Читать книгу Ellen - Melanie Schmitt - Страница 4
Kapitel 1
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Hunger. Jeder kennt dieses Gefühl und weiß wie es sich anfühlt. Jeder hat es schon mal erlebt, wie es ist dann endlich dieses Bedürfnis nach essen zu stillen. Bei anderen Leuten jedoch überwiegt das Hungergefühl der Sättigung gegenüber. So auch bei Ellen. Ihr Magen knurrt und macht Geräusche als befände sich ein Bienenschwarm in ihrem inneren und wäre kurz vorm Ausbrechen. In all den Jahren hat sie gelernt mit ihrem Hunger umzugehen. Sie vergisst ihn nicht, das ist unmöglich aber sie versucht nicht darauf zu achten, um sich so besser konzentrieren zu können und irgendwie an Essen zu gelangen.
Ihr kleiner Bruder hält sich die Hand auf den Bauch und sagt: „Ich habe so Hunger, Ellen.“
„Ich weiß ich auch.“, gibt sie zurück.
Leute laufen an ihnen vorbei, ohne sie zu beachten oder auch nur eines Blickes zu würdigen. Reiche Leute, Leute die denken, Müssen diese bescheuerten, ausgemergelten Straßenkinder ausgerechnet hier in meinem Blickfeld sein. Man muss keine Gedanken lesen können, die stehen den Leuten nämlich ins Gesicht geschrieben. Ellen setzt Andrew auf eine Bank im Central Park und geht zum Mülleimer, auf der Suche nach etwas Essbarem. Eine Bananenschale, leere Bierdosen, verrotzte Taschentücher und anderes aber nichts zum Essen. Mit leeren Händen geht sie zurück zu ihrem Bruder und setzt sich. Anfangs hat sie sich davor geekelt in die Mülleimer zu greifen, doch mittlerweile hat sie begriffen, dass es nur so eine Überlebenschance auf der Straße gibt. Eine ganze Weile schweigt sie und überlegt wie sie etwas zu Essen für Andrew bekommt. Solang das Essen, welches sie finden nicht für Beide reicht gibt sie alles Andrew. Ellen hat sich daran gewöhnt mit wenig Essen aus zu kommen. Plötzlich merkt sie, dass Andrew zittert.
„Hast du kalt?“, fragt sie ihn. Es wäre kein Wunder, schließlich bringen die Klamotten die er trägt nicht wirklich etwas, so zerrissen wie die sind.
„Nein nur Hunger. Wie viel Uhr haben wir?“, entgegnet er.
„Ich habe dir doch beigebracht wie man die Uhr liest. Dort oben an der Kirchturmspitze versuch es.“ Das Wissen der Beiden ist stark zurückgeblieben, aber wie soll es denn auch anders sein, wenn man auf der Straße lebt. Der kleine Junge betrachtet lange die Uhr.
„ Fünf nach sechs?“, sagt er schließlich mit fragendem Unterton.
„Andrew, du hast schon wieder den großen und den kleinen Zeiger verwechselt. Es ist halb zwei.“
„ Entschuldigung.“
„ Du musst dich doch nicht entschuldigen. Du brauchst einfach noch etwas Übung. Nicht hingucken Andrew das macht es nicht besser.“, sagt Ellen, als ein Eisessendes Ehepaar an ihnen vorbei läuft. Ellens kleiner Bruder versteckt sein Gesicht unter ihrem Arm. Erst jetzt merkt sie wie hungrig er ist. Ungefähr 20 Meter neben ihnen auf der Bank sitzt eine etwas ältere Frau mit grauen Haaren, die streng nach hinten gebunden sind, in einem hell rosa Blümchenkleid und liest Zeitung.
„ Ich bin gleich wieder zurück. Vielleicht haben wir Glück und die Frau dort vorne gibt uns etwas Geld.“, erklärt Ellen ihrem Bruder und macht sich auf den Weg. Das Gesicht der Frau ist mit Falten überzogen.
„Entschuldigen Sie, dass ich störe. Aber mein Bruder und ich haben solchen Hunger. Könnten Sie uns etwas Geld geben?“
„Ungezogene Göre. Du kannst mich doch nicht einfach um Geld ansprechen.“, erwiderte sie empört, steht auf und geht schnellen Schrittes davon. Dem jungen Mädchen kommen die Tränen und sie murmelt leise vor sich hin: „Fuck! Ich habe keine Erziehung dann kann ich doch nichts dafür das ich ungezogen bin!“ Enttäuscht geht sie zurück zu ihrem Bruder, wischt sich aber vorher die Tränen weg.
„Nichts. Aber ich verspreche dir ich finde heute noch was.“, sagt sie auf seinen fragenden Blick hin. Obwohl erst Mittag ist kuschelt sich Andrew an seine Schwester und schließt die Augen. Ellen tut es ihm gleich aber nicht um sich auszuruhen sondern um sich Vorzustellen wie ein Leben in Luxus wäre. Sie sieht sich mit ihren Eltern, ihrem Bruder am Pool einer riesigen Villa lachen und essen was das Zeug hält.
Als sie die Augen wieder öffnet sieht sie eine Gruppe Jugendliche, etwa 16, also ihr Alter, die ihr entgegenkommen. Wahrscheinlich irgendwelche Kinder, deren Väter einen Haufen Geld verdienen und dieses jetzt während einem schönen, gemütlichen Shoppingtrip ausgeben. Sie will schon aufstehen und mit Andrew verschwinden, bevor sie sich dumme Sprüche anhören müssen, doch dann sieht sie, dass einer der zwei Jungen ein Brot aus seiner Tasche holt und es einem der Mädchen geben will. Beide Mädchen sind behängt wie ein lebendiger Tannenbaum, geschminkt bis zum geht nicht mehr und tragen garantiert irgendwelche superteuren Markenklamotten. Jetzt ist die Gruppe auf Hörweite für Ellen.
„Hier ess das. Ist zwar schon ein bisschen trocken aber was solls.“, sagt der Junge, der das Brot rausgeholt hat und hält es dem einen Mädchen hin.
„Was solls?! Ich esse nicht das trockene Brot.“, reagiert sie übergeschnappt. „Trockenes Brot ist was für solche da.“, sagt sie und nickt in die Richtung der beiden Geschwister. Das Mädchen macht einen noch unfreundlicheren Eindruck als die anderen. Ihr Gesichtsausdruck ist grimmig, ihre roten Haare passen überhaupt nicht zu dem blauen T-Shirt, das sie trägt und sie ist etwas kräftig um die Hüften.
Das ist ihre Chance denkt Ellen und steht auf. Kurze Zeit ist sie noch unentschlossen ob sie das tun soll, doch dann gibt sie sich einen Ruck und läuft mit weichen Knien auf die Gruppe zu. Als diese ihr Vorhaben bemerkt ruft das Mädchen mit den roten Haaren: „Siehst du aber Schick aus. Hast du auch noch ganze Klamotten?“ Der Spott in ihrer Stimme ist nicht zu überhören. Daraufhin fängt der Rest der Gruppe an zu lachen. Kurz vor dem Jungen bleibt sie stehen und fragt mit schüchterner Stimmer: „Kriegen wir es?“
Vorsichtig guckt sie ihn an. Er ist ein gutes Stück größer wie sie und hat braune Haare, die ihm etwas ins Gesicht fallen. Vor ihm fühlt sie sich so klein wie eine Erbse. Er trägt eine ausgewaschene Jeans und dazu ein kariertes Hemd, das er offen über ein weißes T-Shirt anhat. Auch die Schuhe lässt Ellen nicht aus. Schwarze Chucks. Chucks. Früher waren das ihre Lieblingsschuhe, eigentlich sind sie das immer noch. Aber sie kann sich keine mehr leisten. Jetzt sieht Ellen ihm wieder ins Gesicht. Er hat Wahnsinns blaue Augen. Es ist ein dunkles blau aber doch so hell, dass sie richtig funkeln und glänzen. Er hält ihrem Blick stand, dann nickt er, obwohl es auch nur ein nervöses, unsicheres Zucken sein könnte. Der Junge gibt ihr das Brot.
„Danke.“, haucht sie, zum Sprechen ist sie vor Freude nicht fähig. Keine Erbse, sie fühlt sich wie etwas viel Größeres.
„Äh ja… bitte.“, stottert er.
Die Mädchen kreischen auf: „Ah, du gibst doch nicht ernsthaft der da dein Brot.“
„Sieht aber so aus.“, meldet sich der andere Junge zu Wort. Ellen geht zurück und gibt Andrew das Brot.
„Und du?“, fragt er, beißt aber direkt in das Brot, welches nicht sehr groß ist. „Ich finde schon noch was für mich. Ess du das, aber langsam wer weiß wann wir das nächste Mal etwas bekommen. Du brauchst kein schlechtes Gewissen zu haben.“ Andrew strahlt sie an und isst weiter das Brot. Erst jetzt merkt Ellen das die Gruppe immer noch da steht.
„ Ich hätte es weggeschmissen. Die zwei haben sich jetzt drüber gefreut.“, sagt der Junge von dem das Brot stammt. Sehr sogar fügt Ellen im Stillen hinzu und unterdrückt das Knurren in ihrem Bauch.
„Lass uns abhauen“, sagt das Mädchen, welches das Brot nicht essen wollte. Gemeinsam geht die Gruppe weiter den Weg entlang. Andrew isst zu Ende und fragt: „Wo schlafen wir heute?“ „Wir werden sehen. Noch ist Zeit bis heute Abend.“, entgegnet seine Schwester.