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Tag 2


Der Strahl der Taschenlampe wanderte mit unerbittlicher Helligkeit auf sie zu. Tahire kniff ihre Augen noch ein wenig fester zusammen; sie zwang sich, ruhig und gleichmäßig zu atmen. Als ob sie schliefe. Als ob sie sich in ihr Schicksal gefügt hätte.

Reiß dich zusammen! Du darfst dem Kerl nicht auffallen.

Ein Schauer kroch über ihren Rücken, als sie daran dachte, was der Wächter vor ein paar Minuten mit der armen Oleay angestellt hatte. Ihr leises Wimmern … sie hörte es noch immer. Dieser Unmensch, dieser Barbar, hatte Oleay aus dem Nachbarverschlag gezerrt und brutal vergewaltigt. Einfach so, nur weil sie ihm gefallen hatte. Es war mit Abstand das Grausamste, das Tahire in den letzten Monaten gesehen hatte. Arme Oleay …

Jetzt! Das gleißende Licht verharrte für ein paar Atemzüge auf ihrem Gesicht. Genau wie bei Oleay – sie hatte das von ihrer Pritsche aus beobachtet. Tahire lag ganz still. Sie ignorierte ihre Angst, ignorierte ihren Hass und sie ignorierte die blendende Helligkeit, die trotz ihrer geschlossenen Lider bis zu ihren Sehnerven vordrang. Lange würde sie das allerdings nicht durchstehen. Sie spürte Tränen aufsteigen.

Nach einer Ewigkeit – es kam ihr vor, als wäre ein ganzer Tag verstrichen – wanderte der Lichtstrahl endlich weiter. Tahire atmete erleichtert auf, öffnete die Augen und sah, wie der Lichtkegel nun eine andere Frau erfasste, ihre Freundin Faizah. Auch sie lag ganz still, schaffte es jedoch nicht, ein leichtes Blinzeln zu unterdrücken.

Halt durch Faizah, halt durch …

Tahire hielt den Atem an, während sie wie gebannt zu ihrer Freundin hinüberstarrte. Sekunde um Sekunde verstrich, bevor der Lichtstrahl von Faizah abließ und der Verschlag für die acht Frauen wieder in der Dunkelheit versank. Tahires Herz hämmerte schmerzhaft gegen ihre Brust. Schweiß rann ihr übers Gesicht, obwohl sie fröstelte; es war kühl und zugig in der alten Lagerhalle.

Sie schlang die Arme um den Leib und lauschte in die zurückgekehrte Dunkelheit hinein. Die Schritte des Wächters … ja, sie entfernten sich. Sie hörte ganz deutlich sein Schlurfen, und sie sah durch die Ritzen ihres Gefängnisses, wie der Kegel seiner Taschenlampe sich dem nächsten Verschlag näherte.

Gelobt sei Allah …

Er hatte seine schützende Hand über sie und Faizah gehalten. Doch warum hatte er zugelassen, dass man sie aus der Unterkunft verschleppt hatte, in der sie seit fast zwei Monaten gelebt hatten? Sie dachte an das alte Hotel, das zu einem Flüchtlingsheim umgebaut worden war. Sie hatten sich dort wohlgefühlt und den Schutz gefunden, den es in ihrer Heimat schon seit langer Zeit nicht mehr gab. Und jetzt waren sie hier, eingepfercht in einen Verschlag, gehalten wie Ziegen für die Schlachtbank.

Sie schüttelte den Kopf. Warum hatte Allah das zugelassen? Welchen Weg hatte er für sie und Faizah vorgesehen? Oder war das seine Strafe, weil sie ihr Land verlassen hatten und über das Meer zu den Ungläubigen geflohen waren?

Bitte nicht!

Sie schlug die Hände vors Gesicht.

»Wir müssen hier raus …« Eine Hand legte sich auf ihre Schulter, während die Stimme neben ihrem Ohr weiterflüsterte. »Tahire … hörst du, was ich sage? Wir müssen sehen, dass wir von hier wegkommen. Diese Männer sind Bestien. Die haben nichts Gutes mit uns vor.«

Sie schüttelte ihren Kopf. Eine sinnlose Geste, die ihre Freundin Faizah in der Dunkelheit nicht sehen konnte.

»Tahire … Hast du gehört was ich eben gesagt habe? Wir müssen von hier verschwinden.«

Abermals schüttelte Tahire ihren Kopf. Dann wurde ihr bewusst, dass Faizah ihre stumme Verneinung gar nicht sehen konnte.

»Wie … wie soll …« Sie brach ab, als im Verschlag nebenan ein paar Frauen zu schimpfen begannen. Schlagartig war die Halle von Leben erfüllt. Lichter flammten auf, während weitere Frauen in das Gekreische mit einstimmten.

»Ich habe mich hier drinnen umgesehen«, wisperte ihre Freundin. Ihre Stimme klang jetzt aufgeregt, fast schon verschwörerisch. »Hör mir zu, es ist wichtig. Da hinten in der Ecke sind ein paar der Bretter nicht richtig fest. Sie wackeln ein bisschen. Wir müssen versuchen, ob wir sie weiter lockern können.« Faizahs Griff wurde fester. »Das ist unsere Chance, Tahire. Wenn wir sie losbekommen, können wir uns hier rausschleichen und nach einem Weg suchen, diesen Männern zu entkommen.«

Der Tumult um sie herum wurde lauter. Mehr und mehr Frauen fingen an, gegen ihre Gefangenschaft zu rebellieren. Fäuste trommelten gegen das raue Holz, Füße traten gegen die Türen der massiven Holzverschläge. Auch in ihrer Zelle stimmten die Frauen in das Wehklagen mit ein. Weitere Lampen flammten auf und tauchten ihr Gefängnis in ein diffuses Halbdunkel.

Faizahs Griff verstärkte sich. Ihre Finger krallten sich nun schmerzhaft in Tahires Schulterblatt – sie rüttelten an ihr und rissen sie unsanft aus ihrer Lethargie.

Schlagartig erwachten ihre Lebensgeister, während ein Funke namens Hoffnung in ihrem Herzen aufflammte.

Allah hatte ihnen ein Zeichen gesandt. Er wies ihnen einen Weg, wie sie den schrecklichen Männern, diesen ungläubigen Monstern, entkommen konnten.

Sie sprang auf und streifte Faizahs Hand mit einer unwilligen Geste ab. »Zeig mir die Stelle«, sagte sie. »Allah hat uns ein Zeichen gegeben, du hast recht, eine bessere Gelegenheit als in dieser Nacht werden wir nie wieder bekommen.«


*


Ich hatte es mir auf dem Beifahrersitz unseres Dienstwagens bequem gemacht und überflog noch einmal die spärlichen Informationen, die uns über Hasan Alkbari vorlagen.

Die Eltern des getöteten V-Mannes waren vor dreiundzwanzig Jahren nach Deutschland immigriert. Sie stammten aus Syrien und waren über die Balkanroute in unser Land gekommen. Der kleine Hasan war damals gerade einmal zwei Jahre, seine Schwester und sein Bruder vier und fünf.

Ich blätterte weiter, suchte nach einem Hinweis, irgendeiner Information, die uns weiterhelfen konnte. Vergeblich! Außer einem Vermerk, dass der Deutsch-Syrer gelegentlich für den Verfassungsschutz gearbeitet hatte, gab die Akte nichts mehr Interessantes her.

»Ganz schön dürftig«, sagte ich und schaute auf. Ich brauchte ein paar Sekunden, um mich zu orientieren, wusste dann aber wieder, in welcher Ecke Frankfurts wir uns befanden.

»Ja, der Verfassungsschutz hat die Akte gedeckelt. Pia hat schon alles versucht, aber die wollen ums Verrecken keine weiteren Infos über Alkbari herausrücken«, erzählte meine Kollegin Fariba, die am Steuer des Mercedes saß. Sie blies sich eine schwarze Locke aus der Stirn und verzog das Gesicht zu einem freudlosen Grinsen. »Über die Familie haben sie angeblich auch nichts. Lachhaft, echt. Pia und ich hegen den Verdacht, dass noch jemand von den Alkbaris für den Verfassungsschutz arbeitet. Wir tippen auf den älteren Bruder.«

»Hmmm.« Ich wiegte den Kopf und verzog skeptisch das Gesicht.

»Es könnten aber natürlich auch der Vater oder die Schwester sein. Vielleicht finden wir es ja heraus, wenn wir nachher mit ihnen reden.«

»Schon möglich. Wie lange brauchen wir noch bis zu den Alkbaris?«

»Fünf Minuten! Wir sollten denen auf jeden Fall auf den Zahn fühlen und sie mit unserem Verdacht konfrontieren.«

»Sollten wir …«, nickte ich und starrte dabei aus dem Fenster. Das graue Band der Straße flog an mir vorüber. Meine Kollegin fuhr zügig, hielt sich jedoch an die vorgeschriebene Geschwindigkeit.

»Die mit ihrer verdammten Geheimniskrämerei«, sagte ich. »Man sollte nicht meinen, dass wir alle für dasselbe Land arbeiten.«

»Tun wir das?« Fariba lachte heiser. »Manchmal habe ich da ehrlich gesagt so meine Zweifel.« Sie blickte mich kurz an und lächelte entschuldigend. »Du merkst, ich mag den Verfassungsschutz nicht. Die meinen nämlich immer, sie wären was Besseres und stünden über dem Gesetz.«

Ihr Blick suchte meinen. Ich nickte, verkniff mir jedoch einen Kommentar. Ich wollte keine Stimmung gegen eine andere Behörde machen.

»Zwei Kollegen von mir haben damals in der NSU-Geschichte ermittelt«, plauderte meine Kollegin weiter. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, was für eine Tracht Prügel die vom Verfassungsschutz einstecken mussten. Das war echt unterste Schublade. Die beiden können froh sein, dass sie noch beim LKA sind.«

Ich nickte erneut. Auch mir waren solche Geschichten schon zu Ohren gekommen. »Ja, um den Verfassungsschutz ranken sich viele Gerüchte«, sagte ich. »Das soll uns aber nicht weiter stören. Wir haben mit denen nichts zu tun.«

»Um den Bundesnachrichtendienst sind es nicht weniger«, warf meine Kollegin spitz ein. Sie wandte ihr Gesicht nun wieder der Straße zu. Ihr Lächeln schien eingefroren, maskenhaft und verkrampft. Sie war eine Frau voller Gegensätze. Ihr Körper, glauben Sie mir … sie hatte Kurven, die jeden Mann zwangsläufig zum Spanner machten. Hammer!

Ein echter Hammer war auch ihr Gesicht, denn es war von irritierender Hässlichkeit. Es wirkte asymmetrisch, beinahe verunstaltet, irgendwie schien nichts da zu sein, wo es eigentlich hingehörte. Doch das eigentlich Verstörende waren ihre blassgrünen Augen. Sie standen viel zu weit auseinander, was ihr – ich kann es nicht anders umschreiben – ein exotisches, fast schon katzenhaftes Aussehen verlieh.

Mich störte das nicht. Ich hatte mir abgewöhnt, Menschen nach ihrem Aussehen zu beurteilen. Im Krieg lernte man so etwas – es ist überlebenswichtig.

Ich schloss die Augen und dachte an Afghanistan. Ich rief mir das Bild des kleinen Mädchens ins Gedächtnis, das sich inmitten einer Gruppe amerikanischer GIs in die Luft gesprengt hatte. Sie hatte gelächelt und mir kurz zugezwinkert. Sekunden später betätigte sie dann den Zünder. Ihr hübsches Lächeln erlosch, als die Bombe unter ihrem schmutzigen Mantel sie und die Soldaten in den Tod riss.

Eine schreckliche und dennoch lehrreiche Erfahrung: Beurteile einen Menschen also nie nach seinem Äußeren.

»Nein, ernsthaft jetzt. Ich will mit denen nix zu tun haben, Mark. Wenn die in die Ermittlungen einsteigen, bin ich raus«, sagte Fariba in scharfen Ton.

Ich nickte. Fariba Sedate war eine Frau, die genau wusste, was sie nicht wollte. Jedes weitere Wort von mir hätte die Diskussion nur weiter angefacht. Ich sah sie an. Von der Seite betrachtet sah sie gar nicht so übel aus.

Laut ihrer Personalakte war sie vierunddreißig, ledig, Hauptkommissarin beim Landeskriminalamt und gebürtige Iranerin – sie bezeichnete sich selbst jedoch als Perserin.

Auch das war mir egal. Mich interessierte nur ihr Ruf, eine erstklassige Ermittlerin zu sein.

»Wir sind da.« Fariba fuhr den Mercedes rechts ran. Ich sah, wie sie ihren Arm ausstreckte und auf ein Haus deutete, das keine zwanzig Meter entfernt auf der anderen Straßenseite stand.

»Der Backsteinbau, dort?«

»Ja.«

»Okay … Sieht ganz schön heruntergekommen aus. Bin gespannt, ob da überhaupt noch jemand wohnt.«

»Laut Einwohnermeldeamt schon.« Fariba sprach akzentfreies Deutsch. »Elf Personen, um genau zu sein. Alle syrischer Abstammung. Zwei davon sind Kinder.«

»Sind die alle miteinander verwandt?«

»Nein! Jedenfalls nicht dem Namen nach.«

Ich nickte, sagte jedoch nichts. Ich hatte eine flüchtige Bewegung hinter einem der Fenster ausgemacht. Jemand war kurz, ganz kurz gegen die Gardine gestoßen, während er aus dem Fenster gelunzt hatte.

»Wir werden beobachtet«, sagte ich. »Das dritte Fenster von links. Erster Stock.«

Fariba nickte kurz, stieß den Wagenschlag auf und schwang sich aus dem Mercedes – ihre Art sich zu bewegen hatte etwas Anmutiges, Elegantes; es wirkte kraftvoll und sexy. Mein Blick folgte ihr. Ich war mir sicher, dass ihre hautenge Jeans das Aussteigen nicht schadlos überstehen würde. Doch der Stoff hielt – ich atmete auf.

Für zwei, drei Sekunden klebte mein Blick noch an ihren Rundungen, dann riss ich mich von ihrem Anblick los und konzentrierte mich wieder auf das alte Backsteingebäude.

Der kastenförmige Bau wirkte beinahe ebenso verlottert wie das verwilderte Grundstück, das von einem verrosteten Maschendrahtzaun umschlossen wurde, allerdings nur lückenhaft.

Es nieselte leicht, ich zog die Schultern hoch. Mein Blick checkte die Umgebung, flog über Hausfassaden, wanderte die Straße entlang, heftete sich an Autos, Passanten und Schulkinder. Nichts Verdächtiges zu sehen. Alles war genau so, wie es morgens kurz vor halb acht in einer belebten Straße in Frankfurt-Preungesheim sein sollte.

»Alles klar?« In Faribas Stimme schwang eine Portion Ungeduld mit. Sie hob die linke Augenbraue und musterte mich.

Ich schaute zum Haus. Die Gardine erzitterte erneut. Wer auch immer da hinter dem Fenster stand, ließ uns keine Sekunde aus den Augen.

»Stehen wir hier noch länger im Regen oder gehen wir endlich rein?«

»Wir gehen rein«, sagte ich, zögerte jedoch noch kurz. Irgendetwas …? Ich schaute zum Himmel, meine Kopfhaut kribbelte. Kein gutes Zeichen.

Gott, wie armselig!

Während ich weiter in den Himmel starrte, trabte meine Kollegin bereits auf das Haus zu. Ich hörte das Quietschen der Torangeln und zwang mich, meinen Blick zu senken. Fariba stand bereits vor der verwitterten Haustür und studierte die Namen auf den seitlich angebrachten Klingelschildchen. Wortlos hob sie die Hand und deutete auf ein paar Fenster, die sich im linken Teil des ersten Stockwerks befanden.

Das Kribbeln meiner Kopfhaut verstärkte sich. Ich kämpfte den Drang nieder, ständig in den Himmel zu starren. Zügig überquerte ich die Straße und betrat das Grundstück, meine Kniescheibe schmerzte noch immer bei jedem Schritt.

Faribas rechter Zeigefinger schwebte keine Handbreit über der Klingel. »Dann wollen wir mal«, sagte sie und drückte ihren rot lackierten Fingernagel auf den schwarzen Knopf.

Ich hörte das Rasseln einer Klingel. Dann … einen erstickten Aufschrei. Keine Sekunde später brach über unseren Köpfen die Hölle los.

Mark Feller

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