Читать книгу Mark Feller - Michael Bardon - Страница 11
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Оглавление»Komm weiter, Faizah, zum Ausruhen ist jetzt keine Zeit!«, wisperte Tahire. Sie streckte ihrer Freundin die Hand entgegen, schaute sie jedoch nicht an. Ihr Blick hing an einem riesigen Tor, das von zwei grobschlächtigen Kerlen bewacht wurde. Die beiden sahen wirklich zum Fürchten aus in ihrer abgetragenen Lederkluft und den vielen Tattoos, die sie wie eine Kriegsbemalung im Gesicht trugen.
»Ich kann nicht mehr … mein Fuß …«
Faizah hatte sich beim Sprung vom Hallendach ihren linken Knöchel verstaucht. Oder gebrochen, Tahire konnte es nicht sagen. Er sah jedenfalls übel aus, der Fuß. Und dick geschwollen war er auch.
»Komm schon …«
»Ich kann nicht!«
»Komm endlich her, verdammt! Oder willst du, dass uns die Männer finden? Die suchen bestimmt schon nach uns.«
»Meinst du? Vielleicht ist ihnen ja noch gar nicht …«
»Ssssch …«
Tahire legte ihren Finger an die Lippen. »Ich glaube, da kommt jemand, ich höre Stimmen.«
Sie eilte zu Faizah, die an einer verbeulten Wellblechwand lehnte und versuchte, ihren blau angelaufen Knöchel ein wenig zu entlasten.
»Los, komm, wir können hier nicht bleiben.« Sie zog ihre Freundin in einen schmalen Durchgang zwischen zwei lang gezogenen Lagerhallen. Hier roch die Luft muffig, schmeckte abgestanden und nach faulen Eiern. Tahire war es egal – sie hatte in ihrem Leben schon weit Schlimmeres gerochen.
»Aua … Aaaaaaah … Mein Fuß …«
»Stütz dich auf mich, Faizah. Ja, so ist es gut! Komm, leg deinen Arm um meinen Hals. Wir schaffen das …«
Sie drangen tiefer ein in den schmalen Durchgang, dessen grob geschotterter Boden ihr Vorankommen noch zusätzlich erschwerte. Ratten huschten vor ihnen davon, sie verschwanden hinter Bergen aus allerlei Unrat.
Tahire ignorierte ihren Ekel. Sie dachte an ihr Heimatdorf, dachte an die Massengräber, in denen man ihre Eltern begraben hatte wie totes Vieh. Die Ratten waren allgegenwärtig, und wer von ihnen gebissen wurde, starb in der Regel an einer Infektion. Sie hatte das hautnah erlebt, ihre Schwester Nour war nach einem Biss dieser gierigen Monster am bösen Fieber gestorben, ihre Tante Basima auch.
Möge Allah ihre Seelen retten …
»Warte, ich kann nicht mehr.«
Tahire bremste ihren Vorwärtsdrang, obwohl der Fluchtgedanke sie völlig einnahm.
»Lass mich zurück, ich schaff es einfach nicht. Es tut so schrecklich weh.« Faizahs Gesicht war schmerzverzerrt, Tahire konnte sehen, dass ihre Freundin Tränen in den Augen standen.
»Das geht nicht, du kannst hier nicht bleiben. Die Ratten werden dich auffressen«, sagte sie. Allein der Gedanke an die haarigen Biester ließ sie erschauern. Die Viecher waren wirklich überall; sie tummelten sich zu Hunderten in dem schmalen Durchschlupf.
Ihr Blick irrte umher – sie suchte nach einem Ausweg. Verzweiflung nahm sie ein, als ihr bewusst wurde, dass die Stimmen immer näher rückten. Allein hätte sie es vielleicht noch geschafft, doch mit der verletzten Faizah an ihrer Seite konnte sie den Gedanken an eine weitere Flucht, gleich wieder vergessen.
»Stell dich nicht so an«, fauchte sie, während ihr Blick erneut durch das Halbdunkel des Ganges irrte. Das durfte doch nicht sein! Allah hatte sie zu diesem Platz geführt, er hatte das bestimmt nicht getan, um sie in diesem stinkigen, dunklen Gang sterben zu lassen.
Sie trat zwei Schritte vor und zog ihre Freundin, die vor Schmerzen aufstöhnte, einfach mit.
»Bei Allah!«, hauchte sie, als sie das kleine Loch in der Blechhaut der linken Lagerhalle sah, keine fünf Schritte vor ihnen. Der Durchschlupf war eng und die ausgefaserten Ränder standen scharfkantig hervor, doch für Faizah und sie würde es zum Durchkriechen reichen.
Was für ein Geschenk des Himmels!
Die Stimmen kamen näher – sie konnte jetzt zwischen einem Mann und einer Frau unterscheiden.
»Komm mit!« Statt auf eine Reaktion zu warten, zog sie ihre Freundin einfach mit. Tahires Beine zitterten vor Anstrengung, doch die Angst verlieh ihr die nötige Kraft.
»Schnell, krabbel da hinein«, keuchte sie, während sie auf die Knie sank und ihrer Freundin half, durch das Loch zu kriechen.
»Schneller Faizah, sie sind gleich da …«
Tahire hielt die Warterei nicht mehr aus. Sie packte beherzt zu, hob die Beine ihrer Freundin an, und schob sie durch das Loch. Nackte Haut schrammte an den messerscharfen Kanten des Blechs. Egal. Aus dem inneren der Lagerhalle drangen die erstickten Schmerzensschreie ihrer Freundin, gefolgt von einem Wortschwall, der kein gutes Haar an ihr ließ. Auch das war Tahire egal. Sie wollte nur noch eins: sich in Sicherheit wissen.
Der Ruf einer Frau ließ sie innehalten. Sie verstand nicht, was die Frau rief, erkannte aber am Klang ihrer Stimme, dass es sich um einen Befehl handelte. So was in der Art von: Halt, bleib, wo du bist! Oder: Gib auf, du hast keine Chance!
Tahire zögerte keine Sekunde. Sie sprang auf die Füße, raunte ein »Versteck dich, ich komme wieder …« durch die Öffnung und stolperte los. Weg von dem Loch in der Wand, weg von ihrer Freundin, weg vom Versteck, in dem Faizah mit ihrem schlimmen Fuß hoffentlich erst einmal in Sicherheit war. Ihr Heil lag jetzt in der Flucht, die Zeit zum Verstecken hatte Faizah mit ihrem ständigen Gejammer sinnlos vertrödelt.
Erneut rief die Frau etwas. Sie stand noch immer am Anfang des Durchganges, ebenso wie der Mann. Tahire ignorierte ihr Rufen – sie konzentrierte sich ganz auf ihre Flucht. Ratten huschten vor ihr davon, es war ihr egal, sie beachtete sie nicht mehr. Die Angst trieb sie voran, ihre Beine rannten schneller, als sie es jemals für möglich gehalten hätte.
Nur noch wenige Meter, vielleicht vier oder fünf. Am Ende des Ganges wartete das Tageslicht auf sie. Tahires Füße trommelten über den geschotterten Boden, ihre Beinmuskeln brannten, ihr Atem flog mit ihrem Puls um die Wette. Noch zwei Schritte, jetzt war es nur noch einer …
Ein Hieb in den Rücken trieb sie weiter voran. Sie kam ins Straucheln, ihre Beine knickten unter ihr ein, als wären sie aus Stroh und nicht aus Fleisch, Sehnen, Muskeln und Knochen. Ein weiterer Schlag schien ihre Lunge zum Bersten zu bringen. Sie hörte den Nachhall eines Schusses, konnte nicht mehr Atmen, schmeckte Blut. Tahire verstand nicht, was da vorging, sie verstand auch nicht, was gerade mit ihr geschah. Als der dritte Schuss fiel, und das Projektil ihre Wirbelsäule durchschlug, ging sie der Länge nach zu Boden. Ein letztes Zittern durchlief ihren Körper, dann lag sie ganz still und ihre Augen brachen.
*
»Was für ein Schlamassel«, sagte ich und schaute zu meiner Kollegin Fariba, die mit verschränkten Armen neben der Wohnungstür lehnte – sie sah reichlich genervt aus.
Ich blickte aus dem Fenster. Überall standen Polizisten; sie fotografierten die Schaulustigen, wiesen Rettungskräften den Weg oder sorgten dafür, dass kein Unbefugter auch nur in die Nähe des Tatorts gelangen konnte. Drei Sanitäter stürmten an mir vorbei, ein älterer Streifenbeamter hielt ihnen die Tür auf und deutete schweigend in den hinteren Raum.
Dort lagen der MP-Schütze und der tote Revolverheld.
Mein Blick folgte den Sanitätern, bis ich einen grauen Bus der Sorte Sprinter bemerkte, der umständlich vor dem Grundstück nach einem Parkplatz suchte. Das mussten die Jungs von der SpuSi sein, die ich nach einem kurzen Telefonat mit Briegel beim LKA angefordert hatte.
Zwei weitere Rettungskräfte stürmten in die Wohnung. Ich konnte auf ihren Jacken lesen, dass sie Notärzte waren.
»Das geht hier ja zu wie in einem Taubenschlag. Du hättest mit deinem Anruf noch ein paar Minuten warten sollen, jetzt dauert es Stunden, bis wir uns in der Wohnung in Ruhe umsehen können.«
Ich schüttelte den Kopf und schaute meine Kollegin an. »Das ging nicht. Die beiden Frauen brauchten dringend einen Arzt. Außerdem musste ich die Kollegen von der Streife verständigen, die hätten uns sonst ein SEK-Team auf den Hals gehetzt.«
»Jaja, schon klar«, erwidere Fariba. Sie schob trotzig die Unterlippe vor und rollte genervt mit den Augen. »Dennoch, ein paar Minütchen mehr und ich hätte die Bude auf den Kopf gestellt. Dann hätten wir vielleicht schon eine neue Spur, der wir jetzt nachgehen könnten.«
Ich lächelte in mich hinein, gab jedoch keine Antwort. Fariba war ein Heißsporn, die am liebsten alles auf einmal erledigen wollte. Geduld war wohl die Art von Tugend, die man bei ihr vergeblich suchte.
»Da kommt Petermann«, sagte ich und wies mit einem Kopfnicken aus dem Fenster.
»Das is gut!« Faribas Blick folgte meinen. »Sebastian ist ein Ass. Der sieht Dinge am Tatort, die jedem normalen Menschen verborgen bleiben. Echt der Hammer, der Typ.«
Wir sahen beide mit an, wie Sebastian Petermann, der Profiler in unserem Team, schwungvoll unter dem rotweißen Flatterband hindurchschlüpfte und zielstrebig auf das Haus zueilte. Unsere Blicke trafen sich, er nickte mir kurz zu und verschwand keine Sekunde später im Hauseingang.
»Ich habe gehört, er trägt immer nur Schwarz. Tag für Tag immer nur Schwarz?«
Ein Lächeln huschte über Faribas Gesicht, als sie mir nickend zu verstehen gab, dass an dem Gerücht etwas dran sei. »Das stimmt«, gluckste sie, »Gerüchten zufolge ist er vor fünfzig Jahren schon mit diesem Outfit geboren worden und hat es seitdem nie wieder abgelegt. Is schon ’ne Nummer für sich, unser Sebastian.«
»Wow! Da hat er ja ganze Arbeit geleistet. Sehen bei ihm die Zeugenbefragungen denn immer so aus?«
Ich fuhr herum. Petermann stand in der Tür und musterte das Wohnzimmer.
»Eigentlich nicht«, sagte ich und grinste übers ganze Gesicht. An Petermanns Art zu reden, musste ich mich erst noch gewöhnen.
»Aha. Kann er sich denn schon umschauen oder ist die Spurensicherung noch zu Gange?«
»Die sind noch gar nicht da«, sagte Fariba und warf mir einen bösen Blick zu.
»Die Jungs sind im Anmarsch. Die haben gerade ihr Auto geparkt«, sagte ich.
»Das ist gut! Er …«, Petermanns Zeigefinger stupste gegen meinen Brustkorb, »… hält die Jungs noch ein bisschen hin. Er …« Sein Finger wechselte die Richtung und deutete nun auf ihn selbst, »… wird sich ein Bild vom Tatort machen. Er braucht fünf Minuten und will auf keinen Fall gestört werden. Verstanden?«
Ich nickte, sagte jedoch nichts. Laut Briegel war Petermann ein kleines Genie, dessen extravagante Art man am besten stillschweigend ertrug.
»Du brauchst fünf Minuten?«
»Die braucht er! Ja.«
»Okay, du bekommst sechs Minuten«, sagte Fariba und deutete mit dem Daumen hinter sich in die Wohnung. Sie grinste und entblößte dabei zwei Reihen schneeweißer Zähne. »Notfalls lege ich einen Strip hin, um die Jungs von der SpuSi ein wenig aufzuhalten.«
»Wenn sie einen Strip hinlegt, geht er ganz sicher keinen Tatort besichtigen. Das Schauspiel lässt er sich bestimmt nicht entgehen«, sagte Petermann und lächelte verschmitzt.
»Hau schon ab«, knurrte meine Kollegin. »Es gibt Dinge, die kriegst selbst du nicht zu sehen.«
Petermann nickte. Er musterte Fariba noch kurz durch seine randlose Brille, fuhr sich mit der Hand durch die fast schlohweißen, streng gescheitelten Haare und verschwand dann ohne ein weiteres Wort im angrenzenden Raum.
Ich sah ihm nach, schüttelte leicht verwundert den Kopf.
»An den muss ich mich erst noch gewöhnen. An seine Vorliebe für schwarze Klamotten auch.«
»Geht ganz schnell. Mir fällt schon gar nicht mehr auf, wie abgedreht Sebastian redet«, sagte Fariba neben mir.
»Echt jetzt? Ohne Scheiß?«
»Ohne Scheiß!«, sagte sie und lächelte kurz. Ihr Gesicht wurde wieder ernst, als sie mir keinen Atemzug später in die Augen sah. »Ich hab mich noch gar nicht bei dir bedankt, Mark. Du hast mir vorhin den Arsch gerettet.«
»Blödsinn …«
»Nein, das ist kein Blödsinn. Der Typ hatte mich voll im Visier. Eine Sekunde, Mark. Wenn du nur eine Sekunde gezögert hättest, wäre ich tot gewesen. Danke …«
Ich erwiderte nichts, hielt nur stumm an Faribas Blick fest.
»Sag was …«
Ich schwieg. Meine Gedanken waren bei Julia, die ich nicht hatte retten können.
»Okay, dann sag eben nix. Auch gut. Ich wollte nur, dass du es weißt.«
Ich räusperte mich und versuchte, meine Gedanken an Julia in den Hintergrund zu drängen. Jetzt war einfach nicht der richtige Zeitpunkt, um sich mit Vergangenen zu beschäftigen.
»Was denkst du?«, fragte ich, »Warum haben diese Typen auf uns geschossen?«
»Diese Frage stelle ich mir auch schon die ganze Zeit.«
»Und?«
»Und was?«
»Was denkst du? Warum haben sie das gemacht?«, fragte ich erneut.
»Ich schätze mal, sie haben uns für das gehalten, was wir sind. Bullen.«
Ich nickte, sagte aber nichts. Faribas Erklärung erschien mir zu konstruiert. Gewöhnliche Terroristen schossen nicht so einfach auf Polizisten. So etwas taten noch nicht einmal verbohrte Islamisten, die dem Heiligen Krieg die ewige Treue geschworen hatten.
»Vielleicht haben uns die vier ja für jemand anderen gehalten?«, überlegte ich laut.
»Und für wen?«
»Keine Ahnung, war nur so ein Gedanke.«
»Na ja, einer lebt noch. Fragen wir ihn.«
»Geht nicht! Laut dem Notarzt hat er sich beim Sturz von der Treppe schwere Kopfverletzungen zugezogen und muss in den nächsten Stunden operiert werden. Den können wir also erst mal abschreiben.«
»Shit, das hab ich nicht mitbekommen.«
»Ja, du warst oben bei den beiden Frauen, als der Arzt bei dem Kerl eine Schädelfraktur diagnostiziert hat. Da hast du echt ganze Arbeit geleistet«, sagte ich, fügte aber gleich hinzu: »Das sollte jetzt kein Vorwurf sein oder so.«
Fariba winkte ab und strich sich eine Locke aus der Stirn.
»Dann bleiben uns also nur noch die beiden Frauen. Sobald der Arzt mit ihnen fertig ist, knöpfe ich sie mir vor.«
»Ja, mach das. Ich denke ich fahre zurück ins Büro und gleiche die Bilder der Toten mit den Datenbanken ab. Vielleicht landen wir ja einen Treffer oder können eine Verbindung zu einer der bekannten Terrorzellen herstellen.«
»Du könntest Pia die Bilder auch einfach zumailen.«
»Könnte ich, will ich aber nicht«, sagte ich, während ich erneut aus dem Fenster schaute und ein Gesicht in der Menge sah, das mir bekannt vorkam. Jussuf Alkbari, der große Bruder unseres getöteten V-Mannes.
»Schau jetzt nicht aus dem Fenster«, raunzte ich meiner Kollegin zu. »Da unten steht Jussuf Alkbari und beobachtet uns.«
»Wo?«
»Nicht hinschauen«, mahnte ich erneut. »Er steht in der Nähe unseres Wagens, ungefähr fünf Schritte weiter rechts. Auf Höhe des roten Golfs.«
»Alles klar.« Fariba nickte kurz und zog sich vom Fenster zurück. Unsere Blicke trafen sich, sie hatte wieder dieses Ich-schnapp-mir-das-Schwein-Gesicht.
Als wir eine Minute später aus der Haustür traten, es nieselte noch immer und der Wind hatte weiter aufgefrischt, stand Jussuf immer noch neben dem geparkten Golf.
Er sah uns im selben Moment wie wir ihn. Der besorgte Ausdruck auf seinem Gesicht verschwand und wurde durch einen neuen ersetzt: Panik.
Ansatzlos warf er sich herum und rannte den Gehweg entlang. Keine Sekunde später jagten Fariba und ich ihm hinterher.