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5 Erkenntnistheorie

Auf der Suche nach sicherer Erkenntnis

Mich erstaunen Leute, die das Universum begreifen wollen, wo es schwierig genug ist, in Chinatown zurechtzukommen. WOODY ALLEN

Zu wissen, was man weiß, und zu wissen, was man tut, das ist Wissen. KONFUZIUS

Stellen Sie sich vor, ein grauer, nasskalter Herbsttag hätte Sie dazu veranlasst, den Sonntagnachmittag zu Hause zu verbringen. Sie haben im Kamin ein gemütliches Feuer angezündet, eine Tasse Tee zubereitet und es sich mit ein paar Süßigkeiten auf dem Sofa bequem gemacht. Sie genießen die Ruhe und lesen ein interessantes Buch. Eine bekannte Situation. Aber können Sie sicher sein, dass die Situation wirklich so ist, wie Sie sie erleben? Könnte es nicht sein, dass die ganze Szenerie nur eine Illusion ist? Was macht Sie so sicher, dass der Keks, den Sie gerade aßen, wirklich existierte? Wäre es nicht denkbar, dass sich die Situation in Wirklichkeit ganz anders darstellt?

Könnte es nicht sogar sein, dass Sie lediglich in Ihrem Bewusstsein leben und sich sämtliche Ereignisse nur einbilden? Womöglich wurden Sie eines Nachts von einem wahnsinnigen Neurowissenschaftler entführt, der mit Ihnen gerade ein grausames Experiment durchführt. Stellen Sie sich vor, er hätte Ihr Gehirn operativ entfernt und in eine Retorte mit Nährflüssigkeit gelegt. Dabei wurden die einzelnen Nervenstränge sorgsam durchtrennt und an mikroskopische Elektroden angeschlossen, die sich von einem leistungsfähigen Computer steuern lassen. Demnach bestünden Sie nur noch aus Ihrem Gehirn, das von außen stimuliert würde. Alles, was Sie denken, erleben, sehen, fühlen etc. wäre damit auf Ihre Erinnerungen beziehungsweise auf die von den Elektroden vermittelten Impulse zurückzuführen.

Was nach haarsträubender Science Fiction klingt, ist Philosophiestudenten als das »Rätsel des Retortengehirns« bekannt.35 Dieses Gedankenexperiment ist von grundlegender philosophischer Bedeutung, da es die erkenntnistheoretische Frage aufwirft, ob das, was wir als selbstverständlich und real zu erkennen meinen auch tatsächlich genau so existiert.

— Der unwiderlegbare Skeptiker

Ist alles nur ein Traum?

Die klassische Erkenntnistheorie, auch Epistemologie oder Gnoseologie genannt, ist ein wichtiger Zweig der Philosophie. Als Philosophie des Wissens beschäftigt sie sich mit den Voraussetzungen und dem Zustandekommen von Erkenntnis. Es geht ihr darum, herauszufinden, wie menschliches Wissen geartet ist und was wir grundsätzlich wissen können. Sie stellt die Fragen: Gibt es Bereiche der Erkenntnis, über die es unbezweifelbare Gewissheit gibt? Welcher Grad an Sicherheit ist erreichbar?

Cogito ergo sum

Noch vor der Frage, was man grundsätzlich über die Realität wissen kann, steht die Frage, was es überhaupt gibt, was also die Welt ausmacht. Existiert überhaupt irgendetwas, und wenn ja, was? Die Untersuchung der Grundstrukturen der Realität ist Aufgabe der Ontologie, der Lehre vom Sein. Sie fragt danach, welche grundlegenden Typen von Dingen existieren und welche Eigenschaften sie haben. Ohne einem ontologischen Unterbau hängen alle erkenntnistheoretischen Fragen in der Luft.

Die erste ontologische Frage, ob überhaupt etwas existiert, klingt zunächst nach einer unsinnigen Spitzfindigkeit, ist aber aus philosophischer Sicht fundamental. So verwendete bereits der französische Philosoph, Mathematiker und Naturwissenschaftler René Descartes (1596-1650) viel Zeit und Mühe darauf, hierauf eine stichhaltige und unbezweifelbare Antwort zu geben. Das Ergebnis seiner Überlegungen ist als »cartesisches Cogito« bekannt. Für viele überraschend kam Descartes zu dem Schluss, dass die Existenz von allem und jedem bezweifelt werden kann, wenn man den Standpunkt eines extremen Skeptikers einnimmt. Mit einer Ausnahme: unser eigenes Denken oder Bewusstsein. Selbst dann, wenn ich an allem zweifle, so kann ich doch nicht daran zweifeln, dass ich zweifle. Aus unserem Zweifeln, also unserem Denken, folgt damit zweifelsfrei, dass ich existiere: »Cogito ergo sum.« »Ich denke, also bin ich« ist somit ein grundlegendes Prinzip.

Der Solipsismus

Abgesehen von unserem eigenen Selbst, kann theoretisch alles andere bezweifelt werden, da es sich dabei wie im oben genannten Retortenbeispiel um reine Einbildung handeln könnte. Die verschiedenen ontologischen Konzepte unterscheiden sich daher genau in der Frage, inwieweit es über unser Ich hinaus noch etwas anderes gibt. So ist es durchaus vorstellbar, dass es nur mich selbst gibt und alles andere lediglich ein Produkt meiner Einbildung ist. Oder wie Descartes es formulierte: »Die Außenwelt könnte ein bloßer Traum sein.« Als metaphysischer Solipsismus, von lateinisch »solus« (allein) und »ipse« (selbst), wird ein philosophisches Konzept bezeichnet, welches genau dies annimmt: Nichts außerhalb des eigenen Bewusstseins existiert, auch kein anderes Bewusstsein.

Würde man den Solipsismus ernst nehmen, so wären alle Überlegungen über die Welt müßig. Die Frage, was ich über eine eingebildete Welt wissen kann, ist sinnlos. Verständlicherweise vertritt heute kein seriöser Philosoph die solipsistische Weltsicht des Skeptikers. Dennoch ist der Solipsismus ein philosophisches Ärgernis, da die Falschheit dieser Sicht nicht bewiesen werden kann. Die »Klippe des Solipsismus«36 ist nach Meinung des französischen Dramatikers und Philosophen Jean-Paul Sartre (1905-1980) ist ein fortdauerndes Problem.

— Die Erkennbarkeit der Welt

Erkenntnistheoretische Grundpositionen

Wenn auch nicht beweisbar, so ist es zumindest vernünftig anzunehmen, dass auch außerhalb von uns selbst eine Welt existiert.

Der ontologische Realismus

Diese Sichtweise wird ontologischer Realismus genannt. Er umfasst eine Vielzahl philosophischer Positionen, nach denen vom menschlichen Bewusstsein unabhängige Phänomene existieren. Veranschaulicht bedeutet dies beispielsweise, dass der Tisch, vor dem ich sitze, unabhängig davon existiert, ob ich ihn bewusst wahrnehme oder ihm den Rücken zukehre.

Die Möglichkeit, Erkenntnis von der als existierend vorausgesetzten Welt zu erlangen, erfordert eine zusätzliche Annahme: Es muss eine Verbindung zwischen dem Erkennenden (Subjekt) und dem zu Erkennenden (Objekt) geben. Der Kanal, über den wir als Subjekte Kenntnis von der Welt erlangen können, wird als Erkenntnis- oder Wahrnehmungskanal bezeichnet. Dabei ist Wahrnehmung in einem sehr allgemeinen Sinne zu verstehen und umfasst alle denkbaren Möglichkeiten, Informationen über die Welt zu erlangen. Die Wahrnehmung der Welt kann über die bekannten äußeren Sinne (Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten) sowie über mögliche innere Sinne erfolgen.

Die interessante Frage ist nun, wie der Wahrnehmungskanal des Menschen grundsätzlich beschaffen ist. Stellt er eine offene Verbindung zur Außenwelt her oder ist er teilweise oder gar vollkommen blockiert? Gibt er die verfügbaren Informationen über die Welt unverändert an uns weiter oder verfälscht er sie möglicherweise? Je nachdem, wie die Beschaffenheit dieses Kanals eingeschätzt wird, ergeben sich verschiedene erkenntnistheoretische Grundpositionen. Diese sind, wie in Abbildung 5 dargestellt, der naive Realismus, der radikale Konstruktivismus sowie verschiedenen Formen eines gemäßigten Realismus.


Abb.5: Die drei erkenntnistheoretischen Grundpositionen

Der naive Realismus

Der naive Realismus, auch klassischer oder direkter Realismus genannt, nimmt eine extreme Position ein und geht davon aus, dass uns die Welt exakt so erscheint, wie sie tatsächlich ist. Das würde bedeuten, dass wir alle existierenden Objekte vollständig und unverfälscht in ihren sämtlichen Eigenschaften wahrnehmen. Demnach würden wir ein rotes Feuerwehrauto genau deshalb als rot wahrnehmen, weil die rote Farbe eine Eigenschaft des Feuerwehrautos sei. Die rote Farbe wäre demnach untrennbar mit dem Auto verbunden und nicht etwa ein Effekt unserer Wahrnehmung. Der naive Realismus postuliert, dass unser Wahrnehmungskanal perfekt ist, weil er von einer 1: 1-Beziehung zwischen der Realität und unserer Wahrnehmung der Realität ausgeht. Der Philosoph spricht hier von einer isomorphen Abbildung.

Nun wissen wir, dass unsere Wahrnehmung uns zuweilen einen Streich spielt und wir Situationen anders einschätzen, als sie tatsächlich sind. Man denke hierbei an die vielen Beispiele optischer Täuschungen: Ein Stab, der im Wasser steht, wirkt geknickt. Der am Horizont aufgehende Mond erscheint größer als derjenige, der hoch am Himmel steht. Straßen wirken bei heißem Wetter stellenweise nass. Derartige optische Täuschungen belegen, dass der Sehsinn nicht perfekt ist, sondern in die Irre geführt werden kann. Gleiches gilt für die übrigen Sinne. Der naive Realismus ist daher als erkenntnistheoretische Grundlage nicht haltbar.

Der radikale Konstruktivismus

Das andere Extrem der erkenntnistheoretischen Grundmodelle bildet der radikale Konstruktivismus. Dieser geht davon aus, dass unsere Wahrnehmung kein Abbild einer vom Subjekt unabhängigen Realität liefern kann. Ihm zufolge ist alles, was das Individuum als Realität wahrnimmt, lediglich eine subjektive Konstruktion, die sich aus der Vielzahl an Sinnesreizen und den in unserem Gehirn ablaufenden mentalen Prozessen ergibt. In diesem Sinne existiert keine objektive Erkenntnis, sondern jeder Mensch konstruiert die Wirklichkeit selbst. Was wir wahrnehmen, ist demnach nicht das Abbild der Welt, sondern lediglich ein selbstgeschaffenes und damit subjektives Gebilde. Gemäß diesem Modell ist unser Wahrnehmungskanal zur Erkenntnis der Welt völlig unbrauchbar. Sollten die Annahmen des Konstruktivismus in dieser Radikalität tatsächlich zutreffen, dann gäbe es keine Möglichkeit für echte Erkenntnis.

Die Erfolge der Wissenschaft belehren uns jedoch eines anderen. So kann beispielsweise jede Technologie nur deshalb funktionieren, weil es in der Welt Phänomene und Gesetzmäßigkeiten gibt, die von den Wissenschaftlern erkannt und entsprechend genutzt werden können. Dies zeigt, dass der Konstruktivismus in seiner radikalen Form nicht haltbar ist. Er hat aber, genau wie der naive Realismus, als Denkmodell einen hohen pädagogischen Wert.

Der gemäßigte Realismus

Damit bleibt als vernünftige Konsequenz nur, einen gemäßigten Realismus als erkenntnistheoretisches Grundmodell anzunehmen. Dieser geht davon aus, dass unsere Wahrnehmung zwar fehleranfällig, aber nicht wertlos ist. Die Konstruktionsmechanismen der Menschen weisen demnach genügend Gemeinsamkeiten auf, so dass in vielen Fällen ein zumindest sehr ähnliches Bild von der Realität erzielt werden kann. Daraus folgt, dass trotz konstruktiver Elemente im Wahrnehmungsprozess, zumindest Teile der Realität quasi-objektiv erkennbar sind.

— Ebenen der Realität

Die Welt als Forschungsobjekt

Nach der Differenzierung des Wahrnehmungskanals bietet es sich an, auch das Forschungsobjekt der Erkenntnistheorie, die Realität, zu kategorisieren und begrifflich zu schärfen.

Die Kategorisierung der Realität

Zunächst soll fortan mit Welt, Universum, Realität oder Wirklichkeit das gleiche gemeint sein, nämlich die Gesamtheit allen Daseins in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.37 Als Phänomen wird ein bestimmter Teil der Realität bezeichnet, so zum Beispiel Objekte, Eigenschaften von Objekten, Beziehungen zwischen Objekten, spezielle Ereignisse oder Prozesse. Die Welt kann damit als Summe sämtlicher Phänomene aufgefasst werden.

Für die Philosophen waren seit jeher objektive Phänomene, also diejenigen Teile der Realität, die unabhängig vom Menschen (Subjekt) existieren, von besonderem Interesse. Daher ist es vernünftig, konzeptionell anzunehmen, dass die Realität aus zwei Bereichen besteht - einem objektiven und einem subjektiven Teil. Subjektiv sind sämtliche, für andere nicht wahrnehmbare innere Zustände eines Menschen, bewusste wie auch unbewusste. Alles, was sonst noch in der Welt existiert, ist per Definition objektiv. Weiter ist es hilfreich, zwischen immanenten und transzendenten Bereichen der Realität zu unterscheiden. Immanenz meint aus erkenntnistheoretischer Sicht das Verbleiben in den Grenzen möglicher Erfahrung. Immanent ist damit das, was dem Menschen direkt zugänglich, also sichtbar oder bewusst ist. Der Gegenbegriff zur Immanenz ist die Transzendenz. Transzendente Phänomene entziehen sich menschlicher Wahrnehmung und sind daher per Definition unsichtbar oder unbewusst.

In nachfolgender Abbildung sind die zwei Dimensionen mit den Ausprägungen objektiv/subjektiv und immanent/transzendent als 2x2-Matrix dargestellt. Dadurch wird die Realität konzeptionell in vier Quadranten aufgeteilt, welche für die sichtbaren, unsichtbaren, bewussten und unbewussten Anteile der Wirklichkeit stehen.


Abb.6: Kategorisierung der Realität

Ein Phänomen als Ausschnitt der Realität

Ein Phänomen kann gemäß der eben vorgestellten Terminologie Anteil an einem oder mehreren der vier Bereiche haben. So könnte Phänomen A beispielsweise einen fallenden Stein darstellen. Der sichtbare Aspekt des Phänomens ist die beschleunigte Bewegung des Steins. Ein unsichtbarer Aspekt des Phänomens ist dagegen die Gravitationskraft, die auf den Stein wirkt. Diese ist unsichtbar und kann nur indirekt durch ihre Wirkung auf den Stein erkannt werden. Das Phänomen B könnte hingegen den Vorgang eines Traumes beschreiben. Träume sind dem Träumenden zum Teil zugänglich und bewusst, zum Teil aber auch völlig unbewusst. Wird der Träumende von einem außenstehenden Beobachter betrachtet, kann dieser anhand bestimmter körperlicher Reaktionen erkennen, dass der Betroffene träumt - das Phänomen hätte in diesem Fall auch noch eine sichtbare Komponente.

Diese begriffliche Kategorisierung der Realität sagt noch nichts darüber aus, wie die vier Quadranten tatsächlich dimensioniert sind und welche Rolle sie spielen. Möglicherweise ist der subjektive sowie der unsichtbare objektive Anteil der Realität vernachlässigbar klein, so dass der Mensch in Zukunft mit neuen Hilfsmitteln in der Lage sein wird, nahezu alles Existierende beobachtbar zu machen. Es kann aber ebenso gut sein, dass der größte Teil der Realität tatsächlich unsichtbar ist und der Mensch trotz bester Mittel grundsätzlich nur einen kleinen Ausschnitt des Universums direkt erkennen kann.

— Reden über die Welt

Objektive Erkenntnis und Sprache

Im Zentrum des philosophischen Interesses steht seit jeher der Erwerb objektiver Erkenntnis. Objektive Erkenntnis zielt auf ein Verständnis desjenigen Teils der Realität ab, der unabhängig von uns selbst existiert.

Objektive Erkenntnis und intersubjektive Verständigung

Eine wesentliche Eigenschaft eines objektiven Phänomens besteht darin, dass verschiedene Menschen den betreffenden Sachverhalt in gleicher Weise wahrnehmen und einschätzen können. Notwendig hierfür ist nicht nur ein vergleichbarer Wissens- und Erfahrungsstand, sondern auch die Möglichkeit, Gedanken und Erfahrungen auszutauschen. Der Philosoph spricht hier von der Möglichkeit »intersubjektiver Verständigung«. Die erforderliche Kommunikation erfolgt in Form einer geeigneten Sprache. Sprache ist ein machtvolles Werkzeug und die Voraussetzung für intersubjektive Verständlichkeit und objektive Erkenntnis. Sie versetzt uns zudem in die Lage, nicht nur auf Basis der eigenen Wahrnehmung zu lernen, sondern auch von den Erkenntnissen anderer zu profitieren.

Die Grundelemente einer Sprache

Die Grundelemente einer Sprache sind Wörter, die durch eine Bezeichnung (Symbol) und eine zugeordnete Bedeutung (Semantik) definiert sind. Über ein entsprechendes Regelwerk (Grammatik) werden der Gebrauch und das Zusammenspiel der sprachlichen Grundelemente definiert. Den Kernbereich der Grammatik bildet wiederum eine Syntax, die vorgibt, wie Wörter zu größeren Einheiten, sogenannten Sätzen, zusammengefügt werden können.

Sprache in diesem allgemeinen Sinne muss nicht notwendigerweise eine natürliche Sprache sein. Die Mathematik stellt beispielsweise eine formale Sprache dar, deren Syntax die verschiedenen logischen Verknüpfungsmöglichkeiten bilden. Auch die Sätze einer Sprache können zu größeren Einheiten zusammengefasst werden. Mehrere Sätze, die in einem »sinnvollen« Zusammenhang stehen, werden Konzept, oder noch allgemeiner, Konstruktion genannt. Bei einer natürlichen Sprache ist die Konstruktion ein Text.38

Da die verwendeten Wörter und Verknüpfungsregeln einer Sprache frei definierbar sind, müssen Konzepte nichts mit der Realität zu tun haben. So gibt es mannigfache Möglichkeiten, Sätze zu reinen Fantasiegebilden zusammenzubauen. Die vielfältigen Konstruktionsmöglichkeiten verlieren ihre Beliebigkeit, wenn eine Verknüpfung mit der Realität hergestellt wird. Ein Wort erhält eine Beziehung zur Realität, wenn es mit realen Dingen identifiziert wird. Aus einem Wort wird durch den Bezug auf die Realität ein Begriff. Sobald wir das Wort Baum mit der entsprechenden Pflanzenart identifizieren, haben wir einen Begriff. Für die Beschreibung von komplexeren Sachverhalten sind Sätze notwendig. Durch den Realitätsbezug der Begriffe wird aus einem Satz eine Aussage oder Hypothese. Konstruktionen aus verschiedenen Aussagen werden gewöhnlich als Theorie bezeichnet.

Auswahl einer geeigneten Sprache

Um sich über bestimmte Phänomene effektiv austauschen zu können, ist eine geeignete Sprache zu verwenden, die den beteiligten Personen geläufig ist. Ist beispielsweise von einem grünen Gegenstand die Rede, dann muss die Definition von »grün« allen bekannt sein, so dass keine Verwechslung mit anderen Farben erfolgen kann.

Die Auswahl einer gemeinsamen Sprache ist jedoch nicht genug. Die verwendete Sprache muss auch hinreichend präzise sein. Solange die Begriffe im Hinblick auf einen bestimmten Sachverhalt unscharf und schwammig sind, wird sich dieser auch nicht hinreichend genau beschreiben lassen. Lässt die verwendete Sprache beispielsweise keine Differenzierung zwischen einer »grünen Kugel« und einem »grünen Würfel« zu, weil beide als »grünes Ding« bezeichnet werden, bietet die Beurteilung des Wahrheitsgehaltes von Aussagen in diesem Kontext reichlich Interpretationsspielraum. Für Fragen des Alltags reichen die verschiedenen natürlichen Sprachen in aller Regel aus. Dies ist nicht verwunderlich, da sie genau zu diesem Zweck im Lauf der Zeit entwickelt wurden. In den Naturwissenschaften, die sich nicht nur mit qualitativen, sondern auch mit quantitativ messbaren Aspekten der Welt beschäftigen, haben sich mathematische Formalismen als geeignetes Sprachmittel bewährt.

— Wahrheit

Erkenntnis als System wahrer, begründeter Aussagen

Im Folgenden gehen wir davon aus, dass eine Sprache festgelegt wurde, die geeignet ist, die Realität hinreichend genau zu beschreiben. Treffen wir nun mit eben dieser Sprache eine Aussage, die sich auf reale Gegenstände bezieht, so heißt das jedoch noch nicht, dass sie die Realität auch tatsächlich korrekt wiedergibt. So beschreibt beispielsweise ein Science-Fiction-Roman in aller Regel nicht die Realität, sondern lediglich bestimmte, mehr oder weniger wahrscheinliche Möglichkeiten der Realität.

Die Korrespondenztheorie der Wahrheit

Aussagen über die Welt können wahr oder falsch sein. Erkenntnis setzt daher einen Wahrheitsbegriff voraus. Im Unterschied zu Unkenntnis ergibt sich Erkenntnis somit aus wahren Aussagen über die Welt. Das Wahrheitskriterium besteht darin, dass Aussagen genau dann wahr sind, wenn sie mit den Tatsachen in der Welt übereinstimmen (korrespondieren). Daher nennen Philosophen diese schlichte Einsicht auch Korrespondenztheorie der Wahrheit.

Die Aussage »Eine Katze hat zwei Augen« ist also genau dann wahr, wenn eine Katze tatsächlich zwei Augen hat. Theoretisch könnte eine Katze aber auch 3, 4, 5 oder eine beliebige andere Anzahl Augen besitzen. Dieses Beispiel zeigt, dass die Menge der wahren Aussagen im Hinblick auf die Anzahl möglicher Aussagen verschwindend gering ist. Die Gefahr einer falschen oder einer nur zufällig wahren Aussage, ist daher sehr groß.

Erkenntnis als wahre und begründete Aussagen

Für »zufällige Wahrheit« ist im Selbstverständnis der Philosophie kein Platz. Dem Erkenntnistheoretiker geht es schließlich nicht um bloße Meinungen und Vermutungen, sondern um objektive Erkenntnisse und sichere, unbezweifelbare Aussagen. Folgerichtig ist in der Definition von Erkenntnis die Wahrheitsbedingung um eine Rechtfertigungsbedingung zu ergänzen. Um als Erkenntnis gelten zu können, müssen Aussagen nicht nur wahr, sondern auch gerechtfertigt sein. Erst eine überzeugende Begründung macht aus einer richtigen Meinung eine Erkenntnis. Echtes Wissen und Erkenntnis können daher als wahre und begründete Aussagen definiert werden.

Es stellt sich nun die erkenntnistheoretisch bedeutsame Frage, unter welchen Bedingungen eine Aussage als zweifelsfrei bewiesen gelten kann. Oder anders formuliert: Lässt sich ein Verfahren entwickeln, welches es zumindest prinzipiell möglich macht, alle wahren Aussagen auch zweifelsfrei zu begründen?

— Aller Anfang ist schwer

Das Münchhausen-Trilemma

Die Beschäftigung mit der Struktur eines Begründungsverfahrens führt sehr schnell auf ein grundsätzliches philosophisches Problem, das in der folgenden Abbildung anhand eines Beispiels dargestellt ist.


Abb.7: Beispiel einer logischen Begründungskette

Eine Kette von Warum-Fragen

Im gewählten Beispiel soll die Wahrheit der Aussage »Ein Löwe ist kein Grund, sich zu fürchten« bewiesen werden. Der Beweis dieser Hypothese H erfolgt dadurch, dass als Begründung eine Aussage B1 gesucht wird. Diese kann genau dann als Begründung von H akzeptiert werden, wenn sich der Inhalt der Aussage H folgerichtig aus B1 ergibt. Dies ist im Beispiel der Fall: Wenn es generell keinen Grund dafür gibt, sich zu fürchten, dann muss man sich logischerweise auch nicht vor einem Löwen fürchten.

Nun entsteht ein Folgeproblem: Selbst dann, wenn die Schlussfolgerung von B1 auf H gerechtfertigt ist, so ist die Begründung nur dann stichhaltig, wenn B1 selbst eine wahre Aussage darstellt. Somit verlagert sich die Notwendigkeit der Begründung von H auf die Begründung von B1. Um wiederum B1 als wahr zu beweisen, ist eine Aussage B2 zu finden, aus der sich B1 logisch ableiten lässt. Die Grundproblematik eines jeden Begründungsverfahrens besteht somit darin, dass für einen zweifelsfreien Beweis nach jeder Begründung eine weitere Begründung erfolgen muss. Dadurch ergibt sich eine Beweiskette, sie sich immer weiter fortsetzt.

Das Münchhausen-Trilemma

Man erkennt daraus leicht, dass für die Durchführung eines Begründungsprozesses genau drei Varianten möglich sind:

1 Logischer Zirkel: Man stößt bei der Beweiskette auf eine Aussage, die bereits zuvor als begründungsbedürftig aufgetreten ist.

2 Infiniter Regress: Man geht bei den einzelnen Begründungen immer weiter zurück.

3 Abbruch: Man bricht das Begründungsverfahren an einem bestimmten Punkt ab.

Offensichtlich sind alle drei Möglichkeiten nicht befriedigend. Diese ernüchternde Erkenntnis wurde vom deutschen Philosophen Hans Albert (*1921) sehr treffend »Münchhausen-Trilemma« genannt. »Trilemma«, weil alle drei Alternativen unbefriedigend sind, und »Münchhausen«, weil das Münchhausen-Trilemma selbst einer Begründung bedarf, welche den durch das Münchhausen-Trilemma selbst vorgegebenen Schwierigkeiten unterliegt. Was bedeutet dies im Hinblick auf das gesuchte Begründungsverfahren?

Der logische Zirkel ist aus Gründen der Logik fehlerhaft und daher abzulehnen. Der infinite Regress ist zwar logisch korrekt, aber praktisch nicht durchführbar. Bleibt als Letztes nur noch die dritte Möglichkeit, das Beweisverfahren an einem bestimmten Punkt abzubrechen. Hieraus ergeben sich jedoch weitere erkenntnistheoretische Fragen und Schwierigkeiten.

Wahre Aussagen als Ausgangspunkt einer Begründung

Das Begründungsverfahren an einem bestimmten Punkt abzubrechen, bedeutet nichts anderes, als den Beweis auf einer oder mehreren Aussagen aufzubauen, deren Wahrheit in der Folge nicht mehr weiter hinterfragt und begründet wird. Die Rechtfertigung einer Aussage kann daher nur dann überzeugen, wenn diese ersten Annahmen allgemein als wahr akzeptiert werden. Jedes Verfahren, das zu zweifelsfreier Erkenntnis führen soll, muss somit sicherstellen, dass die zugrunde liegenden Annahmen über jeglichen Zweifel erhaben sind, da sie das Fundament der Begründungskette bilden.

Historisch gesehen gab es zwei grundlegend unterschiedliche Ansichten, von welcher Art nicht mehr weiter zu hinterfragende Annahmen sein müssen, um eine Philosophie der unbezweifelbaren Erkenntnis aufbauen zu können. Der Empirismus ging hierbei vom Primat der Erfahrung (»Empirie«) aus, indem er sogenannte Urteile »a posteriori« (nach der Erfahrung) an den Anfang jeglicher Begründung stellte und eine induktiv-empirische Vorgehensweise verfolgte. Der Rationalismus folgte hingegen dem Ideal der reinen Vernunft (»Ratio«) und setzte Urteile »a priori« (vor der Erfahrung) an den Anfang aller weiteren Überlegungen. Dieses Verfahren wird auch als deduktiv-dogmatische Methode bezeichnet. In den nächsten beiden Kapiteln werden diese beiden wichtigen Erkenntnis-Strategien erläutert.

KURZFASSUNG

Dass wir Menschen zur Erkenntnis fähig sind, ist aus philosophischer Sicht nicht selbstverständlich. Die Beschäftigung mit Fragen nach der Erkennbarkeit der Welt ist erst dann sinnvoll ist, wenn sowohl ein ontologischer als auch ein erkenntnistheoretischer Realismus gemäßigter Form vorausgesetzt werden. Dies ist gleichbedeutend mit der Annahme, dass neben unserem Ich (Subjekt) auch eine Welt (Objekt) existiert, die zumindest in Teilen auch tatsächlich vom Menschen erkannt werden kann. Die Welt, auch als Realität oder Wirklichkeit bezeichnet, ist dabei als die Gesamtheit allen Daseins in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft definiert. Jedes Phänomen ist ein Teil dieser Welt und kann Anteile am sichtbaren, unsichtbaren, bewussten oder unbewussten Teil der Realität haben. Alles Wissen über die Welt erfolgt über einen Wahrnehmungskanal, der die Verbindung des Menschen zur Außenwelt herstellt. Die wesentlichen Fragen der Erkenntnistheorie beschäftigen sich mit der Beschaffenheit und Nutzungsweise dieses Kanals, um zu bestmöglicher Erkenntnis zu gelangen. Bestmögliche Erkenntnis entspricht dabei vor allem dem philosophischen Ideal von objektiver Wahrheit. Für den Erwerb objektiver Erkenntnis bildet insbesondere der Einsatz einer geeigneten Sprache eine wichtige Voraussetzung. Sie eröffnet die Möglichkeit, Aussagen über die Welt zu formulieren sowie deren Wahrheitsgehalt intersubjektiv verständlich mit anderen Menschen zu teilen und zu diskutieren. Unter Wahrheit wird dabei »sichere« Erkenntnis, in Form begründeter Aussagen über die Welt verstanden. Die Frage nach Wahrheit ist somit äquivalent zur Frage, wie der Mensch zu zweifelsfrei begründeten Aussagen über die Welt kommen kann. Ein großes erkenntnistheoretisches Ärgernis hinsichtlich der Aufgabe, zu wahren Aussagen über die Realität zu gelangen, ist als »Münchhausen-Trilemma« bekannt. Demnach benötigt aus praktischen Gründen jede Begründungskette einen Startpunkt in Form von nicht weiter hinterfragbaren Grundannahmen.

Historisch gesehen gibt es zwei große erkenntnistheoretische Richtungen: den Rationalismus und den Empirismus. Wie sich diese in der Wahl der Grundannahmen und damit in ihrer Vorgehensweise unterscheiden, ist Thema der folgenden beiden Kapitel.

Eckpfeiler einer reifen Weltsicht

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