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Ein Brief von Grace

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Erst als die Dunkelheit einbrach, kehrte ich zurück. Die Nascherei hatte mich unterwegs gestärkt. Die Wölfe hatten mich glücklicherweise verschont. Ihr fortwährendes Geheul hinterließ schon einen Eindruck bei mir und ich war nur froh, wieder gesund und munter hier zu sein. Die kauenden Rinder sahen mich neugierig an. Sie hatten an einigen Stellen den Schnee weggeschabt, um leichter an das köstliche Gras zu gelangen. Ihre Schnauzen dampften. Wie hielten sie es nur so lange draußen aus. Sie waren offenbar abgehärtet und suchten den halboffenen Stall nur bei größter Not auf.

„Da ist Post ist für dich angekommen!“, begrüßte mich mein Gastgeber beim Eintreten. Er saß am Feuer und hielt die Depesche interessiert ins Licht. Es war erstaunlich, dass der Postservice in dieser Einöde funktionierte.

Urgroßvater ahnte meine Frage.

„Eine Nachbarin hat ihn mitgebracht. Das gute Stück ist übrigens von einer Frau!“ Neugierig beobachtete er meine Reaktion und grinste über das ganze Gesicht.

„Jammerst du wegen ihr so viel im Traum herum? Hast du vielleicht Liebeskummer?“, fragte er spöttisch nach. Seine Augen musterten mich dabei flink. Wie konnte dieser Mann nur über hundert Jahre alt sein? Welches Geheimnis verbarg er?

Seit wann hatten wir Nachbarn? Mir waren keine bekannt. Das wollte ich später klären.

Ich stellte den gefüllten Sack auf den Boden und nahm die Sendung äußerlich scheinbar gleichgültig aus seiner Hand entgegen. Urgroßvater machte sich zwischenzeitlich daran, meinen Einkauf zu begutachten.

„Mhm, ob das schmeckt?“, nuschelte er die verschiedenen Lebensmittel auspackend und von allen Seiten begutachtend.

„Es ist anders, als du denkst!“, erwiderte ich etwas verspätet. Was sollte ich ihm auch erklären?

„Na klar doch!“, spottete er. „Mir machst du nichts vor. Auf diesem Gebiet bin ich Spezialist!“, gab er etwas an.

Das Schreiben roch ein wenig nach edlem Parfüm. Ein Stück meines früheren Lebens duftete mir entgegen. Die treue Grace hatte mir geschrieben. Sie hatte mich nicht vergessen. Froh darüber riss ich den Umschlag ungeduldig auf und las:

„Hallo Percy,

ich hoffe du bist gut angekommen und hast dich inzwischen auch etwas eingelebt. Einfach ist es als Großstädter sicher nicht dort. Wie ist dein Urgroßvater so? Er muss doch sehr alt und gebrechlich sein. Den Tag, an dem ich dich zum Bahnhof gebracht habe, kann ich nicht vergessen. Der Moment als sich unsere Lippen berührten, ist für immer tief in meine Erinnerung gemeißelt. Ich frage mich immer wieder, was bedeutete der Kuss? Liebst du mich vielleicht auch so, wie ich dich? In mir ist wieder Hoffnung. Ja, ich spreche es aus, mein Herz gehört dir allein und ich vermisse dich so sehr. Leider kann man dem Leben nur bedingt seinen Willen aufzwingen. Deswegen kann ich dir im Moment nur schreiben und nicht erneut deine Lippen fühlen. Genug, mir wird ganz heiß…

Jetzt komme ich zu den traurigen Nachrichten. Deine Mutter hat, nachdem du fort warst, Hals über Kopf diesen Arzt geheiratet. Keiner versteht das. Wusstest Du von diesem Plan?

Seitdem leidet sie merkwürdigerweise an einer seltsamen Krankheit und wird von Tag zu Tag schwächer und schwächer. Die viele Medizin, die ihr neuer Ehemann verschreibt, hilft offensichtlich nicht. Es ist unmöglich geworden, mit ihr selbst zu sprechen. Dein Stiefvater schirmt sie regelrecht vom Rest der Welt und natürlich auch von mir ab. Ich weiß aus verlässlicher Quelle, dass er vom Gericht im Eilverfahren nun sogar zu deinem Vormund bestimmt wurde. Deine Mutter hat dem angeblich zugestimmt, da sie einen baldigen Tod fürchtet. Er will dich für unzurechnungsfähig erklären lassen. Als Beweis dienen ihm deine Berechnungen. Nur ein Wahnsinniger könnte doch auf die Idee kommen, eine Braut mit Hilfe der Mathematik zu errechnen. Es fehlt nur noch deine persönliche Begutachtung. Stimmt das Gericht seinem Antrag zu, bekommt er die Verwaltung über dein Vermögen übertragen und man würde dich hier in eine Anstalt einweisen. Der Kerl ist durchtrieben und gefährlich. Ich habe große Angst. Komm keinesfalls nach New York zurück. Bleib bei deinem Urgroßvater oder versteck dich irgendwo bis du volljährig bist. Vielleicht sollten wir zusammen ins Ausland fliehen und von dort aus um deinen Besitz kämpfen. Viele verlassen ja das Land, da die Unruhen zunehmen. Du kannst immer auf mich zählen. Deine Grace“

Erschüttert ließ ich das Papier fallen. Mir wurde schwindelig, die Beine drohten wegzubrechen. Zugleich überkam mich unbändiger Zorn. Das Leben meiner Mutter und meine Freiheit waren in Gefahr. Was konnte ich nur tun? In diesem Moment fühlte ich mich hilflos und schwach. Der Boden meiner alten Welt brach einfach unter mir weg. Nur gut, dass ich noch Grace hatte. Ja, sie bedeutete mir vielleicht viel mehr als ich mir zugestand. Lebhaft stand mir ihr Bild vor Augen. War sie nicht wunderschön?

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