Читать книгу Completely - Gesamtausgabe - Mej Dark - Страница 18
Große Gefahr
ОглавлениеSeit dem Brief von Grace machte ich mir vielerlei Sorgen. Ich konnte einerseits nicht nach Manhattan zurück, andererseits wollte ich meine Mama und mein Vermögen nicht kampflos dem hinterhältigen Arzt überlassen. Was sollte ich nur tun? Half es, wenn ich Grace schrieb? Doch auch hierbei zögerte ich, da ich mir über meine wirklichen Gefühle nicht klar war.
Um mich abzulenken, suchte ich sogar die Trance. So konnte man die Sorgen der Welt hinter sich lassen und in eine neue bessere eintauchen. Mein schamanischer Lehrer hatte mir zudem bewiesen, dass man anderen auf diese Weise seinen Willen aufzwingen konnte. Wie ein Bär hatte ich getanzt, ohne es selbst zu wollen. Es gab mehr zu entdecken, als ich ursprünglich mit meinem wissenschaftlichen Verstand vermutet hatte.
Dies war im Augenblick vielleicht der einzige Weg, es dem hinterhältigen Medikus mit Zins und Zinseszins heimzuzahlen. Ich würde ihn hypnotisieren und dazu bringen, meine Mutter zu verlassen. Ich malte mir allerlei aus. Der Kerl sollte glauben, er wäre ein großer Maler und dabei nur Gemälde von Kreisen, Kegeln und Quadraten zeichnen. Sollte die ganze Welt über ihn lachen und ihn für verrückt halten. Die Großnase hatte es verdient. Nach meinem eigenen Bärenwalzer erschien mir dieser Plan realistisch.
„Du besitzt sogar etwas Talent!“, lobte Urgroßvater mich, der mein verändertes Treiben beobachtete.
„Etwas nur?“
„Du bist nicht schlecht! Weiter so, dann wirst du vielleicht tatsächlich eines Tages auch ein Schamane!“ Mein Lehrer schnappte sich eine Rassel. Sie bestand aus großen Muscheln, die mit kleinen Steinen gefüllt waren. Wie aus dem Nichts umhüllte Meeresrauschen mich. Er verstand sein Handwerk.
Im Nu war ich tief in mein Innerstes versunken und der Hüttenrealität entrückt. Eine faszinierende, seltsame Welt tauchte vor meinem inneren Auge auf …
Darin ging erneut diese schwarzhaarige junge Hexe, welche ich schon in einer früheren Trance gesehen hatte, mit einem Jungen an einem Fluss entlang. Ich wusste das ich träumte und war doch inmitten des Geschehens. Der Zustand war eigenwillig, somnambul und befreiend zugleich. Dieses Mädchen trug eine Tätowierung auf der Schulter und merkwürdigen Schmuck im Ohr. Seltsame Fahrzeuge, die aus der Zukunft stammen mussten, fuhren durch eine wiederum alte Stadt. Das Bild wurde überblendet. Nun saßen die beiden bärtigen Zwillinge, die ich im Dorf getroffen hatte, an einem Lagerfeuer und tranken mit der jungen Hexe, ihrer Freundin und … mit mir? Ja, ich sah alles durch die Augen dieses Jungen. Das konnte doch nicht ich sein!? Die Handlung wirkte so lebendig echt. Die junge Hexe ähnelte zudem einer Person, welche ich irgendwoher kannte. Ihre Konturen waren so scharf und genau wie noch nie zuvor. Plötzlich saß auch Ravenhort dort. War diese hübsche Hexe vielleicht sogar die Allervollkommenste, die ich suchte? Sie drohte im Nebel meiner Eingebung zu verschwinden. Meine Liebste, meine Teuerste bleib! Doch sie ging traurig weiter, entfernte sich immer weiter und ließ sich nicht aufhalten. Zwei wilde Wölfe tauchten die Zähne fletschend auf und suchten nach ihr. Es waren Lykaner. Auch der Ort war mir bekannt. Es war der Wald hier. Ich starrte ihnen verblüfft nach.
Unvermittelt stach mir nun ein Messer voller stählernem Schmerz in mein Herz. Das hübsche kleine Mädchen aus dem Dorf hatte es in der Hand und weinte. Vor Schreck darüber entglitt die Transzendenz und mein Geist kehrte in die Gegenwart zurück.
Ich war verwirrt und schaute ungläubig meine Umgebung an. Schweiß lief meinen Rücken hinunter. Urgroßvater lachte und klopfte mir auf die Schulter.
„Nicht schlecht, du bist diesmal richtig weit gegangen!“
„Habe ich in die Zukunft gesehen?“ Noch etwas verwirrt von den Eindrücken musterte ich seine fast jugendliche Gestalt. Er wirkte heute noch jünger als sonst.
Er gab sich mit der Antwort Mühe, weil er in mir etwas sah. „Vielleicht. Nimm alles einfach nicht so ernst. Es waren immer deine eigenen Vorstellungen. Dein Unterbewusstsein spricht zu dir. Es hat seine eigene Wahrheit. Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft existieren nur in unserer gewöhnlichen Vorstellung. Sie sind letztlich nur eine Illusion.“
War die Allervollkommenste eventuell doch nicht mit der Wissenschaft, sondern durch Trance zu finden? Das gefiel mir nicht wirklich. Wer trennte sich schon gern von seinen Theorien? Offenbar war die Gesuchte nur ein ganz gewöhnlicher Mensch, einfach ein hübsches junges Mädchen. Das erschien mir bitter und zu simpel.
Mein Lehrer setzte seine gehörnte Schamanenmaske auf. Seine kurze Belehrung war beendet. Ich kannte das schon. Eifrig schlug sein Klöppel auf die Trommel, mystischer Gesang bedröhnte die Hütte, das Feuer flackerte. Er wollte selbst die andere Seite besuchen.
Plötzlich gewahrte ich eine Bewegung am Eingang unserer Behausung. Urgroßvaters Augen rollten hinter der Maske herunter, als stiege er vom Götterreich zur Erde hinab. Für einen Moment sah er ebenfalls zur Störung. Nachdem er keine irdische Gefahr witterte, sang er einfach weiter. Ein Viertel seines Bewusstseins weilte in dieser Welt, drei Viertel in der transzendenten.
Ein brauner struppiger Pelz drängte sich durch den schäbigen Fellvorhang. Erstaunt stellte ich fest, dass er zu dem Mädchen gehörte, welchem ich vor einigen Tagen im Dorf begegnet war – oder besser: Vor dem ich mich etwas blamiert hatte. Mit ihren großen dunklen Murmelaugen schaute sie leicht errötend zu mir. Es erstaunte sie natürlich nicht, mich hier zu sehen, da sie davon ja wusste.
Umgekehrt war ich es jedoch. Sie hatte bei genauer Betrachtung auch äußerliche Gemeinsamkeiten mit der Hexe aus der Trance. Beide ähnelten sich wie Schwestern. Hatten die beiden Grobiane aus dem Dorf sie nicht ebenfalls als Hexe beschimpft? Mein Rücken fühlte sich heiß an und begann erneut zu schwitzen, als hätte ich die Pforte der Hölle hinter mir. Was bedeutete das alles? Einen klugen Reim vermochte ich mir darauf nicht zu machen. Aber irgendwie waren die Dinge auf mysteriöse fast mystische Art verbunden. Das fühlte ich.
Die Eintretende verbeugte sich in alter Sitte tief vor dem meditierenden Schamanen. Ein wenig schämte ich mich, da dieser vollkommen nackt saß. Sein unansehnlich langes Genital ringelte sich auch noch im Rhythmus seiner Melodie vor ihm auf dem Boden wie ein Aal. Das ging gar nicht und war nur peinlich. Am liebsten hätte ich ein Fell darüber geworfen.
Zum Glück beachtete die Besucherin das dortige Eigenleben nicht. Der Anblick war ihr offensichtlich nicht neu. Sie schlug die Kappe zurück. Ihre langen schwarzen Haare, die sie heute zu mehreren kleinen Zöpfen geflochten hatte, quollen hervor. Bunte Holzperlen und perlmuttfarbige Muscheln waren kunstvoll in diese Pracht eingeflochten. Ihre Wangen und Lippen hatte sie heute besonders auffällig geschminkt, dadurch wirkte sie einige Monate älter als bei unserem letzten Zusammentreffen. Sie lächelte mir geradezu liebevoll zu. Das machte mich sogar nervös und meine Ohren begannen zu glühen. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass auch ich nur ein Tuch um die Lenden trug. Meine Garderobe lag wild im Raum. Ich suchte sie zusammen und zog mich an. Die Kleine beobachtete mich dabei. Zum Glück brauchte ich mich meiner Figur nicht zu schämen, da ich sportlich durchtrainiert war.
„Gaya, was willst du hier?“, fragte ich die Eingetretene leise, da mein Urgroßvater, der Schamane, sich noch immer in höheren Sphären vergnügte. Ich wollte ihn nicht stören.
„Du hast dir also meinen Namen gemerkt!“ Sie wirkte sehr zufrieden und erleichtert.
„Was schon? Dich wiedersehen!“, erwiderte die Bezopfte schalkhaft. Ihre Finger spielten nervös miteinander und verbogen sich zu einem Knäuel. Offenbar entwickelte das Dorfmädchen tatsächlich romantische Gefühle für mich – oder liebte sie in erster Linie meine Großstadt? Gebrauchen konnte ich das nicht, auch wenn es meiner Eitelkeit insgeheim schmeichelte. Das blutjunge Ding war doch noch viel zu grün. Zudem gehörte mein Herz längst einer anderen. Vielleicht fehlte ihr der Vater und sie suchte einen Ersatz.
Sie kicherte etwas kindisch. Da mir nicht klar war, ob sie über mich lachte, stieg etwas Unbehagen auf und ich druckste nur herum. Endlich hatte sie Mitleid und löste sie die Situation auf: „Ich soll für meine Tante neue Medizin holen“, erklärte sie.
Da wir beide irgendwie nicht wussten, was wir uns sonst noch sagen sollten, blickten wir fortan stumm wie Stockfische auf das Züngeln des Feuers und warteten darauf, dass mein Urgroßvater endlich aus seiner Trance zurückkehrte. Zwischendurch lächelte die süße Besucherin mich immer wieder von der Seite an. Es sollte anscheinend kokett wirken, war mir jedoch ein wenig peinlich. Wer war ich für sie und sie für mich? Ich liebte doch die Allervollkommenste, mochte zudem Grace und nun war dieses Kind da, welches mich offensichtlich anhimmelte, als hätte sie tatsächlich der Ring verhext. Hübsch war sie ja, doch viel zu jung für mich.
Nur die knisternde Feuerstelle unterbrach die lastvolle Stille. Nach einigen Minuten, beendete der Hausherr endlich die spirituellen Reise. Seine hochgerollten Augen wanderten langsam nach unten. Anstelle des Weiß waren nun seine Augäpfel in den schmalen Schlitzen der gehörnten Maske zu sehen.
„Die Tante schickt mich“, erklärte das Mädchen noch einmal ihr Kommen. „Es geht ihr inzwischen besser, trotzdem benötigt sie weitere Medizin.“ Sie zeigte einen dicken Stapel mit Geldscheinen. Der Hausherr nahm diese.
„Für wen hast du dich so herausgeputzt, Gaya?“, erkundigte mein Urgroßvater sich. „Ich habe dich noch nie so bunt gesehen. Du siehst fast wie eine Braut aus.“ Dabei zählte er bereits die Scheine.
Ihre Obsidianaugen sahen mich bedeutungsvoll an. Sehnsucht schimmerte in diesen. Jetzt wurde ich puterrot und rutschte nervös auf dem Hocker hin und her.
„Dafür bin ich leider noch zu jung“, hauchte sie äußerlich bescheiden und spielte mit den Fingern nervös am dicken Stoff des Rockes.
Gelassen zählte Uropa die Scheine ein zweites Mal. Sein Schnaufen wirkte unzufrieden. Er verstand es offenbar, seine speziellen Kenntnisse in gute Münze zu verwandeln.
„Das reicht nicht!“, stellte er am Ende bestimmt fest.
Das Mädchen sah traurig drein und ließ viele Tränen aus seinen großen Augen kullern. Dabei schloss es diese nicht einmal. Sie rannen einfach so – wie zwei kleine Flüsschen – an den Seiten herunter. Mein Herz zog sich vor Mitleid und Scham zusammen.
Plötzlich ergriff sie meine Hand, drückte diese und hoffte wohl, auf diese Weise Unterstützung zu bekommen. Dabei landete irgendein kleiner Gegenstand in meiner Hand. Er musste aus Papier sein. War das ein verknülltes Zettelchen mit einer Botschaft?
Ich erstarrte. Was hatte das zu bedeuten? Vor dem Urgroßvater traute ich mich jedoch nicht, die Nachricht zu lesen. So saß ich versteinert da und hielt ihre Hand auch noch in der meinen. Uropa bemerkte das, runzelte erstaunt die Stirn, sagte jedoch nichts.
„Die arme Tante hat mir alles gegeben, was sie besitzt!“, schluchzte die Kleine. „Soll sie sterben, nur weil sie nicht mehr Geld hat?“ Sie weinte bitterlich.
Ich war vollkommen gerührt. Die Kleine und die Tante taten mir unendlich leid. Tröstend drückte ich ihre Hand. Sie lächelte mir kurz dankbar zu. Wie konnte man bei diesen Tränen so herzlos sein?
Das trauernde Mädchen erhob sich und ging mit hängenden Schultern hinaus. Sie trippelte ganz langsam, als wartete sie darauf, zurückgerufen zu werden. Doch keiner hielt sie auf.
Ich war über die Gier meines Lehrers schockiert.
„Du musst ihr doch helfen! Ich bezahle den Rest!“, erklärte ich ehrenhaft.
Mein Eifer erstaunte den Hartherzigen. Er schüttelte den Kopf mit der Maske, ließ sich nicht von mir beirren und nahm seinen Gesang wieder auf. Das Geld verstaute er schon einmal im Kästchen.
Ich schämte mich für ihn. Schließlich waren wir verwandt, zählten zur gleichen Familie. Es gehörte sich moralisch nicht, einen kranken Menschen im Stich zu lassen.
Verstohlen versuchte ich den zerknitterten Zettel zu entwirren.
Doch wieder bewegten sich die Felle am Eingang. Mein Vorhaben wurde dadurch unterbrochen.
Das junge Mädchen trat erneut ein. Die Tränen hatten ihre dicke Schminke etwas verrinnen lassen. Das machte sie aber nicht hässlicher. Wäre ich ein Maler, hätte ich diesen rührenden Anblick gern verewigt.
Komischerweise wirkte die Kleine nun jedoch gar nicht mehr traurig. Der Gesichtsausdruck erschien wie ausgewechselt. Hatte Gaya uns das alles nur vorgespielt?
„Ich habe noch etwas mitgebracht“, verkündete sie. „Es ist viel mehr wert als das fehlende Geld!“
Uropa schlug einmal besonders lauf auf die Trommel und blickte sie spöttisch an. „Geld ist in der heutigen Zeit nicht zu verachten. Alles wird immer teuerer!“
„Was ist mehr wert, hundert Dollar oder das Leben eines Schamanen?“, stellte sie dagegen. Die Frage wirkte ein wenig naiv, erzielte aber Wirkung. Die Trommel erstarb.
„Erzähl!“, forderte der Nackte sie sichtlich betroffen auf. Sie hatte seine ganze Aufmerksamkeit.
„Jemand plant deinen Tod!“, packte die Erzählerin zufrieden aus. Natürlich war dies nur ein winziger Happen ihres kostbaren Wissens. Sie kannte den Preis genau und wollte nicht zu viel verraten.
„Wer?“, schoss es aus dem Mund des Bedrohten.
„Erst die Medizin!“
Das gefiel dem Erpressten zwar nicht, aber er erhob sich von seinem Platz, schob die Kiste vor dem Eingang zum anderen Zimmer beiseite und machte sich daran, hineinzukriechen. Der Anblick des nackten Hinterteils beschämte mich. Die Kleine war das vielleicht gewohnt. Wir grinsten uns pikiert zu.
Im anderen Raum angekommen, machte er sich an etwas zu schaffen. Wir konnten nicht sehen, was er tat. An den Lauten hörte man, dass er Gegenstände herum räumte.
„Was ist das für eine Medizin?“, fragte ich das Mädchen so leise, dass nur sie mich hören konnte.
Sie winkte mich dichter zu sich heran. „Dein Ohr, Percy!“, hauchte sie.
Eilig wandte ich ihr dieses zu. Sie legte die vollen Lippen ganz langsam auf die Muschel. Für eine Weile hörte ich nur ihren warmen Atem. Kitzelte da gar ihre Zunge? Warum sagte sie nichts? Fast erschien es mir, als nutzte sie die Gelegenheit bloß, um mich am Ohr zu küssen.
Als ich schon verärgert den Kopf wegziehen wollte, hörte ich sie ganz leise bedeutungsvoll murmeln: „Vampirblut!“
Verärgert über diesen Unfug wandte ich mich ab. Dabei biss sie auch noch kess in mein Ohrläppchen, sodass ich beinahe vor Schmerz aufschrie.
Sie hielt mich für dumm und wollte dem Großstädter mit einem weiteren indianischen Märchen Ehrfurcht einjagen. Sollte sie einen anderen Dummkopf verspotten! Die Kleine war verlogener, als ich dachte. Ich wusste nicht, ob ich das bewundern oder über sie sauer sein sollte.
Mein Uropa kehrte zurück. Er wirkte etwas missmutig. Vielleicht gefiel es ihm nicht, dass ich sein Geschäft mitbekam. Andererseits wollte er mich als Gast aus der eigenen Familie nicht ausschließen. Das hätte erst recht merkwürdig gewirkt.
Er zeigte das nur mit wenigen Tropfen gefüllte Fläschchen, goss noch etwas Whisky hinein und verkorkte es. Die Flüssigkeit hinter dem durchsichtigen Glas schimmerte tatsächlich rötlich.
„Erzähl jetzt deine Geschichte, ich muss sehen, ob sie es wert ist!“, forderte er und behielt das wertvolle Pfand zur Sicherheit in der Hand.
Die Besucherin erkannte, dass sie keine andere Chance bekam, und berichtete: „Großmutter ließ mich einige Kräuter im Dorf besorgen. Zur Belohnung erhalte ich in der Küche meines Onkels immer eine leckere Limonade. In seiner Taverne saßen schon zwei angetrunkene Gäste, die dadurch recht laut gesprochenen haben. Die Bretter zum Gastraum sind zudem so dünn, dass ich von der Küche aus gut zuhören konnte.“
„Komm zur Sache!“, ermahnte Uropa sie. Seine Hand hielt die Wundermedizin hoch, als wollte er ihr den Wert noch bewusster machen.
„Nur Geduld!“, beschwerte sich die eifrige Erzählerin und zwinkerte mir kess zu.
Mir verschlug diese erneute Intimität die Sprache. Das Ausschmücken von Erzählungen bereitete ihr wie allen Frauenzimmern eine unverschämte Freude. Vielleicht hätte sie die Geschichte auch umsonst preisgegeben. Ihre Wangen glühten vor Aufregung. Das stand ihr gut.
„Es waren die räuberischen Zwillinge aus dem Reservat. Die beiden plauderten zuerst unverhohlen darüber, wie sie einen Bahnreisenden, der gerade seine Notdurft im Gebüsch verrichtet hat, ausgeraubt hatten. Aber angeblich planten sie nun eine ganz große Sache. Sie warteten auf jemanden.“
„Komm zum Punkt!“, ermahnte ihr Gesprächspartner ungeduldig.
„Jaja“, fuhr Gaya unwillig über die Unterbrechung fort. „Die Tür ging auf und es trat noch jemand ein. Ich konnte ihn zwar nicht sehen, erfuhr aber später von meinem Onkel, wer es war. Die drei tuschelten miteinander. Dann hörte man Geld klappern und der unbekannte Besucher sagte wörtlich: „Den Rest gibt es, wenn der schamlose Hexer hin ist.“
„Ravenhort!“, schrie mein Uropa aufgebracht, riss die Hörnermaske herunter und spuckte wütend ins Feuer. Dieses zischte auf, als hätte er Petroleum hineingegossen. „So viel Bosheit hätte ich dem hinterhältigen Mönch nun doch nicht zugetraut.“
Der Ziegenbock meckerte wie zur Bestätigung im Hintergrund, scharrte wild mit den Hufen und stieß sein Gehörn immer wieder kämpferisch gegen das Gatter.
Das Mädchen nickte eifrig. „Genau!“
Jetzt hielt sie fordernd die Hand hin, um den Handel vollends abzuschließen. Die Flasche mit der wertvollen Medizin landete in der ihren.
„Weißt du noch etwas?“ Urgroßvater wirkte betroffen.
„Nein, mehr konnte ich nicht mitbekommen. Meine Tante meinte nur, ich sollte es dir unbedingt erzählen. Das wäre sie schuldig.“
„Du solltest mir das also ohnehin alles sagen!“
Gaya biss sich ertappt auf die Lippen und entfernte sich sicherheitshalber schnell ein paar Schritte. Hier hatte sie sich wohl verplappert.
„Du hast mich also reingelegt. Ich tippe mal, du hast noch ein paar Scheine in der Tasche!“ Er ging auf sie zu und streckte fordernd die Handfläche aus.
Erschrocken ließ das Mädchen den Mund offen, fand aber schnell zu seiner gewohnten Kessheit zurück. „Ein Leben ist sehr viel mehr wert als Geld. Verfluche die Burschen und ich erzähle es überall herum. Vielleicht lassen die so von ihrem Plan ab“, versuchte es geschickt abzulenken.
„Du bist ein durchtriebenes Ding und wirst sicher bald einem Jungen den Kopf verdrehen!“, lobte Urgroßvater und warf mir einen seltsamen Blick zu.
Warum sah er mich so merkwürdig an? Hoffentlich dachte er nicht, dass ich auf das kleine Ding stand. Ich war ein junger Mann und sie mehr ein Kind. Vielleicht sollte ich ihm doch etwas über meine wahre Liebe erzählen.
Die Besucherin lächelte bescheiden über das Lob und warf mir wie einem Bräutigam schüchterne Blicke zu. „Mich interessiert nur einer“, murmelte sie dabei und ließ ihre Augen bedeutungsvoll auf mir ruhen. Ich fühlte mich seltsam. Was war das für eine Narretei?
Zum Glück bemerkte Uropa das Mienenspiel nicht. „Soso, hab da eigentlich etwas anderes gehört“, sagte er nur, doch seine Gedanken waren schon woanders.
Mich faszinierte ohnehin nur die eine, die Einzige. Die bezopfte Gaya könnte viel mehr meine kleine Schwester sein. Ich musste mehr von oben herab mit ihr reden, um den altersmäßigen Abstand zwischen uns zu verdeutlichen. Nicht dass sie sich noch richtig in mich verliebte. Das war jetzt ohnehin nur Schwärmerei.
Der Gewarnte ging erregt im Raum hin und her. wenn er bei dem schwarzen Ziegenbock vorbeikam, streichelte er dessen Fell. Das Tier meckerte zufrieden dabei. Uropas Vitalität war bei dem hohen Alter einfach unglaublich. Wie konnte er nur so jung aussehen? Selbst sein dünner Bart hatte nur wenige graue Fäden.
„Gaya, geh und erzähl überall herum, dass ich von dem hinterhältigen Plan erfahren habe“, wies er seine geschwätzige Kundin an. „Sag allen, dass ich die Zwillinge mit einem mächtigen Fluch belege. Sie werden zu Werwölfen, wenn sie jemals wieder töten. Um Ravenhort kümmere ich mich persönlich!“
Die kleine Dame wirkte von dieser Wende ganz aufgeregt.
„Das wird aber auch Zeit!“, stellte sie zufrieden fest. „Alle fürchten sich vor den beiden Gesellen. Ich werde deine Botschaft im ganzen Dorf verbreiten!“ Die letzten Worte verkündete sie mit Pathos in der Stimme, blickte mich an und kniff schelmisch ein Auge zu.
Begeistert von der Aufgabe fuchtelte sie wild gestikulierend mit ihren Armen in der Luft. Dabei fielen mehrere große Scheine, die sie im weiten Ärmel versteckt hatte, auf den Boden. Ihr Gesicht errötete. Schnell ergriff sie das Geld und eilte, ohne noch ein Wort zu verlieren durch den Ausgang davon.
Urgroßvater schüttelte den Kopf. „Frauen sind wie Schlangen! Sie schleichen sich leise an und beißen dann“, ermahnte er mich. „Es sei denn du kaufst ihnen Schmuck oder Handtaschen.“
„Ist ein Werwolffluch nicht irgendwie unglaubhaft?“, fragte ich naiv. „Wer nimmt heutzutage dergleichen noch ernst?“
„Wir sind auf heiligem Indianerland, vergiss das nicht! Hier in den Black Hills ticken die Uhren anders als im Rest der Welt.“
„Ich weiß, die Zeit erkennt man an der Sonne und selbst die sieht man nicht immer!“, wiederholte ich ironisch eine seiner Belehrungen.
Er achtete nicht mehr auf mich. Voller Eifer begann er etwas Unverständliches zu brabbeln, wild zu rasseln, ins Feuer zu spucken und geradezu tollwütig zu schreien. Das klang schon überzeugend. Der Bedrohte machte ernst mit seinem Vorhaben. Insgeheim war ich doch neugierig.
Ein kleiner mystischer Schauer ließ sogar meine Härchen auf den Armen aufrecht stehen. Vielleicht machte ja allein die Androhung des Fluchs den beiden Gesellen Angst. Wer wollte schon zu einem Lykan mutieren? Ein Zweifel blieb jedoch zurück. Ein gutes Haustürschloss und eine Pistole wären die bessere Vorsorge.
Nach rund einer Stunde stellte der Wilde seine wahnsinnige Toberei endlich ein. Mir tat schon der Kopf vom Lärm etwas weh. Die Rassel verstummte und er spuckte nicht mehr ziellos umher. Ich hatte von dem Grünzeug auch etliche Fladen abbekommen, egal wo ich mich versteckt hatte. Hoffentlich nützte die Arbeit etwas. Uropas muskulöser Körper war ganz verschwitzt und roch wie saure Büffelmilch.
„Was hast du da eben gerade gemacht?“ hakte ich nach.
„Den Fluch übermittelt. Er hat mich viel Kraft gekostet und ist sehr stark!“ Er wirkte nun ganz gefasst. Ja, er war ein Schamane.
„Ich will nun selbst ins Dorf. Mal sehen, ob ich noch Ravenhort erwische“, erklärte er, während er sich anzog. „Der heimtückische Bruder soll auch sein Fett abbekommen!“
„Ist es nicht etwas spät?“, warf ich ein.
„Schamanen kennen keine Furcht vor dem Dunkel! Wir sind keine gewöhnlichen Menschen.“
„Na dann!“, spottete ich.
Trotzdem, einmal mehr bewunderte ich meinen Gastgeber. Er zweifelte nicht an seiner Kraft. Vielleicht sollte ich ihn doch um Hilfe bei meiner Suche bitten. Er kannte sich mit der anderen Seite aus, mit allem, was eben nicht normal war. Vielleicht wusste er, wo und wie ich die schwarzhaarige Traumhexe finden konnte, die entweder die Allervollkommenste selbst war oder zumindest irgendetwas mit ihr zu tun hatte. Unwillkürlich rutschte mir wieder ein schmerzvolles „Ach“ aus dem Mund.
„Bist du krank?“, fragte der Aufbrechende. Er musterte mich kritisch. „Man könnte denken, du wärest verliebt.“
Ich lief glutrot an und stammelte so ein Zeug wie: „Wer sagt denn so etwas? Ich habe ganz andere Sorgen.“
Doch damit ritt ich mich immer tiefer hinein.
Urgroßvater lächelte verschmitzt, als wüsste er alles. „Die Kleine hat dich anscheinend verhext und deinen Kopf verdreht. Kam mir gleich merkwürdig vor, wie ihr euch angesehen habt. Sieh dich besser vor! Und lass dir bloss nicht von ihr den Ring andrehen, den sie auf dem Finger hatte.“
Die Ziege im Gatter meckerte erneut wie zur Bestätigung und steckte ihren schwarzen Kopf in den Raum. Die Augen blickten so intelligent wie die eines Menschen.
Ich lachte dümmlich – natürlich tat ich nur so einfältig.
„Verhext, ha, ha! Magischer Ring! Die ist doch noch ein Kind“, scherzte ich. „Ihr Provinzler glaubt einfach an jedes Märchen! Ach ja, bald schleichen vielleicht sogar Werwölfe hier herum! Da freuen sich schon die Jäger über diese besondere Beute. Vielleicht solltest du dir das mit dem Fluch noch einmal überlegen.“ Mein wissenschaftlich geschulter Verstand machte sich lustig. Gleichzeitig wollte ich so von dem heißen Thema ablenken.
Doch er nahm das ernst.
„Wir reden in Ruhe darüber, wenn ich zurückkomme!“, versprach er und machte sich zum Aufbruch bereit.
Seine Äußerungen waren mir peinlich. Er gab einer Dreizehnjährigen die Schuld an meiner Gefühlsmisere. Wie sollte ich ihm erklären, dass nicht Gaya mich verzaubert hatte, sondern eine andere? Nur dieser Vollkommenen gehörte mein Herz. Das mit dem von mir verschenkten Ring, wollte ich ihm jedoch verschweigen. Er musste nicht alles wissen.
Zum Glück konnte ich mir noch alles für das Gespräch zurechtlegen, da meinem Gastgeber im Moment anderes Wichtiger war. Urgroßvater verschwand mit Tomahawk und Speer bewaffnet durch die Felle. Die alte Tür knarrte und schlug laut wieder an den Rahmen. Abgesehen von der schwarzen Ziegenbock und den gackernden Hühnern war ich hier nun erstmals für längere Zeit allein. Das musste ausgenutzt werden.