Читать книгу Completely - Gesamtausgabe - Mej Dark - Страница 8
Das kann doch nicht wahr sein
ОглавлениеIch hatte das Gefühl kurz vor dem endgültigen Durchbruch zu stehen. Mein Herz pochte in Vorfreude bereits wild gegen die Brust.
Das erste Zwischenergebnis lautete: Es gab sie mit fünfundneunzigprozentiger Sicherheit irgendwo. Das zweite: Sie wäre mit sechsundachtzigprozentiger Wahrscheinlichkeit zwischen zwölf und neunundneunzig Jahren alt. Was für ein Resultat!
Dieses mit langer Formel errechnete Wissen erschien mir in diesem Moment einzigartig. Ein fiebriger Sinnenrausch erfasste mich wie ein reißender Strom. Oh, wie gern hätte ich meine Vollkommene schon jetzt in meine Arme genommen und ihr Gesicht mit wilden Küssen bedeckt. Wie sah sie nur aus? Aus welchem Land stammte sie? War sie überhaupt ein Mensch? Sie war schon jetzt meine Göttin. Es wurde Zeit, eine Flasche Champagner zu köpfen.
„Oh Liebste“, hauchten meine Lippen zärtlich voller Inbrunst. Nur ein Liebender kann nachempfinden was ich gerade fühlte.
Ein unscharfes Bild füllte meine Gedanken und nahm Gestalt an. Das musste sie sein!
„Grace?“, murmelte ich verblüfft. Ich sah sie ganz deutlich.
Das konnte nicht sein. Meine überschießende Fantasie hatte sich da etwas zusammengewischt und das Trugbild zu Grace geformt. Wütend schmiss ich den Federhalter aus der Hand. Unglücklicherweise landete er direkt auf auf meiner Berechnung und hinterließ einen dicken blauen Klecks, der das erhabene Ergebnis verdreckte.
Sollte das etwas bedeuten?
Ungewöhnliche Laute drangen aus dem Schlafzimmer meiner Mutter und störten den aufgewühlten Fluss meiner Gedanken und Gefühle. Was ging dort unten nur vor? Neugier erfasste mich. Also schlich ich auf leisen Sohlen durch den altehrwürdigen Treppensaal und den langen Flur zum Gemach entlang. Dicke Teppiche dämpften die Schritte, jedoch knarrte ab und an eine der hölzernen Dielen, die darunter lagen.
Durch den leicht geöffneten Türspalt des Schlafzimmers sah ich, wie ein merkwürdiges dürres Männchen, das ein Monokel an der riesigen roten Nase festgeklemmt hatte, mit knochigen Händen meine halb nackte Mutter untersuchte. Ihre prallen Brüste waren vollkommen bloß.
Es handelte sich bei dem Wicht offenbar um den neuen Arzt, von dem sie mir bereits vor einigen Tagen etwas vorgeschwärmt hatte. Angeblich war die Gesellschaft, besser gesagt ihre geschwätzige Bekanntschaft, von dem Medikus aus Europa begeistert. Er sollte sogar mit der Kunst der Hypnose heilen. Der Kerl mit der roten Nase wollte offenbar in besseren Kreisen Fuß fassen und ließ sich unter den Frauen fleißig weiterempfehlen.
Der Mediziner sah im Leben viel hässlicher aus, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Vollkommen ungeniert griff er meiner Mutter an ihr volles Mieder.
„Oh, wie straff Ihre Kugeln noch sind, wie wunderbar die helle Haut duftet!“, verkündete der Dreiste und schnüffelte mit seinem überdimensionalen Zinken genüsslich an ihrem Hals. Seine flinken Hände machten sich daran, ruchlos weitere körperliche Gefilde meiner geliebten Mama zu erkunden. Zorn und Abscheu erfassten mich zugleich. Hätte ich nur einen Stock dabei gehabt. Instinktiv verabscheute ich den Kerl. Mir gefiel das, was der Gnom dort tat, gar nicht. Er war mir zutiefst unsympathisch.
„Sie scherzen!“, gluckste diese wie ein Täubchen bei der Balz. „Seit dem Verschwinden meines Mannes bin ich so einsam, dass ich glatt verwelke!“
„Meine Ärmste, die Blume muss unbedingt begossen werden, damit sie in jugendlicher Frische erblüht. Beugen Sie mal den Oberkörper über das Bett!“, wies der Arzt sie an und schob ihren Rock erfahren hoch.
Empört wollte ich mich beinahe bemerkbar machen und diesen unsittlichen Vorgang unterbrechen. Waren das überhaupt medizinische Untersuchungen? Das sah mehr so aus, als ob er die willige Patientin verführte.
Doch der lieben Mama gefielen die obszönen Griffe und Komplimente. Sie kicherte lustvoll bei jeder Berührung des dürren Nasenbären. So kokett hatte ich sie noch nie erlebt. Hatte der Kerl sie vielleicht schon hypnotisiert, um sie willig zu machen?
Um vollkommen ungestört weitere Orte untersuchen zu können, stand der Unverschämte auf und eilte zur Doppeltür. Sicher wollte er die angelehnten Holzflügel ganz schließen, um sein anzügliches Tun vor anderen zu verbergen.
Unruhig atmend versteckte ich mich instinktiv hinter einem weißen Pfeiler, der neben der Tür emporragte. Ich wollte keinesfalls als Spanner ertappt werden und hatte auch keinerlei vorzeigbaren Beweis für meinen Verdacht. Mein Davonhuschen blieb nicht unbemerkt. Sein vergrößertes Auge, das hinter dem Monokel riesig wirkte, funkelte neugierig den Flur ab.
„Mir war, als hätte ich jemanden gehört“, murmelte er gnomenhaft.
„Keine Sorge, das war bestimmt nur ein Mäuschen“, beruhigte ihn seine willige Patientin. „Wir haben leider Gottes viel zu viele davon. Lassen Sie uns rasch die Untersuchung fortsetzen!“
Meine Mama ermunterte diese verabscheuungswürdige Riesennase sogar noch. Konnte man das fassen?
„Ich bringe das nächste Mal etwas Arsen mit, da verrecken die Viecher schnell!“ Aus dem Mund des Arztes klangen die Worte äußerst bösartig und herzlos. Rasch wechselte der widerliche Kerl von seinen Mordgedanken zu erwartungsvoller Vorfreude, schloss den Türflügel und kicherte schrill wie ein Transvestit.
Das Weitere wollte ich gar nicht hören oder anderswie mitbekommen. Mir wurde schon bei dem Gedanken an dieses unschickliche Tun übel. Als Sohn sieht man die eigene Mutter nicht gerne nackt und ganz besonders nicht mit einem fremden, boshaften Mann zusammen. Die Vorstellungen, welche in mir zu den beiden aufstiegen, waren geradezu gruselig. Angewidert wandte ich mich kopfschüttelnd ab. Das unzüchtige Beisammensein der beiden erinnerte mich noch deutlicher daran, wie allein ich nach dem Tod meines Vaters eigentlich in der Welt war. Nur eine bestimmte Person konnte mir die Einsamkeit nehmen. Wie gut, dass ich verliebt war. Ein Seufzer entrang sich mir. Schmerzen der Liebe krampften mein junges Herz zusammen.
Komischerweise dachte ich plötzlich wieder an Grace. Vielleicht sollte ich mich bei ihr entschuldigen? Sie war klug, sah gut aus und hatte das Herz am rechten Fleck. Nein, ich durfte keinen Kompromiss machen. Das wäre ein Verrat, ja ein Betrug an der wahren Liebe.