Ausgesprochene. Was sollte ich ihr auch mitteilen, solange klar war, dass ich eine andere liebte oder lieben würde?

Der bittere Tag der Abreise zu meinem unbekannten Urgroßvater war gekommen. Bis vor Kurzem hatte ich nicht einmal gewusst, dass es einen solchen gab. Vater hatte seine Herkunft stets im Verborgenen gelassen. Ich wusste sehr wenig, eigentlich nichts über dessen Familie. Jetzt kam mir das äußerst merkwürdig vor. Vielleicht schämte er sich seines Großvaters? Wieso gab es einen Urgroßvater aber keine Großeltern dort? Diese wären doch jünger als er. Sehr viele Fragen blieben ohne eine Antwort. Mal sehen was mich noch so erwartete.

Mama hatte mich schon zu Hause verabschiedet und ein paar flüchtige Tränen des angeblichen Kummers vergossen. Der hinterhältige Bursche hatte ihr davon abgeraten, mich zum Zug zu begleiten. Frauen in dem Alter verlieren ihren gesamten Verstand, wenn man ihnen nur ein wenig schmeichelt. Ich hatte leider das Gefühl, dass sie sich in Wirklichkeit sogar heimlich freute, mit ihrem Galan nun ganz allein in der Villa zu sein. Mir wurde ganz übel bei dem Gedanken, was er so mit ihr dort trieb und ich fühlte mich verraten.

„Dein Sohn muss für sich Verantwortung übernehmen und sich durchkämpfen. Das ist Teil der Therapie!“, erklärte der hinterhältige Gnom verlogen.

„Die Probleme des realen Lebens kühlen seine Säfte und machen den Kopf für andere Dinge frei! Das ist die einzige Hoffnung für ihn.“ Er bekreuzigte sich sogar zum Schein, als wäre er ein guter Christ und hoffte tatsächlich auf das Beste.

Während er mich theatralisch vor meiner Mutter äußerlich wie seinen eigenen Sohn umarmte, zischte sein übel riechender Mund mir eine Drohung ins Ohr: „Wenn du jemals wiederkommst, stecke ich dich Drecksack in die Irrenanstalt!“

Diese Dreistigkeit sprengte alle Grenzen, selbst der Teufel wäre netter gewesen. Zugleich hielt er meinen Kopf fest eingeklemmt, sodass ich ihn nicht zurückziehen konnte. Sein Zinken fixierte wie eine Zangenhälfte meinen Schädel an dem Platz.

Da ich mich durch den unerbittlichen Griff nicht anders revanchieren konnte, ließ ich während der Umarmung einen großen Fladen Rotz in den Kragen seines Hemdes flutschen und schwor innerlich bittere Rache.

Mama lächelte freudig, da sie uns als neue Freunde träumte und seine falschen Worte nicht gehört hatte. Warum glaubte meine Mutter diesem Scharlatan mehr als mir?

Wie gern hätte ich mich wenigstens von Grace verabschiedet. Ich fühlte mich so unendlich allein. Daran konnte auch mein guter alter vertrauter Kammerdiener nichts ändern.

Unser treuer Hausdiener, mein letzter wahrer Freund, begleitete mich zum Bahnhof.

„Das wird schon Percy!“, murmelte er immer wieder. Seine ergrauten Koteletten wurden vom frischen Wind hin und her geblasen. Er hatte einen braunen Wollmantel über seine Uniform geworfen und trug meinen Kleidersack. Den Koffer hatte ich zurücklassen müssen, da der Doktor diesen kurz vor der Abreise durchschnüffelt und meine Ordner mit zahlreichen Berechnungen darin gefunden hatte. Das Teufelszeug hatte er mir verboten, es bekäme angeblich meiner Gesundheit nicht gut. Mein eidetisches Gedächtnis machte jedoch den Verlust nicht so bedeutsam. Alles war dort abgespeichert. Es würde nur einige Mühen kosten, die Formeln erneut aufzuschreiben.

Die sinnlose Reise begann für mich am Hauptbahnhof. Rauchend und schnaufend stand das eiserne Ungetüm bereit. Die Heizer schaufelten eifrig Kohle in die geöffnete Luke. Fröhlich bestiegen immer neue Gäste die Wagen des bandwurmlangen Gefährts, als würde man sie zu einem Tanzball bringen. Das Gegenteil war natürlich der Fall. Die neue Eisenbahnlinie führte bis in die Tiefen der Black Hills Man hatte sie erst kürzlich fertig gestellt.

„Percy!“, hörte ich jemand rufen.

Ich zuckte verblüfft zusammen.

Wow! Welch liebe Stimme ertönte da?

Grace erwartete mich und winkte mir aufgeregt zu. Ich hatte sie seit ihrem wütenden Abgang ja nicht mehr gesehen. Es freute mich in diesem Augenblick unheimlich, dass sie gekommen war.

„Ach, Percy!“ Sie umarmte mich traurig. Ich ließ es dankbar zu. Irgendwie gehörte sie zu meinem Leben. Da meine gewohnte Welt unter meinen Füßen wegbrach, empfand ich sie geradezu als einen Pol der Beständigkeit.

Mein Diener stellte sich dezent etwas abseits hin und tat, als sähe er sich interessiert den Zug an.

Sie sah so schön aus. Warum nur hatte mein Herz nicht für sie ausreichend Feuer gefangen?

„Ich kann dich nicht vergessen und musste immer an dich denken!“, gestand sie ehrlich und voller Unschuld. Ihre Wangen glühten vor Aufregung. Das machte sie noch schöner.

„Das tut mir alles so leid, Grace!“, stammelten meine Lippen. Ich mochte sie wirklich. Es war vielleicht sogar mehr als das. „Du hast einen Besseren verdient!“, murmelte ich.

„Sag bitte so etwas nicht!“, wandte sie ein und hielt ihren schönen, mit viel Gold beringten Finger auf meinen Mund.

„Soll ich dich auf der Reise begleiten?“

Erstaunt sah ich sie an. Fühlte sie so viel für mich, dass sie mir sogar in die Verbannung folgen wollte?

„Die Black Hills sind ein unmoderner und gruseliger Ort. Vor kurzem haben da noch ausschließlich Indianer gewohnt. Er würde dir nicht zusagen!“, klärte ich sie auf. Ein wenig gefiel mir jedoch der Gedanke.

„Mir gefällt es überall, wo du bist“, erklärte sie tapfer und fast bockig wie ein kleines Mädchen.

Ihre blauen Augen himmelten mich an. Meine Abweisung hatte ihre Gefühle anscheinend noch mehr entfacht. Das was man nicht oder nur sehr schwer bekommt, begehrt man besonders. Sie war geradezu in mich vernarrt.

„Deine Güte macht mich verlegen, ich schäme mich so!“, erwiderte ich ausweichend. Ich durfte sie nicht ausnutzen, nur weil es mir in diesem Moment gut tat. Das tat man nicht mit seinen Freunden.

Sie wirkte in ihrer unsinnigen Verliebtheit besonders reizvoll. Mir wurde warm und ich spürte sogar das pulsierende Herz. Was war mit mir los?

„Ich muss jetzt einsteigen!“, verabschiedete ich mich und wollte ihr aus Dankbarkeit und zum Trost einen freundschaftlichen Abschiedskuss auf die Wange geben. Doch sie dachte, ich suchte ihre Lippen und bot mir diese so schnell dar, dass ich in meiner Bewegung nicht innehalten konnte. Unsere Lippen trafen sich.

Jeder auf andere Weise verblüfft, küssten wir uns das erste Mal. Es fühlte sich erstaunlich gut an.

Ganz sacht spürte ich ihre warme Zunge. Sie schmeckte nach süßem Kandis, den sie wohl vorher gelutscht hatte. Ihr Parfüm war aufregend, leicht sowie schwer zugleich und atemraubend blumig. Ja, mein Herz setzte sogar einen Schlag aus, um dann noch wilder zu pochen. Ich fühlte mich verunsichert.

Grace erschien mir schöner denn je. Ich glaubte sogar etwas ganz Besonderes an ihr zu entdecken. Sie liebte mich wirklich und auch bei mir schienen sich auf wunderliche Weise unkontrollierbar merkwürdige Gefühle zu entwickeln.

Die Leute schüttelten den Kopf.

„Wie unanständig!“, beschwerte sich eine vorbeigehende Frau. „Könnt ihr das nicht zu Hause machen?“

Zärtlichkeiten in der Öffentlichkeit galten in der neuen Welt noch immer als anstößig.

„Hast du einen Cent dabei?“, fragte meine treue Freundin sich sanft von mir lösend leise.

Ich kramte in der Tasche, fand jedoch keinen.

„Nimm den, ich schenke ihn dir!“

Sie bot mir das kleine Geldstück auf der flachen Hand dar.

„Wozu?“

„Kennst du den alten Brauch nicht?“

Ich schüttelte den Kopf.

Grace erklärte: „Du musst die Münze in eine Ritze im Mauerwerk stecken. Es heißt, dass ein Reisender dann mit Sicherheit wieder an diesen Ort zurückkommt“

Sie lachte glucksend: „Welcher Amerikaner lässt schon Geld zurück? Wenn es dann immer noch am gleichen Platz ist, bringt das doppeltes Glück.“

Unser Leben war mit derartigen Sprüchen voller Aberglauben gefüllt. Da die Holde mir aber in diesem Moment so liebreizend, so treu, ja geradezu wundervoll erschien und ich zudem einsam war, nahm ich das Geschenk an.

Ich fand auch einen Spalt in einem Pfeiler und schob das schmale Stück hinein. Es versank nur halb. Deshalb musste eine andere Stelle her. Auf der Rückseite war zum Glück ein breiterer Riss. Man musste sich jedoch bücken. Dort hinein drückte ich nun das metallene Plättchen. Der Cent versank fast komplett. Nur ein minimales Stück des dünnen Randes lugte noch heraus, wenn man genau hinsah.

„Möge es so sein!“, fügte ich bedeutungsvoll hinzu.

Grace umarmte mich erneut dankbar.

„Ich liebe dich Percy“, flüsterte sie mir dabei zärtlich ins Ohr und biss leicht in mein Ohrläppchen. „Aus ganzem Herzen!“

Da ich nicht wusste, was ich antworten sollte, sie aber keinesfalls kränken wollte, zudem von Schamgefühlen geplagt war, brabbelte ich so etwas wie: „Schön, schön, …meine Gute …äh Liebe…“

Ihr erschien das aber vorerst als ausreichend.

„Ich werde auf dich warten Liebster!“, rief die Zurückgelassene mit inbrünstiger Stimme und warf mir sogar noch eine Kusshand nach. „Vielleicht komme ich dich auch besuchen, wenn das Warten zu lang ist.“

Wortlos drückte ich sie voller Inbrunst. Mein Herz zog sich voller Schmerz zusammen. Jeder Abschied ist ein bisschen wie Sterben.

Grace, die nun wahrscheinlich der Meinung war, dass ich sie ebenfalls liebte, blieb mit ihm auf dem Bahnsteig zurück. Ich stieg wortlos ein. Vielleicht liebte ich sie doch? Wo war denn die Grenze zwischen Zuneigung, Freundschaft und der richtigen Liebe?

Mein Diener und sie winkten mir zum Abschied. Ich ließ die beiden schweren Herzens zurück.

Nach kurzer Zeit bereute ich dann auch schon wieder den zärtlichen Kuss etwas. Er war genau betrachtet doch ein Verrat an meiner wahren Liebe. Was hatte ich nur getan?

Andererseits empfand ich anscheinend wirklich gewisse Gefühle für die hübsche vollbusige Grace. Der Kuss hatte mir ebenfalls gefallen. Es rührte mich auch, dass sie sich so herzlich von mir verabschiedete und auch noch ihren Stolz überwunden hatte. Wie einsam war ich ohne sie? Meine Lippen spürten noch immer die ihren und ein Rest des Parfümduftes lag zart auf meiner Kleidung.

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