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2 Wirren der Gegenwart

Die Komplexität der globalen Krise

Wenn der Wind der Veränderung weht, bauen die einen Mauern und die anderen Windmühlen. CHINESISCHES SPRICHWORT

Das Wort Krise setzt sich im Chinesischen aus zwei Schriftzeichen zusammen – das eine bedeutet Gefahr und das andere Gelegenheit. JOHN F. KENNEDY

Migration ist eines der Themen, welches aufgrund seiner zunehmenden Brisanz sehr viele Menschen bewegt. So wird auch in Deutschland spätestens seit 2015 äußerst heftig und kontrovers über die Migrationsthematik debattiert. Der öffentliche Diskurs ist auffallend emotionsbehaftet und zeichnet sich unter anderem durch simplifizierte Meinungen, moralische Zuschreibungen, vorurteilsbehaftete Standpunkte und manipulative Meinungsmache aus. Die Debatte zeigt, wie sehr sich diejenigen, die für eine Abschottungsregelung plädieren, darüber empören, mit vermeintlich »fremden« Problemen konfrontiert zu werden, für die sie sich weder verantwortlich noch zuständig fühlen. Sie offenbart aber auch die Ohnmacht jener, die vom Leid und Schicksal der Menschen betroffen, erkennen müssen, dass weit und breit keine ernst zu nehmenden Lösungen in Sicht sind, zu denen sie beitragen könnten. Die gegenwärtigen Maßnahmen scheinen in Anbetracht der gewaltigen Herausforderungen als unzureichendes Flickwerk, als der berüchtigte Tropfen auf dem heißen Stein.

Flüchtlinge verlassen zumeist nicht ohne triftigen Grund ihre Heimat. Sie flüchten in der Regel vor Bedingungen, die ein menschenwürdiges und sicheres Leben verunmöglichen. Die Ursachen der aktuellen Flüchtlingsströme liegen in unerträglichen und aussichtslosen Lebenswirklichkeiten wie Krieg, Unterdrückung, Ausbeutung, Terror, Armut, Verfolgung, Diskriminierung oder Umweltzerstörung. Diese destruktiven Lebensumstände sind auf vielschichtige und multikausale Fehlentwicklungen zurückzuführen, welche die betreffenden Länder in der Regel nicht allein und autonom abwenden können. Das Thema Migration hält der Menschheit schonungslos den Spiegel vor. Es enthüllt, dass in Bezug auf die Lebensrealitäten eine bedrohliche Schieflage vorliegt, die von extrem komplexer Natur ist. Angesichts dieser fundamentalen Ungleichheiten hilft es nicht weiter, kommunal, auf Länderebene oder nationalstaatlich nach Lösungen zu suchen, so begrüßenswert dies auch sein mag. Selbst eine größere Gemeinschaft wie die Europäische Union wird hier keinen nachhaltigen Ausweg weisen können. Der Kern des Problems ist von globaler Natur und erfordert daher ein vereintes, engagiertes Handeln im übernationalen Kontext, weit über die Anstrengungen einzelner Aufnahme- und Herkunftsländer hinaus.

— Wendezeit

Wohin führt die globale Krise?

Die Flüchtlingsproblematik ist, wenn auch schwerwiegend, leider nur eines von vielen Übeln, welche die Menschheit heute plagen. In Summe führen das Zusammentreffen mannigfacher Probleme und die Verkettung vieler destruktiver Umstände zu einer komplexen Krise globalen Ausmaßes. Diese Erkenntnis ist nicht neu. » Was wir heute an der Neuzeit am unausweichlichsten wahrnehmen, … ist ihre Krise«1, bemerkte schon der deutsche Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker (1912-2007). Und auch der österreichische Physiker und Systemtheoretiker Fritjof Capra (*1939) wies bereits 1982 in seinem Bestseller Wendezeit auf die Tiefe und Vielgestaltigkeit dieser weltweiten Krise hin: »[Wir] befinden … uns inmitten einer tiefgreifenden, weltweiten Krise. Es handelt sich um eine vielschichtige, multidimensionale Krise, deren Facetten jeden Aspekt unseres Lebens berühren – unsere Gesundheit und Lebensführung, die Qualität unserer Umwelt und unsere gesellschaftlichen Beziehungen, unsere Wirtschaft, Technologie und Politik. Es ist eine Krise von intellektuellen, moralischen und spirituellen Dimensionen, von einem Umfang und einer Eindringlichkeit, wie sie in der aufgezeichneten menschlichen Geschichte ohne Beispiel dasteht. Zum ersten Male sind wir von der sehr realen Gefahr der Auslöschung der menschlichen Rasse und des gesamten Lebens auf diesem Planeten bedroht.«2

Seitdem diese Zeilen vor fast 40 Jahren niedergeschrieben wurden hat sich die Krise weiter zugespitzt und der mit ihr verbundene Umwälzungsprozess wird Tag für Tag deutlicher. Nach Meinung des österreichischen Wirtschaftswissenschaftlers Fredmund Malik (*1944) ist eine tiefgreifende gesellschaftliche Transformation im Gange, die ihresgleichen in der Geschichte sucht: »Wirtschaft und Gesellschaft so gut wie aller Länder gehen durch eine der fundamentalsten Umwandlungen der Geschichte… Wir sind Zeitzeugen einer umwälzenden Transformation der alten Welt, wie wir sie kannten, in eine neue Welt des noch Unbekannten. Es ist die Entstehung einer grundlegend neuen Ordnung und eines neuen gesellschaftlichen Funktionierens – und eine gesellschaftliche REvolution einer neuen Art. In wenigen Jahren wird fast alles neu und anders sein: was wir tun, wie wir es tun und warum wir es tun – wie wir produzieren, transportieren, finanzieren und konsumieren, wie wir pflegen und heilen, erziehen, lernen, forschen und innovieren, wie wir informieren, kommunizieren und kooperieren, wie wir arbeiten und leben.«3

Man fragt sich zu Recht: Wird diese »Welt des noch Unbekannten« menschenwürdig und erstrebenswert sein? Wird sich die gegenwärtige Krise zum Guten wenden oder in einer Katastrophe enden? Aktuell scheint offen, wohin die Reise geht. Eines wird jedoch immer deutlicher: Möchte die Menschheit die unzähligen Missstände und Gefahren abwenden, muss sie dazu die hinter den Symptomen liegenden Ursachen erkennen, ausgerichtet an einer zukunftsfähigen Vision tragfähige Lösungen entwickeln und diese schließlich, einer Herkulesarbeit gleich, Schritt für Schritt beherzt und systematisch umsetzen. In den folgenden Abschnitten werden die Entstehung sowie die Hauptmerkmale der aktuellen Krise skizziert, um ein besseres Verständnis ihrer Ursachen zu gewinnen. Begonnen hat alles mit einer Entwicklung, die an sich sehr positiv ist: dem wissenschaftlichen Fortschritt.

— Untertan Erde

Die Explosion von Wissen und Technologie

Seitdem im Alten Testament Gottes Auftrag an den Menschen, sich die Erde untertan zu machen, formuliert wurde, ist viel geschehen. Der Mensch erforscht mittlerweile nicht nur die unendlichen Weiten des Weltalls, sondern blickt auch bis ins Innerste der Atome. Unaufhaltsam entlockt er der Schöpfung Geheimnisse und nutzt diese geschickt, um die einst von der Natur gesetzten Grenzen stetig auszuweiten. Beinahe täglich werden wir Zeuge neuer Entdeckungen und Möglichkeiten.

Die Wissensexplosion

Dabei entwickelte sich unser Wissen über die Zeit hinweg nicht gleichmäßig. Vielmehr wurden die Zyklen, in denen sich das menschliche Wissen jeweils verdoppelte, beständig kürzer. Während es noch etwa 100 Jahre dauerte, bis das Wissen von 1850 auf das Doppelte anstieg, sind wir heute, je nach Definition von Wissen, schon bei Verdopplungszyklen von wenigen Jahren, wenn nicht gar Monaten, angelangt.4

Noch wichtiger als die quantitative Zunahme des Wissens sind die Qualität und Relevanz unserer Erkenntnisse. Die zunehmende Tiefe unseres Verständnisses von der Welt versetzt uns in die Lage, machtvolle Instrumente zu entwickeln. Richtig eingesetzt, können diese technologischen Innovationen unser Leben erleichtern und uns bis dato unvorstellbare Freiheiten und Möglichkeiten verschaffen. Vieles, was für uns heute alltäglich ist, hätte noch vor 150 Jahren als undenkbares Wunder gegolten. Angenommen, wir könnten mittels einer Zeitreise in das Jahr 1850 gelangen - wie könnte man den Menschen dort unsere digitalisierte Welt erklären? Wie ließe sich beispielsweise ein PC, ein Smartphone oder eine Playstation beschreiben? Vermutlich würden wir keine geeignete Beschreibung finden, anhand derer sich ein Mensch des 19. Jahrhunderts eine realistische Vorstellung von unseren technischen Geräten machen, geschweige denn ihre Funktionsweise auch nur ansatzweise begreifen könnte.

Herausforderungen im Umgang mit machtvoller Technologie

Nun ist natürlich nicht alles, was heute möglich ist, auch risikolos einsetzbar. Jede neue Möglichkeit hat in aller Regel auch eine Schattenseite, mit der es angemessen umzugehen gilt. So kann beispielsweise unser Wissen um die Eigenschaften der Atome auf sehr unterschiedliche Weise genutzt werden: entweder zur Herstellung von Massenvernichtungsmitteln mit unvorstellbarer Zerstörungskraft oder aber zur Erzeugung von Strom – welch fundamentaler Unterschied! Aber selbst die friedliche Nutzung der Atomkraft zur Energieerzeugung ist, wie wir alle wissen, nicht unproblematisch. So stellt sich bei den heutigen Kernkraftwerken neben der Sicherheitsfrage vor allem die Frage nach der sicheren Lagerung des unvermeidbaren atomaren Abfalls.

Ein weiteres Beispiel stellt die stetig voranschreitende Digitalisierung dar. Dieses vergleichsweise noch sehr junge Phänomen revolutioniert unsere Arbeits- und Lebenswelten und erlaubt uns völlig neue und großartige Möglichkeiten des Informationsaustausches und der Zusammenarbeit. Was wäre unsere heutige Gesellschaft ohne sie? Allerdings verläuft der Prozess der Digitalisierung gleichermaßen rasant wie unterschwellig. Tatsächlich ist vielen die Tragweite des sich bereits am Horizont abzeichnenden Digitalisierungstsunamis noch gar nicht bewusst. So ist die Gesellschaft beispielsweise nicht darauf vorbereitet, dass in absehbarer Zeit möglicherweise eine gewaltige Anzahl ihrer Bürger im vorherrschenden Wirtschaftssystem keinen Platz mehr haben wird. Es ist dringend zu klären, wie der Prozess der Digitalisierung in Anbetracht seiner vielfältigen Konsequenzen sinnvoll zu gestalten ist. Wer wäre in der Lage, hierzu die notwendigen Rahmenbedingungen vorzugeben?

Die durch den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt entstandenen neuen Möglichkeiten sind nicht nur untrennbar mit einer Entscheidungs- und Gestaltungsaufgabe verknüpft. Je nachdem, wo die Entscheidungsgewalt liegt, stellt sich zudem die Machtfrage, die ebenfalls eine Lösung erfordert. Wer ist legitimiert zu entscheiden, welche Technik in welcher Form eingesetzt werden darf? Kann es beispielsweise auf Dauer funktionieren, dass der Westen bestimmt, welche Länder über atomare Technologien verfügen dürfen?

Doch damit nicht genug: Mit dem ungeheuren Fortschritt in Wissenschaft und Technik gehen auch die beiden Mega-Trends der Globalisierung und der Individualisierung einher, welche die Herausforderung, mit den vorhandenen Möglichkeiten vernünftig und zum Wohle aller Menschen umzugehen, weiter erschweren. Um diese beiden Trends soll es in den folgenden Abschnitten gehen.

— Megatrend Globalisierung

Globales Dorfleben

Unter Globalisierung versteht man den Prozess der zunehmend grenzüberschreitenden und weltweiten Verflechtung von Gesellschaft, Wissenschaft, Wirtschaft, Umwelt, Politik und Kultur. Diese Bereiche sind untereinander durch eine große Anzahl verwobener Prozesse zur Gewinnung und Verteilung von Waren, Energie, Rohstoffen, Kapital, Technologien, Informationen und Dienstleistungen verbunden. Die sich daraus ergebende Vielzahl gegenseitiger Abhängigkeiten und Wechselbeziehungen zeigt sich auf der Ebene von Individuen, Institutionen, Gesellschaften und Staaten.

Die Allgegenwart der Globalisierung

Der deutsche Kabarettist Urban Priol (*1961) verdeutlichte die Allgegenwart der Globalisierung gleichsam unterhaltsam und plastisch am Beispiel des tragischen Unfalltodes von Lady Di: »Diana stammte aus England, ihr Freund aus Ägypten. Beide starben in einem Tunnel in Frankreich in einem Wagen aus Deutschland mit einem Motor aus Holland und einem Fahrer aus Belgien. Der hatte Whiskey aus Schottland im Blut. Paparazzi aus Italien verfolgten sie auf japanischen Motorrädern. Ärzte aus Amerika leisteten Erste Hilfe mit Medikamenten aus Brasilien. Den Untersuchungsbericht schrieb ein Luxemburger auf einem chinesischen PC mit Chips aus Taiwan, Monitor aus Korea und einer Tastatur aus Vietnam. Arbeiter aus Bangladesch hatten den PC in Singapur zusammengesetzt. In der Fabrik eines Inders. Und die Trümmer des Unfallautos entsorgten algerische Müllmänner, um den Wagen bei Auto-Osman aus der Türkei für den Export in den Libanon fertig zu machen.«5

Darüber, wann genau der Prozess der Globalisierung begann, bestehen unterschiedliche Ansichten. Uneingeschränkte Einigkeit herrscht jedoch darüber, dass er sich speziell in den letzten Jahrzehnten im Zuge des explodierenden technischen Fortschritts ungeheuer beschleunigte. Hierzu trugen unter anderem die modernen Transport- und Kommunikationstechnologien bei. Durch die technische Revolution wurden quasi sämtliche räumlichen und zeitlichen Grenzen aufgehoben. Die neuen Möglichkeiten machten uns mobil und unseren Heimatplaneten klein. Der kanadische Medienwissenschaftler Marshall McLuhan (1911-1980) prägte hierfür bereits 1962 den Begriff »Global Village«. Was dem Fußgänger und Kutschenfahrer von einst noch als unendliche Weite erschien, ist für den mit Smartphone und Laptop ausgestatteten Flugzeugnutzer zu einem globalen Dorf geschrumpft. Dieses Schrumpfen der Maßstäbe und das damit verbundene Zusammenrücken der Menschen zeigt sich heute in allen Lebensbereichen.

Wirtschaft

Betrachten wir zunächst den Wirtschaftssektor. Weltweiter Handel ist keine neue Erscheinung und seine Geschichte reicht weit zurück. Genau genommen war wirtschaftliches Handeln von Anfang an eine grenzüberschreitende Angelegenheit, in der politische Barrieren stets künstliche Hindernisse darstellten. Wirtschaftliche Arbeitsteilung folgt wirtschaftlichen, technischen und geografischen Gegebenheiten weitaus mehr als willkürlich gezogenen, politischen Grenzen. So ist es nur logisch, dass der stets nach Expansion und größtmöglichem Wachstum strebende Wirtschaftssektor die neuen technologischen Möglichkeiten sehr schnell zu seinem Vorteil nutzte. Sie verhalfen ihm zu bisher ungeahnten Möglichkeiten des Handels und der Produktion. In dem Maße, wie die Transportmittel schneller, effizienter und sicherer, und gleichzeitig die Transportkosten gesenkt wurden, nahm der internationale Handel signifikant zu und eroberte neue Märkte. Ausgeklügelte Computer- und Logistiksysteme verbanden problemlos weit entfernte Gebiete und eröffneten der Wirtschaft die Möglichkeit, sich global zu organisieren und einzurichten. Im Zuge dieser förderlichen Voraussetzungen war es aus ökonomischer Sicht nur folgerichtig, mittels Liberalisierung und Deregulierung sukzessiv Regelungen und Vorschriften abzuschaffen, die das globale Wirtschaftswachstum bremsten. Heute agiert die Wirtschaft global, stets davon getrieben, die verfügbaren Ressourcen und regionalen Vorteile bestmöglich zu nutzen. Kapital-, Güter-, Dienstleistungs- und Arbeitsmärkte sind mittlerweile längst zusammengewachsen. In diesem Zuge haben sich die einst weitgehend selbstständig agierenden Volkswirtschaften zusehends aufgelöst und sind zu einer Weltwirtschaft verschmolzen. Was zu Urzeiten mit persönlichen Tauschgeschäften begann, führte über regionale, überregionale, nationale und kontinentale Märkte schließlich zum globalen Handel.

Wissenschaft

Wie die Wirtschaft war auch die Wissenschaft ihrer inneren Logik nach für die Globalisierung prädestiniert. Für den wissenschaftlichen Entdeckergeist ist stets die Welt als Ganzes mit ihren unzähligen Phänomenen Ziel seines Interesses. Mit wachsenden technischen Möglichkeiten dehnte sich auch der Erkundungskreis der Wissenschaftler aus. Schritt für Schritt wurde die ganze Erde, ja das gesamte Universum, zum Ziel wissenschaftlicher Forschung und bewirkte das Entdecken immer neuer Phänomene und Zusammenhänge. Der technische Fortschritt ermöglichte es, sich mit den Forschern anderer Nationen, unabhängig ihrer Herkunft, Religion oder Kultur auszutauschen und der Lösung wissenschaftlicher Rätsel gemeinsam näher zu kommen. Die drastische Zunahme der weltweiten Zusammenarbeit von Forschern und die Entwicklung von internationalen Forschungsprojekten und Studien belegen, dass wissenschaftliche Erkenntnisse in vielen Fällen bereits längst ein globales Unterfangen geworden sind.

Politik

Auch die Politik zeigt einen unübersehbaren Globalisierungstrend. Im Vergleich zu Wirtschaft und Wissenschaft gestaltet sich der Übergang von nationalen Ordnungsprinzipien zu global agierenden Organisationen jedoch schleppend. Wenngleich erste ernsthafte Bemühungen hierzu bereits vor hundert Jahren mit der Gründung des Völkerbundes unternommen wurden, erfolgt die politische Diskussion heute immer noch weitgehend aus einer nationalstaatlichen Perspektive. Obgleich der Globus im Grunde längst zu einem einzigen großen Land zusammengeschrumpft ist, empfinden sich nach wie vor selbst moderne Menschen weniger als Weltbürger, denn als die Bürger ihres Heimatlandes. Politisches Denken und Entscheiden ist weitgehend noch nationalstaatlich geprägt. Wie labil und verletzbar übernationale Bündnisse gegenwärtig noch sind, zeigt sich eindrucksvoll am Beispiel der Europäischen Union. Für diesen Zusammenschluss sprechen über die wirtschaftlichen Vorteile hinaus eine Vielzahl weiterer, äußerst einsichtiger Argumente. Und dennoch erleben wir, wie schnell Schwierigkeiten bei der praktischen Umsetzung der »Europäischen Idee« dazu führen, dass rückwärtsgerichtete, nationalistische Kräfte Aufwind erhalten und die noch junge Einheit und ihre Errungenschaften ernsthaft gefährden.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sowohl die Errichtung übernationaler Institutionen, wie zum Beispiel der Vereinten Nationen, als auch zahlreiche internationale Bündnisse und Verträge in ihrer aktuellen Form lediglich als Zwischenschritte auf dem Weg zu einer politisch globalisierten Menschheit betrachtet werden können.

Religion

Ähnlich mühsam wie die politische Globalisierung gestaltet sich die der Religion. Da das Denken der meisten Menschen heute noch überwiegend nationalstaatlich und von den vorherrschenden kulturellen Wurzeln geprägt ist, wundert es wenig, dass viele Menschen diejenigen Werte und Glaubensvorstellungen, mit denen sie aufgewachsen sind, als richtig und anderen überlegen erachten. Diese enge und vorurteilsbeladene Haltung bremst ungemein die Entwicklung eines gemeinsamen Verständnisses, das eine neue, Grenzen überwindende Identität schaffen könnte.

Benötigt wird vor allem ein Weltethos, welches als gemeinsame Wertebasis das Denken, Fühlen und Handeln der Menschen verbindet und deren grundlegende Bedürfnisse und Interessen repräsentiert. Sollen globale Ordnungsprinzipien der Menschheit nachhaltig zu Frieden, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit verhelfen, so kann erst ein geeignetes Weltethos dieses System mit Leben füllen.

— Globale Risiken und Nebenwirkungen

Die Menschheit als Weltschicksalsgemeinschaft

Die Globalisierung ist heute eine unübersehbare Realität. Ausmaß und Struktur der weltweiten Arbeitsteilung sind inzwischen so ausdifferenziert und intensiv geworden, dass zumindest aus wirtschaftlicher Sicht die jeweiligen Staatsgrenzen nahezu an Bedeutung verloren haben. Aber auch der Einzelne pflegt inzwischen einen globalisierten Lebensstil: So studiert der moderne Mensch einige Semester in der Ferne, arbeitet bei Global Playern, investiert sein Vermögen an internationalen Märkten, konsumiert im World Wide Web Produkte aus aller Welt, bereist die entferntesten Gebiete der Erde, genießt die Schätze und Schönheiten fremder Kulturen, pflegt internationale Freundschaften und verfolgt per Mausklick die weltweiten Geschehnisse.

Den Prozess der Globalisierung umzukehren, wie es einige Skeptiker anraten, wäre weder möglich noch wünschenswert. Dennoch hat die Globalisierung viele Schattenseiten und beschert der Menschheit eine Reihe existenzieller Herausforderungen. Ein Paradebeispiel hierfür ist die gegenwärtige ökologische Krise.

Die ökologische Krise

Der globale, vom Profit gesteuerte Feldzug der Wirtschaft sowie das gesteigerte Konsumverhalten der Menschen haben inzwischen überall auf der Erde deutliche Spuren hinterlassen und unübersehbare Reaktionen ausgelöst. Unser Ökosystem leidet erheblich an unserer modernen Lebensweise. Vor der industriellen Revolution waren Eingriff und Einfluss des Menschen auf seine Umwelt vergleichsweise gering und zudem lokal begrenzt. Die betroffenen Teile unseres Ökosystems konnten sich daher in der Regel immer wieder regenerieren. Mit den ungeheuren technischen Möglichkeiten wurden jedoch zusehends gravierendere Verletzungen der natürlichen Prozesse möglich und die Schäden dadurch global spürbar. Heute kann beispielsweise ein Unfall in einem Atomreaktor ganze Regionen auf lange Sicht verheeren.

Weniger spektakulär, aber nicht weniger schädlich, wirkt sich in Summe der Umgang von inzwischen etwa acht Milliarden Menschen mit den natürlichen Ressourcen der Erde aus. So trägt das immer noch anhaltende Wachstum der Weltbevölkerung zusammen mit dem stetig steigenden Pro-Kopf-Verbrauch maßgeblich zur aktuellen Umweltkrise bei. Solange es sich große Teile der Menschheit erlauben, egoistisch, nachlässig und kurzsichtig zu konsumieren, während andere Teile der Menschheit ums Überleben kämpfen und es sich daher auch nicht leisten können, ausreichende Umweltstandards einzuhalten, werden die endlichen Ressourcen und Reichtümer unserer Erde zwangsläufig ausgebeutet und das Ökosystem nachhaltig geschädigt. Das durch den weltweiten Handel enorm gestiegene Verkehrsaufkommen bringt ebenfalls zahlreiche, unerwünschte Folgen mit sich.

Die zerstörerischen Auswirkungen dieser Lebensweise spiegeln sich nicht nur in Vermüllung, Verschmutzung, Vergiftung, Verödung, Erosion sowie Wald- und Artensterben wider, sondern schlagen sich auch in zahlreichen Naturkatastrophen nieder. Ihre Häufigkeit und ihr Ausmaß steigen weltweit auffällig an und führen zu weiteren Verheerungen. Sie beschädigen und zerstören nicht nur Ressourcen und Lebensgrundlagen, sondern kosten auch eine Unsumme Geld. Wohin man auch blickt, übersteigt die aktuelle Zerstörung unseres Ökosystems seine Fähigkeit zur Regeneration um ein Vielfaches.

Die Umweltprobleme und Katastrophen der Neuzeit lassen sich naturgemäß nicht auf Regionen oder Nationen beschränken. Sie kennen weder menschgemachte Grenzen noch machen sie vor ihnen halt. Von einem Land durch Nachlässigkeit, Existenznot oder Profitgier verursacht, treffen die Folgen auch andere, »unschuldige« Länder. Dieser Umstand macht deutlich, dass sich inzwischen kein Land mehr - einer Insel der Glückseligen gleich - vor ökologischen Katastrophen abschotten kann. Ebenso kann sich auch kein Land länger seiner Verantwortung im Hinblick auf das gemeinsame Ökosystem entziehen. Die Tatsache, dass die ganze Menschheit zum Verursacher und Leidtragenden eines unreflektierten, verantwortungslosen und ungeregelten Umgangs mit den Ressourcen des Planeten geworden ist, macht das Problem zu einer komplexen Angelegenheit, die nahezu unlösbar scheint.

Der übermächtige Einfluss des Menschen auf die Natur entfachte vor einiger Zeit unter den Wissenschaftlern eine Debatte darüber, ob er die Verkündigung einer neuen Epoche rechtfertigt. Seitdem spricht man immer häufiger vom Anthropozän – dem Zeitalter des Menschen.

Die soziale Krise

Zur ökologischen Schattenseite der Globalisierung gesellt sich auf nicht minder bedrückende Weise ihre soziale. Wenngleich der materielle Wohlstand der Menschheit durch den technischen Fortschritt und die expandierende Weltwirtschaft in Summe stetig zunimmt, so gibt es auch viele Verlierer. Zu ihnen gehören nicht nur einzelne Menschen, sondern ganze Volksgruppen und Nationen, die nicht einmal annähernd auf Augenhöhe am Globalisierungsprozess teilnehmen konnten. Die Globalisierung verhalf vor allem jenen Staaten und Konzernen zu gewaltigen Vorteilen, die in der Lage waren, die sich ihnen global bietenden Chancen aufgrund ihrer innovativen technologischen Möglichkeiten besser als andere zu ergreifen. Dies waren neben den Industrienationen, die darüber hinaus aufgrund ihrer Machtpositionen den anderen Staaten weitgehend die Spielregeln des Handelns diktieren konnten, vor allem die Schwellenländer, die unter hohen ökologischen und sozialen Folgekosten den Anschluss schafften. Übrig blieben die ärmsten Nationen, die sich nicht in die Weltwirtschaft integrieren konnten und infolgedessen von den anderen Staaten schonungslos als billige Rohstofflieferanten ausgebeutet wurden und immer noch werden.

Der Unterschied zwischen extremem Reichtum und bitterer Armut ist gravierend. Aktuell ist der Wohlstand auf beklemmende Weise ungleich verteilt und es existiert ein dramatisches Wohlstandsgefälle. Die Armut der ärmsten Nationen drückt sich in menschenunwürdigen und existenziell bedrohlichen Lebensrealitäten aus: Unter- und Mangelernährung, schlechter Gesundheitszustand, geringe Lebenserwartung, hohe Säuglings- und Kindersterblichkeit, niedriger Bildungsstand, Perspektivlosigkeit, Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit, Entwurzelung und Ausschluss von Sozialstrukturen.

Besonders beunruhigend ist, dass sich die Schere zwischen arm und reich nicht etwa schließt, sondern aktuell noch weiter auseinanderdriftet. Die extreme soziale Ungleichheit ist angesichts der großen Profiteure der Globalisierung nicht nur maßlos ungerecht, sondern birgt auch erhebliche Gefahren für politische Stabilität und Frieden. In dem Maße, wie sich in unserer globalen Gesellschaft eine zunehmende Zahl an Menschen aufs Gröbste benachteiligt fühlt, werden Ohnmacht, Wut und Verzweiflung immer weiter anwachsen. Dies fördert Emotionen, die national und international Hass und Gewaltbereitschaft schüren und nach Entladung drängen. Die Kluft zwischen Armen und Reichen zu verringern, ist daher nicht nur ein Gebot der Gerechtigkeit und der Menschlichkeit, sondern auch die zentrale Voraussetzung für die friedliche Zukunft jedes einzelnen Menschen, egal, wo er sich auf dem Globus befindet.

Die Gefahr von Krieg und Terror

Spätestens seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 ist klar, dass es nicht länger möglich ist, sich vor den bestehenden internationalen Asymmetrien zwischen den Staaten und Völkern der Welt zu verschließen. Die Terroranschläge offenbarten nicht nur die Wut der Benachteiligten über die Folgen und Ungerechtigkeiten der Globalisierung. Sie zeigten auch eindrucksvoll, dass sich der Terrorismus inzwischen selbst global organisiert hat und mittlerweile ein ungeheures Aktionspotenzial birgt. Terroristische Gruppen haben längst weltweite Netzwerke aufgebaut, die mit Hilfe des technologischen Fortschritts gleichermaßen effektiv wie effizient arbeiten. Das Unvermögen, terroristische Anschläge zuverlässig verhindern zu können, bewirkt mittlerweile auch im Westen Unsicherheit und Angst.

Das organisierte Verbrechen operiert mittlerweile ähnlich weltumspannend wie multinationale Konzerne und erobert aufgrund der großen Nachfrage zusehends neue Märkte. Mittels Umwelt- und Wirtschaftskriminalität, Menschen- und Waffenhandel, Drogenschmuggel, Korruption und Bestechung erwirtschaften kriminelle Organisationen inzwischen gigantische Summen. Die Liberalisierung des Handels eröffnet ihnen über Ländergrenzen hinweg zahlreiche Möglichkeiten, und die Deregulierung der Finanzmärkte macht die »Legalisierung« ihrer Profite fast zu einem Kinderspiel. Vom organisierten Verbrechen geht eine ernst zu nehmende Gefahr für das Wirtschaftsleben und die sozialen Systeme aus. Die Verfolgung der Straftaten ist hingegen eine Sisyphusarbeit, die angesichts der fehlenden übernationalen Ordnungsprinzipien und des Mangels an konzertierter Zusammenarbeit in den seltensten Fällen nachhaltig gelingt.

In einer globalisierten Welt besteht die reale Gefahr, dass dauerhafte soziale Ungleichgewichte in Kombination mit der immer leichteren Verfügbarkeit von Massenvernichtungswaffen in einem Ausmaß zu Krieg und Terror führen, welches die Menschheit bisher noch nicht erlebt hat.

Die Aufzählung der Probleme, welche die Menschheit heute plagen, ließe sich weiter fortführen. Sie verdeutlicht den Ernst der Lage und zeigt, wie weit wir davon entfernt sind, die Globalisierung so zu gestalten, dass die Menschheit als Ganzes davon profitiert. Die großen Menschheitsprobleme sind nicht nur komplex, sondern von globaler Tragweite. Als Mitglieder einer Weltschicksalsgemeinschaft sitzen alle in einem Boot, auch wenn dies noch nicht allen gleichermaßen bewusst ist. Um das Wesen globaler Probleme noch genauer zu verstehen, ist es hilfreich, sich mit einem Phänomen zu beschäftigen, welches als Allmende-Dilemma bekannt ist.

— Tragik der Allmende

Das Fehlen globaler Problemlösungsstrategien

Man stelle sich einen See vor, der von mehreren Fischern bewirtschaftet wird. Solange nachhaltig gefischt wird, ist die für alle wichtige Reproduktionsfähigkeit des Fischbestands gewährleistet. Die Situation kann sich jedoch schnell ändern, wenn die Zahl der Fischer zunimmt oder die Fangrate gesteigert wird. Sobald beides ein bestimmtes Ausmaß erreicht, droht eine Überfischung des Sees. Um den Fischbestand auf Dauer zu erhalten und langfristig den Lebensunterhalt der Fischer zu sichern, müsste die Fangrate dringend wieder reduziert werden.

Das Allmende Dilemma

Wie stellt sich eine solche Situation in der Praxis dar? Wie werden sich die Fischer angesichts dieser ernsten Gefahr tatsächlich verhalten? Obgleich die meisten Fischer durchaus erkennen, dass es höchste Zeit ist, gegenzusteuern, wird ihnen diese Tatsache jedoch mit dem Blick auf ihr Portemonnaie nicht gefallen. Infolgedessen werden vermutlich nur sehr wenige ihre Fangrate zum Erhalt des Fischbestands und zum Wohle der Fischergemeinschaft einschränken. Kaum einer möchte zu den »Dummen« gehören, die freiwillig Abstriche machen, während andere ungeniert weiter profitieren. Die große Mehrheit wird daher versuchen, noch möglichst viel Profit zu erzielen, bevor die Einnahmequelle erschöpft ist. Manch einer wird dabei hoffen, dass die Mahner womöglich doch übertrieben haben und sich die bedrohliche Lage mit etwas Glück in Wohlgefallen auflöst. Und so wird schließlich der Tag kommen, an dem der See leergefischt und allen Fischern die Lebensgrundlage entzogen ist.

Die eben skizzierte Problematik lässt sich überall beobachten, wo Ressourcen gemeinschaftlich genutzt werden. Sie wird als »Allmende-Dilemma« oder »Tragik der Allmende« bezeichnet. Der Begriff Allmende leitet sich aus der englischsprachigen Entsprechung für Gemeingut (»commons«) ab6 und wurde einem breiten Publikum 1968 durch den amerikanischen Mikrobiologen und Ökologen Garrett Hardin (1915-2003) bekannt.7 Die Tragik der Allmende besagt, dass jedes frei verfügbare Allgemeingut, welches begrenzt ist, von einer Übernutzung bedroht ist, die in letzter Konsequenz die Nutzer selbst gefährdet.

Der Planet als globales Gemeinschaftsgut

Überall dort, wo der Einzelne einen Nutzen hat, die Kosten aber von der Gemeinschaft getragen werden, lauert das Allmende-Dilemma. Das Dilemma verschärft sich mit der Größe und Bedeutung der Ressource sowie dem Umfang und der Anonymität des Nutzerkreises.

Es ist unschwer zu erkennen, dass viele der globalen Herausforderungen typische Allmende-Probleme sind. Die Ressource, um die es im globalen Zeitalter geht, ist unser gesamter Planet und die Nutzer sind alle Menschen gleichermaßen. Menschen greifen gewollt oder ungewollt, bewusst oder unbewusst in das Ökosystem Erde ein. Wenngleich die wenigsten Menschen, Firmen, Konzerne oder Staaten absichtlich das Ökosystem durch Übernutzung schädigen oder gar an den Rand der Zerstörung treiben möchten, so wird dennoch für wirtschaftliche Interessen massiv in das Ökosystem eingegriffen. Werden die Eingriffe in Summe zu groß, ist eine nachhaltige Nutzung nicht mehr gewährleistet. Dann gerät selbst ein so großes System wie unser Heimatplanet langsam, aber sicher aus dem Gleichgewicht. Ob CO2- und Schadstoffausstoß, Überfischung und Vermüllen der Ozeane, extensive Landwirtschaft oder Abholzung von Wäldern – immer haben einige wenige einen kurzfristigen Vorteil, während die große Rechnung früher oder später von der gesamten Menschheit zu begleichen ist.

Da die Erde eine sehr große Ressource darstellt, kann es lange Zeit dauern, bis der Raubbau in den einzelnen Bereichen seine Auswirkungen zeigt. In manchen Fällen werden erst die nachfolgenden Generationen die Leidtragenden sein. Auf Dauer ist es jedoch die gesamte Menschheit, welche die dramatischen Folgen unseres sorglosen Umgangs mit den Ressourcen der Erde zu spüren bekommt.

Das Fehlen einer Global Governance

Die Natur des Allmende-Dilemmas macht deutlich, dass es blauäugig wäre, auf die Einsicht und das Verantwortungsgefühl der jeweiligen Großnutzer zu setzen. Es zeigt sich schon jetzt, dass diese vorrangig an die eigenen und nicht etwa an die gemeinschaftlichen Interessen denken. Wie lässt sich unser Ökosystem vor unserer zerstörerischen Zügellosigkeit schützen? Eine Privatisierung der Ressourcen unseres Ökosystems scheidet schon alleine aus ethischen Gründen aus.

Daher kommt für die nachhaltige Nutzung eines globalen Gemeinschaftsguts im Grunde nur eine vernünftige Verwaltung infrage. Ähnlich, wie sich ein kleiner Nutzerkreis zum Erhalt eines überschaubaren Allgemeinguts über sinnvolle Regeln und Maßnahmen verständigen kann, die langfristig allen zugutekommen, kann sich auch die Menschheit im Hinblick auf ihre globalen Ressourcen auf ein globales Management beziehungsweise eine globale Verwaltung einigen. Aufgrund seiner globalen Tragweite ist die Etablierung eines solchen Verwaltungssystems jedoch eine komplexe Herausforderung. Im Unterschied zu einer Wohngemeinschaft gibt es auf globaler Ebene weder eine Eigentümerversammlung, welche die Regeln festlegt noch einen Hausmeister, der auf deren Einhaltung achtet.

Die große Frage ist daher, wie ein globales politisches System, eine »Global Governance«, konkret aussehen müsste. Welche sozial-politischen Prozesse wären auf übernationaler Ebene nötig und wie müssten diese mit nationalen Regelungen zusammenspielen? Welche Formen der Meinungsbildung und Entscheidungsprozesse wären zielführend, welche Kontrollen nötig? Die Etablierung einer globalen Gesellschaftsordnung ist schon allein konzeptionell eine anspruchsvolle Aufgabe, will man nicht einem übertriebenen Zentralismus oder gar einer Weltdiktatur Vorschub leisten. So utopisch die Bewerkstelligung dieser Aufgabe scheinen mag, sie wird sich als alternativlose Notwendigkeit einer geplagten und gedrängten Menschheit erweisen. Für die nachhaltige Sicherung der menschlichen Lebensgrundlage ist die Entwicklung zukunftsfähiger Instrumentarien auf globaler Ebene unabdingbar.8

Ähnliche Überlegungen gelten auch für die vom Menschen selbst geschaffenen Systeme, wie zum Beispiel das globale Finanzsystem. Auch dieses ist als gesellschaftliches Allgemeingut zu betrachten. Wir alle sind von diesem System abhängig und spüren direkt oder indirekt, wenn das System zum Vorteil einiger weniger missbraucht wird. Dass nach jeder Finanzkrise immer wieder die gleichen grundlegenden Expertendiskussionen geführt werden, zeigt, dass auch hier noch keine geeigneten Regelungen für die nachhaltige Stabilität des Systems etabliert worden sind.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die großen Menschheitsprobleme allein aufgrund ihres globalen Charakters von komplexer Natur sind. Betrachten wir nach der Globalisierung nun einen weiteren Megatrend mit großen Auswirkungen auf Mensch und Menschheit: das Phänomen der Individualisierung.

— Megatrend Individualisierung

Die Einzigartigkeit des Einzelnen

In früheren Jahrhunderten war der Mensch sehr stark in lokale Gemeinschaften mit etablierten Vorstellungen, Werten und Traditionen eingebettet. So sehr die gesellschaftlichen Vorgaben einerseits Orientierung und Routine verhießen, so sehr schränkten sie andererseits den Menschen in seinen Möglichkeiten ein. In der westlichen Gesellschaft begannen mit der Renaissance erste Bestrebungen, das Recht des Einzelnen auf Freiheit, Autonomie und Einzigartigkeit einzufordern. Der befreiende Prozess von der Fremd- zur Selbstbestimmung wird als Individualisierung bezeichnet. Entscheidend ausbreiten und beschleunigen konnte sich dieser Prozess jedoch erst mit einem gesellschaftlich relevanten Anstieg von Bildung und Wohlstand. Der Wunsch, das Leben selbstbestimmt zu gestalten und nicht länger fremdbestimmt im Würgegriff tradierter Vorstellungen zu verharren, ist heute weitgehend zur Realität geworden. Der moderne Mensch verfügt in der Regel über Mittel und Möglichkeiten, sein Leben im Einklang mit den eigenen, individuellen Bedürfnissen, Wünschen und Werten zu führen. Von dieser großen Freiheit machen die Bürger der Wohlstandsnationen gegenwärtig reichlich Gebrauch.

Das Streben nach Individualisierung ging mit der Pluralisierung und Differenzierung sämtlicher Lebensbereiche Hand in Hand. Neue Wünsche benötigten schließlich neue Optionen des Konsums, des Handelns und des Gestaltens. Wieder war es die Wirtschaft, welche die Zeichen der Zeit erkannte und eine Vielzahl neuer, personalisierter Produkte und Dienstleistungen schuf, mittels derer sich der Einzelne auf sehr individuelle Weise ausdrücken kann. Der Trend, sich über seinen Lifestyle zu definieren, ist immer noch ungebrochen.

Die Pluralisierung drückt sich nicht nur in neuen Konsummustern aus. Mit ihr entstehen auch neue Werte, eine neue Alltags- und Freizeitkultur sowie eine veränderte Arbeitswelt, die es nahezu jedem Menschen ermöglichen, einen individuellen Lebensentwurf zu realisieren. Die einstige Normbiografie ist zu einem Auslaufmodell geworden. Heute kann jeder nach seiner Fasson glücklich werden, sofern er dazu die Mittel hat. Damit könnten die Lebensentwürfe und Stile, die heute in der Gesellschaft anzutreffen sind, kaum vielfältiger und bunter sein.

Das Phänomen der Individualisierung stellt einen universal beobachtbaren Megatrend dar, der grundsätzlich positiv zu bewerten ist. Wenn Menschen aus unnötig einengenden und überholten Traditionen ausbrechen, um ein auf ihre persönlichen Neigungen und Talente abgestimmtes Leben zu führen, so ist dies nur wünschenswert. Von daher ist der Trend nach Individualisierung nicht nur als wohltuende Befreiung zu betrachten, sondern untermauert auch den Wert und die Einzigartigkeit des Einzelnen.

Wie jede große Entwicklung bringt auch die Individualisierung spezielle Herausforderungen mit sich und verlangt von jedem Einzelnen neue Fähigkeiten im Denken, Fühlen und Handeln. Wird die Individualisierung übertrieben, wirkt sie sowohl auf den Einzelnen wie auch auf die Gesellschaft zerstörerisch.

— Die Multioptionsgesellschaft

Der Verlust verlässlicher Bezugspunkte

Mittlerweile hat die Individualisierung ein gesundes und förderliches Ausmaß längst überschritten. Dies zeigt sich nicht nur darin, dass wichtige übergeordnete Bezugspunkte verloren gingen, die dem Einzelnen und der Gesellschaft Sinn, Halt und Orientierung vermittelten, sondern auch in einer besorgniserregenden Fragmentierung und Instabilität der Gemeinschaft.

Die Explosion der Entscheidungszumutungen

Eine weitgehend auf Individualismus ausgelegte Gesellschaft macht den modernen Alltag mit seiner Vielzahl an Angeboten, Interaktionsmöglichkeiten und Verpflichtungen zu einer herausfordernden Aufgabe. Wir müssen permanent auswählen und Entscheidungen treffen. Die vielen Optionen, die uns einerseits ein hohes Maß an Freiheit und Gestaltungsspielraum bescheren, zwingen uns andererseits zur Qual der Wahl. Der Schweizer Soziologe Peter Gross (*1941) prägte für diese Situation den Begriff »Multioptionsgesellschaft«9, deren wesentliches Kennzeichen die Explosion der Entscheidungszumutungen ist. Diese reichen von vergleichsweise belanglosen Fragen des Alltags bis hin zu schwerwiegenden Fragen zur allgemeinen Lebensgestaltung, der beruflichen Karriere, der Partnerwahl oder der Kindererziehung.

Die große Gestaltungsfreiheit geht damit mit neuen, unliebsamen Zwängen einher. Das Recht auf Selbstbestimmung erhöht den Druck auf den Einzelnen hinsichtlich eines erfolgreich zu gestaltenden Lebensentwurfs weitaus mehr, als ihm oft lieb ist. Nicht wenige sind von der Optionenvielfalt überfordert und sehnen sich eine Welt zurück, in der alles übersichtlich und einfach war.

Wenn es in einer Gesellschaft kein geteiltes Verständnis zur »richtigen« Lebensweise gibt, liegt die Verantwortung allein in der Hand des Einzelnen. Die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung nötigt den Menschen in viel höherem Maße als früher, über den Sinn seines Lebens nachzudenken und sich grundlegenden philosophischen Fragen zu stellen.

Orientierungslosigkeit und Sinnverlust

Ständig die Qual der Wahl zu haben, ist eine unangenehme, aber lösbare Herausforderung. Wirklich kritisch ist jedoch, dass der Individualisierungsprozess heute auch die in einer Gesellschaft geltenden Werte und Normen erfasst hat. Wo früher allgemein akzeptierte und bewährte Werte und Gepflogenheiten einen verlässlichen ethischen Rahmen vorgaben, muss der »homo multioptionis« nun selbst entscheiden, was sinnvoll und richtig ist. Dies bringt zwangsläufig gravierende Auswirkungen mit sich. Eine Gesellschaft, in der die einst gemeinsame Wertebasis einem Pluralismus weicht, verliert ihr gemeinschaftlich geteiltes Lebensverständnis. Ein ausufernder Wertepluralismus, der konstatiert, dass nahezu alles von Wert ist, führt letztendlich dazu, dass sämtliche Werte beliebig werden. Orientierungslosigkeit und Sinnverlust sind dann logische Folgen.

Fragmentierung und Instabilität der Gesellschaft

Ein ausufernder Wertepluralismus vervielfältigt und verwässert die in einer Gesellschaft geltenden Normen und führt zu einer Fragmentierung und Destabilisierung des gesellschaftlichen Lebens. So erleben wir heute in großem Stil, wie einst feste Zugehörigkeiten und gesellschaftliche Bande von der Norm zur Option werden. Dadurch wandeln sich in zahlreichen Bereichen gesellschaftliche Verbindlichkeit und Verlässlichkeit in Unverbindlichkeit und Beliebigkeit.

Es ist eine gesellschaftliche Notwendigkeit, etablierte Normen von Zeit zu Zeit kritisch auf ihre Tauglichkeit zu überprüfen. Wenn jedoch neben überholten Traditionen, sämtliche Traditionen und gesellschaftlich-kulturelle Normen per se aufgeweicht oder ersatzlos abgeschafft werden, verliert eine Gesellschaft ihr stabiles Fundament. Der Kollektivismus von einst hat sich heute vielfach in das andere Extrem verkehrt. Die logische Konsequenz ist eine fragmentierte, zerbrechliche und konfliktanfällige Gesellschaft.

— Komplexes ist nicht einfach

Das Wesen komplexer Systeme

Während die Globalisierung einst autonome und regional konzentrierte Bereiche zu global vernetzten Systemen zusammenwachsen ließ, bewirkte die Individualisierung eine explosionsartige Erhöhung der Anzahl global interagierender Elemente. Das Einhergehen von Globalisierung, Individualisierung und Digitalisierung beschert der Menschheit nicht nur völlig neuartige Herausforderungen, sondern macht unser Leben auch hochkomplex. Bürgerkriege, Migration, Eurokrise, Rechtsruck, Fake News – wer hat hier noch den Überblick, wie das alles miteinander zusammenhängt? Das Verständnis von komplexen Systemen und der erfolgreiche Umgang mit komplexen Sachverhalten ist für den Menschen daher zusehends zu einer Schlüsselfähigkeit geworden.

Komplex oder kompliziert?

Komplexität ist ein Phänomen, das nicht mit Kompliziertheit verwechselt werden darf. Ein System ist kompliziert, wenn es aus einer Vielzahl an Komponenten besteht, aber mit dem nötigen Wissen die darin ablaufenden Prozesse verstanden und deren Ergebnisse eindeutig prognostiziert werden können. Die klassische Taschenuhr, die aus einer Vielzahl ineinandergreifender Rädchen und Federn besteht, ist ein typisches Beispiel für einen komplizierten Gegenstand. Ihre Funktionsweise ist durch die Anordnung und Bewegung der einzelnen Bestandteile eindeutig festgelegt und offenbart auf nachvollziehbare Weise die Bewegung der Zeiger.

Im Unterschied dazu ist ein komplexes Phänomen von völlig anderer Natur. Es ist zumeist so intransparent, dass gar nicht alle Komponenten und Einflussfaktoren bekannt sind. Das Markenzeichen eines komplexen Systems ist, dass sich sein Verhalten selbst dann nicht eindeutig beschreiben lässt, wenn vollständige Informationen über seine Einzelkomponenten und die Art ihres Zusammenwirkens vorliegen. Im Gegensatz zum determinierten Zahnradmechanismus der Taschenuhr, ähnelt ein komplexes System eher einem feinmaschigen Netz von zahlreichen, miteinander über Federn verbundene Kugeln. Werden eine oder mehrere Kugeln angestoßen, so lässt sich aufgrund der gegenseitigen Vernetzung und Rückkoppelungseffekte nicht genau vorhersagen, welche konkreten Schwingungsbewegungen sich für die einzelnen Kugeln ergeben.

Merkmale komplexer Systeme

In der Systemtheorie werden komplexe Systeme durch eine Reihe charakterisierender Eigenschaften beschrieben. So hängt die Komplexität eines Systems insbesondere von der Anzahl der beteiligten Elemente, der Anzahl an Verknüpfungen zwischen diesen Elementen sowie der Natur dieser Verknüpfungen ab. Wie schnell der Komplexitätsgrad allein mit der Anzahl der beteiligten Elemente ansteigt, veranschaulicht der deutsche Physiker Hans-Peter Dürr (1929-2014), indem er die Anzahl an Kontaktmöglichkeiten zwischen einer gegebenen Anzahl von Personen betrachtet. So gibt es bei zwei Personen lediglich zwei Möglichkeiten der Beziehung: Kontakt oder kein Kontakt. Bei drei Personen gibt es bereits acht Möglichkeiten: Alle drei haben miteinander Kontakt (eine Möglichkeit), jeweils zwei haben Kontakt (drei Möglichkeiten), jeweils zwei haben keinen Kontakt (drei Möglichkeiten) und keiner hat Kontakt (eine Möglichkeit). Was für die meisten vermutlich überraschend ist: schon bei nur 24 Personen »kommt für die Anzahl verschiedener Beziehungsmöglichkeiten die riesige Zahl 1083 heraus… eine Eins mit 83 Nullen. Nur um ein Gefühl dafür zu bekommen: Dies entspricht der Anzahl der Atome in unserem Universum.«10 In diesem Beispiel wurde davon ausgegangen, dass es lediglich eine »Art« von Beziehung gibt – Kontakt oder kein Kontakt. Die Beziehungen, die unsere Welt beschreiben, sind hingegen ungleich vielfältiger, weshalb auch die Anzahl der möglichen Konfiguration noch einmal dramatisch ansteigt.

Die Systeme, mit denen wir Menschen konfrontiert sind, sind gewöhnlich nicht nur komplex, sondern auch sehr strukturiert. Damit ist Komplexität häufig auch ein Maß für die innere Ordnung eines Systems. Genau diese ist es, welche gewöhnlich auch den Wert des Systems ausmacht. So ist beispielsweise unser Ökosystem nicht nur ein Gebilde aus zahllosen interagierenden Teilen, sondern zeichnet sich darüber hinaus durch wunderbar geordnete Strukturen und Prozesse aus.

Da jedes abgeschlossene physikalische System, sich selbst überlassen, im Laufe der Zeit einem Zustand höchster Unordnung zustrebt, kann die Ordnung eines Systems nur dann aufgebaut oder erhalten werden, wenn laufend Energie zugeführt wird. Die Energiezufuhr muss dabei in einer ganz speziellen, vom System abhängigen Art und Weise erfolgen. So sorgt beispielsweise in unserem komplexen Ökosystem die Sonne als ständiger Energielieferant für diesen ordnenden Eingriff. Das Ökosystem ist mit seinen verschiedenen Subsystemen und Prozessen auf wundervolle Weise genau so gestaltet, dass die Sonnenenergie diesen strukturerhaltenden und –aufbauenden Einfluss ausüben kann. Umgekehrt greift der Mensch heute vielfach nicht ordnend, sondern in einer Art und Weise in das Ökosystem ein, welches die über Jahrmillionen gewachsene Vielfalt und Komplexität innerhalb kürzester Zeit zerstören könnte. Abhängig davon, ob und in welcher Form in ein komplexes System eingegriffen wird, wird sich dieses also in Richtung höherer oder niedriger Ordnung und Komplexität bewegen.

Die Stabilität komplexer Systeme

Je komplexer und strukturierter ein System ist, desto geringer ist die Zahl der komplexitätserhaltenden Veränderungen im Vergleich zu allen möglichen Veränderungen. Dies erklärt, dass unüberlegte Eingriffe in eine hochkomplexe Struktur fast immer eine Störung des Systems darstellen. Soll die komplexe Ordnung eines Systems dauerhaft erhalten werden, so muss es über gute Regenerationsmechanismen verfügen. Solange sich ein System in der Nähe eines dynamischen Gleichgewichtszustands befindet, pendelt es sich nach einer Störung gewöhnlich schnell wieder ein. Diese Fähigkeit zur Selbstregulierung ist daher ein wesentliches Element der Stabilität. Befindet sich das System hingegen in der Nähe eines sogenannten Instabilitätspunktes, kann bereits eine kleine Störung schlagartig Prozesse mit verheerenden Auswirkungen auf das System auslösen. Häufig treten dann sich gegenseitig verstärkende Effekte auf, welche zu einer dauerhaften Zerstörung der komplexen Struktur führen können. Ist ein System einmal »gekippt«, ist der Schaden groß. Es bedarf dann in jedem Fall großer Anstrengung, das System zu stabilisieren und wieder ein Mindestmaß an Ordnung herzustellen.

Unser Ökosystem ist das perfekte Beispiel eines dynamischen Systems, das nicht nur hochkomplex, sondern auch in einzigartiger Weise auf Stabilität angelegt ist. Es besteht aus unzähligen Sub-Systemen, die um ihr dynamisches Gleichgewicht schwingen und so zur Stabilität des Gesamtsystems beitragen. Mit zunehmender Anzahl und Massivität der Eingriffe des Menschen in die Umwelt drohen zerstörerische Kettenreaktionen, die sogar dieses riesige System ernsthaft gefährden.

Ein Beispiel: Wir wissen, dass der hohe Kohlendioxidausstoß den Treibhauseffekt befördert, was dazu führt, dass sich die Temperatur der Erde erhöht. Die Erhöhung der Erdtemperatur bewirkt, dass die Böden der großen Permafrostgebiete, die sich vor allem in den arktischen und antarktischen Tundren befinden, langsam auftauen. Hierdurch wird im Boden gespeicherter Kohlenstoff in Form von Methan und Kohlendioxid freigesetzt, was ebenfalls zum Treibhauseffekt beiträgt. Angesichts der gewaltigen Mengen von im Boden gespeicherter Gase drohen gefährliche Rückkopplungen, welche die Erderwärmung zusätzlich zu anderen Mechanismen dramatisch beschleunigen könnten.

— Handeln bei unsicherer Prognose

Der Umgang mit komplexen Systemen

Komplexität durchdringt heute alle Lebensbereiche und ist zu einem Kennzeichen unserer modernen, globalisierten Welt geworden. Wenngleich Komplexität nicht die Ursache der drängenden Menschheitsprobleme ist, so erschwert sie in jedem Falle deren Lösung. Sowohl die Organisation unseres persönlichen Lebens als auch die nachhaltige Gestaltung der gesellschaftlichen Prozesse fordern daher vom Menschen eine hohe Kompetenz im Umgang mit komplexen Systemen. Malik erklärt: »Das herausragendste Merkmal des globalen Transformationsprozesses ist die explosive Zunahme von Komplexität… Das erfolgreiche Umgehen damit erfordert richtiges Management im Denken und Handeln, mit der zuverlässigen Fähigkeit, die überall hervorquellende Komplexität nicht nur zu meistern, sondern insbesondere auch zu nutzen11

Die Tatsache, dass sich die Menschheit in vielen Bereichen bereits bedrohlich nahe an instabilen Systemgrenzen befindet, verleiht dieser Aufgabe eine besondere Dringlichkeit. Damit wird das Beherrschen komplexer Systeme und Angelegenheiten zur vorrangigen Aufgabe des Einzelnen wie auch der Gesellschaft. Dies erfordert völlig neue Lösungsstrategien und Kompetenzen.

Überblick vor Genauigkeit

Welche Art von Wissen und Kompetenz ist erforderlich, um komplexe Aufgaben erfolgreich bewältigen zu können? Da der Umgang mit komplexen Systemen selbst ein komplexes Phänomen ist, können an dieser Stelle nur einige grundlegende Überlegungen skizziert werden. Am Anfang steht die Erkenntnis, dass sich komplexe Systeme grundsätzlich einfachen und exakt berechenbaren Lösungen entziehen. Noch vor der Frage nach dem Umgang mit Komplexität steht daher die wichtige Aufgabe der bestmöglichen Komplexitätsreduktion. Dies bedeutet, dass Eingriffe in gewachsene, komplexe Systeme auf das notwendige Minimum zu beschränken und die vom Mensch selbst geschaffenen Systeme so einfach wie möglich zu gestalten sind.

Weil komplexe Systeme grundsätzlich unberechenbar sind, reicht für das Verständnis von komplexen Situationen lineares Denken und Detailwissen allein nicht aus. Ungleich wichtiger ist, bestmögliche Transparenz über das Gesamtsystem und die möglichen Wechselwirkungen mit anderen Systemen zu erlangen. Gefragt ist hier vor allem ein Wissen um die wesentlichen Systemelemente sowie deren Eigenschaften und Beziehungen, um ein Grundverständnis für die zu erwartenden Reaktions- und Wirkungsweisen bei Eingriffen in das System zu gewinnen. Weil das Verhalten eines komplexen Systems nicht exakt prognostiziert werden kann, geht es weniger um genaues Detailwissen als um einen guten Überblick über die vorrangigen Prinzipien und wesentlichen Stellschrauben. Im Unterschied zu lediglich komplizierten Problemen, kommen beim Verständnis komplexer Aufgaben daher Überblick vor Genauigkeit, Systemdenken vor Funktionswissen, Zusammenhänge vor Einzelwirkungen und Grundprinzipien vor Detailwissen.

Wirksame Lernprozesse vor starrer Planung

Da unser Verständnis von komplexen Systemen grundsätzlich begrenzt ist, werden wir diese nie vollständig beherrschen können. Im Umgang mit komplexen Situationen werden sich daher Fehler nicht gänzlich vermeiden lassen, weshalb unser Handeln stets ein Handeln unter Unsicherheit sein wird. Bei komplexen Systemen müssen wir immer mit Überraschungen rechnen, seien es unerwartete Effekte, verspätete Wirkungen, unvorhergesehene Rückkopplungen oder Fernwirkungen. Es ist daher bei einer bestimmten Unternehmung in komplexem Umfeld nicht damit getan, das Vorgehen einmalig generalsstabmäßig zu planen und dann die einzelnen Schritte konsequent abzuarbeiten. Wir werden vielmehr im Handeln selbst Erfahrungen machen, die nicht vorhersehbar waren und zuweilen eine Planänderung nötig machen. Wenn wir damit rechnen, dass unser Handeln auch unvorhergesehene und unerwünschte Ergebnisse haben wird, können wir diese rechtzeitig erkennen und korrigieren. Zielführendes Handeln in komplexen Systemen erfordert also vor allem ein iteratives und flexibles Vorgehen in Form effektiver Lernprozesse mit geeigneten Feedback-Schleifen.

Insgesamt lässt sich sagen: Beim Handeln unter Unsicherheit stehen ganz allgemein Grobplanung vor Detailplanung, Kooperation vor Einzelaktionen, Sowohl/Als-auch-Lösungen vor Entweder/Oder-Ansätzen, Richtung vor Weg, Faustregeln vor Berechnungen, Effektivität vor Effizienz und Achtsamkeit vor Abarbeitung definierter Arbeitspakete.

Was allgemein für den erfolgreichen Umgang mit komplexen Systemen gilt, ist auch speziell für die Gestaltung der menschlichen Angelegenheiten in einer komplexen Welt bedeutsam. Somit sollten auch für ein erfülltes Leben und eine lebenswerte Gesellschaft ein fundiertes Verständnis der Gesetze des Lebens und unsere Fähigkeit, ständig zu lernen, die wichtigsten Erfolgsfaktoren sein.

KURZFASSUNG

Mit der Wissensexplosion und dem technischen Fortschritt gehen verschiedene Megatrends einher – insbesondere die Globalisierung und die Individualisierung. Obwohl diese Entwicklungen grundsätzlich zu begrüßen sind, ist das moderne Leben dadurch so komplex geworden, dass viele Menschen orientierungslos und überfordert sind. Die zunehmende Digitalisierung verschärft diese Situation zusätzlich.

Wir sehen uns heute einer globalen, alle Lebensbereiche durchdringenden Krise gegenüber, die sich nicht nur durch völlig neuartige Probleme, sondern auch durch ein hohes Maß an Komplexität auszeichnet. Ob Krieg und Terror, bittere Armut, die fortschreitende Zerstörung des Ökosystems oder fragmentierte und instabile Gesellschaften – sie alle sind vielfältige und miteinander verzahnte Aspekte dieser tiefgreifenden und hochkomplexen Krise. Wenngleich Komplexität nicht die Ursache der drängenden Menschheitsprobleme ist, so erschwert sie in jedem Falle deren Lösung.

So erfordert beispielsweise die Lösung des Allmende-Dilemmas im Hinblick auf die Nutzung globalen Allgemeinguts die Etablierung eines effektiven politischen Systems, das sämtliche Ressourcen zum Wohle der gesamten Menschheit verwaltet. Wie solch eine »Global Governance« organisiert sein müsste und welche Regeln und Kontrollen sie etablieren müsste, ist jedoch eine äußerst komplexe Aufgabe.

Der kompetente Umgang mit komplexen Situationen und Prozessen ist zusehends zu einer menschlichen Schlüsselaufgabe geworden. Wir benötigen diese Kompetenz sowohl zur Gestaltung der von uns selbst geschaffenen Systeme als auch zum nachhaltigen Erhalt unserer natürlichen Umwelt, die unser aller Lebensgrundlage darstellt. Das Meistern komplexer Aufgaben erfordert eine besondere Art von Kompetenz, da hier die im Hinblick auf komplizierte Probleme bewährten Lösungsansätze zumeist versagen. Für das Verständnis komplexer Situationen ist vor allem eine ganzheitliche Orientierung wesentlich. Die Kenntnis grundlegender Prinzipien und Zusammenhänge steht damit vor dem Wissen um spezielle Details. Ähnliches gilt in Bezug auf das Handeln im komplexen Umfeld. Dieses ist immer fehleranfällig und erfolgt naturgemäß unter Unsicherheit, weshalb hier eine konkrete Detailplanung zumeist nicht zielführend ist. Gefragt ist vielmehr ein iteratives und flexibles Vorgehen in Form effektiver Lernprozesse mit geeigneten Feedback-Schleifen.

Die Fähigkeit, komplexe Systeme verstehen und beherrschen zu können, ist das eine. Allerdings ist nicht alles, was machbar ist, gleichermaßen wünschenswert. Daher muss die Sachfrage »Wie können wir etwas tun?« um die Sinnfrage »Was sollen wir tun?« ergänzt werden. Diese führt uns zum philosophischen Aufgabengebiet der Ethik.

Eckpfeiler einer reifen Weltsicht

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