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Wer ist schon vollkommen

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Den Kopf voll wirrer Gedanken und noch immer aufgewühlt ging ich in meinen Sportraum und schlug wütend immer wieder auf den Punchingball ein. Körperliche Betätigung half mir in solchen Momenten, wieder zu mir zu finden. Ich war nicht nur ein guter Mathematiker, sondern auch ein ziemlich guter Faustkämpfer, Pistolenschütze und Reiter. Schon manches sportliche Turnier hatte ich zur Freude meiner Mutter auf dem Pferderücken oder im Ring für mich entschieden. Auf einem Sideboard standen einige Pokale und an der Wind hingen mehrere Urkunden als Zeugnis meiner Siege. Wie heißt es so schön? Gegensätze ziehen sich an. Meine ganze Persönlichkeit war dafür ein Beispiel.

Ich galt gemeinhin als ein ganz besonderes Wunderkind, so etwas wie ein mathematisches Genie. Das Schicksal oder der Zufall hatte mich mit einem sogenannten eidetischen Gedächtnis gesegnet. Unter Milliarden Menschen besaß dieses Talent meist nur einer. Ganze Buchseiten speicherte ich binnen Sekunden für immer in meinem Gehirn ab. Das Wissen war dort jederzeit abrufbar, wie aus einem Lehrbuch.

Trotz meiner wissenschaftlichen Interessen und des fotografischen Merkvermögens war ich also kein bleicher Bücherwurm oder einer dieser mit dicken Gläsern bebrillten Klugscheißer. Mein fröhliches Lachen, die muskulöse, aufrechte Gestalt, mein Witz und die schalkhaften Augen wirkten wie der Zauber einer Fee auf die Menschen. Das hatte anscheinend auch bei Grace zu Gefühlen für mich geführt. Die Welt liebte und bewunderte mich zumeist. Durch diese Fähigkeiten, meine vornehme Erscheinung und das große Erbvermögen galt ich im Moment als eine gute Partie.

Wir zählten zu den zehn reichsten Familien in Manhattan. In etwa drei Jahren, zum 21. Geburtstag, würde ich zudem große Reichtümer erben. Mein Vater hatte sie mir als einzigem Nachkommen zugedacht. Er war seit drei Jahren verschollen und ich sein einziger Sohn. Man vermutete, dass Banditen ihn auf einer Geschäftsreise getötet hatten. Sein spurloses Verschwinden blieb ein Rätsel und konnte bisher nicht aufgeklärt werden. Von einem auf den anderen Tag war er einfach aus unserem Leben verschwunden. Fast so, als hätte es ihn niemals gegeben und sein Leben wäre nur eine dieser Geschichten.

Unser Domizil befand sich im Zentrum von Manhattan. Zusammen mit Mama und unseren Bediensteten lebte ich in einem repräsentativen Penthouse. Das gesamte marmorverkleidete Hochhaus gehörte uns allein. Unter der riesigen Wohnung, die sich über zwei Stockwerke erstreckte, befanden sich die zahlreichen Büroräume unserer Handelsfirma. Man munkelte, dass ihn vielleicht ein Konkurrent entführt und ermordet hatte. Die Polizei tappte jedoch noch immer im Dunklen. Wir hatten uns inzwischen mit dieser Situation arrangiert.

Im Nachhinein erschien es mir als ein Fehler, dass ich Grace mein besonderes Geheimnis offenbart hatte. Mir war klar, dass ich sie verletzt hatte und sie mein Vorhaben vielleicht für verrückt hielt. Besonders nach der Lektüre ihres Geschenkes. Es handelte sich um eine in Leder gebundene Ausgabe von Gogols Die Nacht vor Weihnachten. Der Teufel, Hexen und durchtriebene Dorfbewohner lieferten sich darin eine geradezu verrückte Partie an Hinterhältigkeiten und Lügen. Grace wollte mir damit scheinbar aufzeigen, dass es noch eine andere Seite als die der Wissenschaft gab, etwas Magisches, das hinter der Realität verborgen war. Lustig war das Ganze schon, doch wer nahm Geschichten von Hexen und Pferdefüßlern denn ernst? Dergleichen existierte genauso wenig wie Werwölfe und Vampire. Solche Geschichten waren etwas zum wohligen Gruseln und kein wahrer Gegenpart zu meinem Vorhaben.

In den nächsten Tagen stürzte ich mich noch intensiver auf weitere Berechnungen. Ich musste Grace, mir und der Welt beweisen, dass es die ideale Gefährtin oder den idealen Partner für jeden - also auch für mich und Grace - gab und dass man sie mit Hilfe der Mathematik finden konnte. Es gab die ganz große Liebe wirklich. Sie war nicht nur ein Zufall der Gefühle und unserer gewöhnlichen Biologie. Die intensive Arbeit bewahrte mich auch vor den unangenehmen Schamgefühlen. Ich unterbrach sie nur durch gelegentliche Ausritte und sportliche Betätigungen mit dem Punchingball.

Ich versank regelrecht in das erhabene Vorhaben und lebte zunehmend in meiner entrückten Welt. Diese Tätigkeit wollte ich bald nicht einmal zum Essen unterbrechen, denn ich hatte das Gefühl kurz vor dem Durchbruch zu stehen. Mein Herz pochte wild gegen die Brust, da es nun von der Gewissheit angetrieben wurde, dass es möglich war, das Alter meiner Vollkommenen einzugrenzen.

Das erste Zwischenergebnis lautete: Es gab sie. Das zweite: Sie wäre zwischen 13 und 99, sofern sie ein weibliches und zudem menschliches Wesen war!

Dieses mit langer Formel errechnete Wissen erschien mir geradezu genial. Ein fiebriger Sinnenrausch erfasste mich wie ein reißender Strom. Oh, wie gern hätte ich meine Vollkommene schon jetzt in meine Arme genommen und ihr Gesicht mit wilden Küssen bedeckt. Wie sah sie nur aus? Aus welchem Land stammte sie? War sie überhaupt ein Mensch? Sie war schon jetzt meine Göttin.

„Oh Liebste“, hauchten meine Lippen voller Inbrunst.

Ein unscharfes Bild füllte meine Gedanken und nahm Gestalt an. Das musste sie sein!

„Grace?“, murmelte ich verblüfft.

Das konnte nicht sein. Meine Fantasie hatte sich da etwas zusammengewischt und das Trugbild zu Grace geformt. Wütend schmiss ich den Federhalter aus der Hand beiseite. Unglücklicherweise landete er auf auf meiner Berechnung und hinterließ einen dicken blauen Klecks, der das Ergebnis verdeckte.

Sollte das etwas bedeuten? War es vielleicht falsch? Wir Amerikaner haben einen Hang zum Aberglauben.

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