Читать книгу Eckpfeiler einer reifen Weltsicht - Michael Merkel - Страница 17
Оглавление6 Rationalismus
Die Philosophie der reinen Vernunft
Die Logik ist unbesiegbar, weil sie nur mit Hilfe der Logik besiegt werden kann. PIERRE BOURROUX
Man kann nicht jeden Denkprozess gewinnen. KLAUS KLAGES
Was haben ein in die Luft geworfener Stein, eine an einem Faden aufgehängte schwingende Kugel und unser Heimatplanet gemeinsam? Alle drei sind Körper, die Bewegungen ausführen, die durch das gleiche Naturphänomen bestimmt sind. Wenngleich die Bewegungen der drei Körper auf den ersten Blick sehr verschieden erscheinen, so sind sie doch vollständig durch die Gravitationskraft bestimmt. Wer sich noch an den Physikunterricht erinnert, weiß, dass der Betrag der Gravitationskraft F zwischen zwei festen Körpern, üblicherweise als Massepunkte idealisiert, durch die Formel F = G m1 m2 / r2 bestimmt ist. Hierbei bezeichnen G die Gravitationskonstante, m1 und m2 die Massen der beiden Körper und r deren Abstand. Diese Gesetzmäßigkeit wurde im Jahr 1686 vom englischen Philosophen und Naturforscher Isaac Newton (1643-1727) in seiner Philosophiae Naturalis Principia Mathematica erstmals veröffentlicht.
Mit der Formel zum Newton’schen Gravitationsgesetz lässt sich, sofern die notwendigen Rahmenparameter bekannt sind, genau vorhersagen, wie sich die Orte der beteiligten Körper im Laufe der Zeit verändern. Wenn beispielsweise neben der Masse der Erde und des Steins bekannt ist, mit welcher Geschwindigkeit und unter welchem Winkel der Stein abgeworfen wird, so lässt sich sehr einfach eine parabelförmige Flugbahn errechnen. In ähnlicher Weise lassen sich eine Kreisbewegung der Erde um die Sonne sowie eine schwingende Bewegung des Fadenpendels exakt ableiten. Die Möglichkeit, mithilfe der Newton’schen Gleichung und ein paar mathematischen Umformungen eine Vielzahl von physikalischen Erscheinungen erklären zu können, lässt darauf schließen, dass es sich beim Gravitationsgesetz um ein sehr allgemeines Naturgesetz handelt.
Nun stellt sich eine interessante Frage: Lassen sich auch philosophische Fragen in ähnlicher Weise präzise und zweifelsfrei lösen? Ist es möglich, fundamentale philosophische Grundprinzipien zu finden, aus denen sich wie im Falle des oben genannten Naturgesetzes, bestimmte für unser Leben wichtige Schlussfolgerungen mit absoluter Gewissheit ziehen lassen? Unter den Philosophen war vor allem Descartes für diese Vision bekannt. Sein Ziel war es, eine »Erste Philosophie« zu formulieren, aus der sich jegliche weitere Erkenntnis mit mathematischer Exaktheit zweifelsfrei ableiten lassen sollte.
— Die Formalisierung des Denkens
Das Ideal deduktiver Beweisführung
Die griechischen Philosophen und Mathematiker waren vermutlich die ersten, die sich bemühten, das menschliche Denken zu formalisieren. Sie erhofften sich hiervon, dass viele unnütze Missverständnisse und Streitereien ausgeräumt werden könnten, wenn die Menschen nur lernen würden, ihren Verstand systematisch zu benutzen. Würde man nach einem allgemeingültigen, vernünftigen Verfahren vorgehen, so glaubte man, dass sich zu sämtlichen Fragen eindeutige und gut begründete Antworten finden ließen. Zeit- und energieraubende Konflikte sollten damit obsolet werden.
Für die Philosophen der Antike war unstrittig, was unter einer stichhaltigen Begründung zu verstehen ist. Ihnen galt der logische Beweis als die Königsdisziplin einer jeden Beweisführung. Hierbei wird von bestimmten Annahmen ausgegangen und aus ihnen mithilfe eines streng logischen Verfahrens Schlussfolgerungen abgeleitet. Den Kern eines Beweises bilden dabei die Gesetze der Logik, welche seit der ersten Systematisierung der logischen Beweisführung durch Aristoteles mit den Gesetzen des Denkens gleichgestellt wurden. Da hierbei die logische Ableitung eine entscheidende Rolle spielt, wird dieses Verfahren auch logische Deduktion genannt.
In der Mathematik ist diese Form des Beweises weit verbreitet und die zugrunde liegenden Annahmen werden zumeist Axiome genannt. Andere Bezeichnungen, die man ebenfalls in der Literatur findet, sind Postulate, Grundsätze, Maxime, Basisthesen oder Prämissen. Diese Annahmen gelten als wahr und werden daher nicht weiter hinterfragt. Mittels genau festgelegter logischer Regeln lassen sich nun aus den zugrunde liegenden Axiomen weitere Aussagen ableiten. Die Mathematik spricht hier von Theoremen. Ein Theorem in Form einer Aussage H gilt genau dann als bewiesen, wenn sich eine deduktive Beweiskette in Form einer geordneten Liste P1 → P2 → … → Pn → H finden lässt, in der jedes Element entweder ein Axiom ist oder gemäß den logischen Regeln aus vorherigen Elementen abgeleitet werden kann.
Da die logischen Regeln ein eindeutiges Vorgehen vorgeben, ist es möglich, die Korrektheit eines mathematischen Beweises objektiv festzustellen. Dies bedeutet, dass jeder, der über das notwendige mathematisch-logische Rüstzeug verfügt, zweifelsfrei feststellen kann, ob eine Beweiskette folgerichtig aufgebaut ist.39 Sobald zu einem Problem eine logische Beweiskette gefunden ist, hat der Mathematiker sein Ziel erreicht. Der Sachverhalt ist geklärt und jeglicher Zweifel ein für alle Mal ausgeräumt.
— Mathematische Philosophie
Die Vision des René Descartes
Die mathematische Methode der logischen Deduktion hatte großen Einfluss auf die Philosophie des Mittelalters und der Neuzeit, insbesondere auf den Rationalismus, abgeleitet aus dem Lateinischen »ratio« (Vernunft). Ratio ist dabei ein weitreichender Begriff, der neben Vernunft auch Rechnung, Berechnung und Erwägung umfasst.40
Die Vernunft als Maß aller Dinge
Als Begründer des Rationalismus gilt Descartes, aber auch Philosophen wie der Niederländer Baruch de Spinoza (1632-1677) oder der Deutsche Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) stehen für diese Denkrichtung. Diese Denker, die gleichzeitig hervorragende Mathematiker waren, faszinierte vor allem, dass sich im Rahmen der Mathematik allein durch folgerichtiges, logisches Denken zu unumstößlichen Schlussfolgerungen gelangen lässt. Daraus leitete sich ihre Überzeugung ab, dass nicht nur in der Mathematik, sondern für jede Form der Erkenntnis die Vernunft eine einzigartige und überragende Rolle spielen muss.
Kennzeichnend für den Rationalismus ist, dass er vernünftiges Denken noch wesentlich höher einschätzt, als dies bereits in der Philosophie der Antike der Fall war. So wird die Vernunft beim Erwerb und der Begründung von Erkenntnis nicht nur betont, sondern in aller Regel sogar als hinreichend betrachtet. Der österreichische Philosoph Wolfgang Stegmüller (1923-1991) erklärt dazu: »Im neuzeitlichen Rationalismus der Aufklärung findet sich diese Denkweise sogar noch in wesentlich verschärfterer Gestalt; so vertrat zum Beispiel der Leibnizschüler Christian Wolf die Ansicht, dass sich alle wissenschaftlichen Theorien, insbesondere auch die gesamte Physik, auf rein logische Wahrheiten zurückführen lasse.«41
Descartes’ Programm zur Ableitung einer »Ersten Philosophie«
Gemäß dieser Überzeugung lehnte Descartes traditionelles Wissen ab und machte sich stattdessen auf, quasi auf der grünen Wiese, ein völlig neues philosophisches Gedankengebäude zu errichten. Sein Ziel war es, ausschließlich durch logisches Denken zu absolut sicherer, unbezweifelbarer Erkenntnis zu gelangen. Inspiriert durch einen Traum wollte er hierzu eine vollständige Erste Philosophie entwickeln, die wie die Mathematik auf absolut gültigen Axiomen beruhen sollte. Da diese nicht bezweifelt werden dürften, müssten sie evident, also für jeden unmittelbar einleuchtend sein. In den Worten Descartes’: »Wir lehnen alles Wissen ab, das nur wahrscheinlich ist, und meinen, daß nur die Dinge geglaubt werden sollten, die vollständig bekannt sind und über die es keinen Zweifel mehr geben kann.«42 Auf dieser axiomatischen Basis sollte dann jegliche Wissenschaft aufbauen und sich durch logische Deduktion jede erdenkliche Frage mit absoluter Gewissheit beantworten lassen.
Zur Errichtung seiner streng deduktiven Philosophie wollte Descartes zunächst widerspruchsfreie Aussagen über die Realität, die mit absoluter Sicherheit wahr sein mussten, zusammentragen und axiomatisch festlegen. Im zweiten Schritt wollte er dann eindeutige Regeln für die logische Folgerung von Schlüssen formulieren. Dadurch sollte die feste Grundlage seiner Naturphilosophie gegeben sein, aus der sich sämtliche Wahrheiten und Erkenntnisse über die Welt ableiten ließen. Mit anderen Worten: Jede relevante Frage sollte sich durch geschickte Anwendung der Logik aus den axiomatisch festgelegten, philosophischen Grundprinzipien eindeutig und zweifelsfrei beantworten lassen. Die Erfolgsaussichten für Descartes’ großes Unterfangen hingen von drei wesentlichen Voraussetzungen ab:
1 Logik: Finden geeigneter Regeln, mit denen sich aus wahren Aussagen weitere wahre Aussagen eindeutig ableitet lassen.
2 Axiomensystem: Festlegung eines Bündels philosophischer Grundannahmen (Axiome), die zweifelsfrei wahr sind.
3 Vollständigkeit: Sicherstellen, dass das Axiomensystem so umfassend ist, dass sich damit alle benötigten Erkenntnisse ableiten lassen.
Betrachten wir nun, ob sich diese drei hehren Voraussetzungen erfüllen lassen und beginnen dazu mit der Logik.
— Die Logik der Logik
Von allgemeiner zu konkreter Wahrheit
Die Logik als philosophische Disziplin ist die Lehre des vernünftigen Schlussfolgerns. Sie untersucht die Struktur von Argumenten im Hinblick auf ihre Gültigkeit. Im vorliegenden Kontext ist vor allem die klassische Aussagenlogik relevant, also das Feld, welches sich mit Aussagen und deren Verknüpfungen zu neuen Aussagen beschäftigt.
Die drei Denkgesetze des Aristoteles
Schon zu Zeiten von Aristoteles standen drei einfache und einleuchtende Denkgesetze im Zentrum der Logik:
› Das Gesetz der Selbstidentität
› Der Satz vom Widerspruch
› Das Prinzip vom ausgeschlossenen Dritten
Alle drei Prinzipien sind einleuchtend und nahezu trivial, aber dennoch von hoher Bedeutung. Das Gesetz der Selbstidentität besagt, dass für jede gegebene Aussage A notwendigerweise gilt, dass A gleich A ist, also zum Beispiel: »Eine Katze ist eine Katze.« Gemäß dem Satz vom Widerspruch ist es unmöglich, eine Aussage zu bejahen und gleichzeitig zu verneinen. Ist die Aussage A wahr, dann kann Nicht-A nicht auch wahr sein. Daher gilt beispielsweise: »Eine Katze ist keine Nicht-Katze.« Das Prinzip vom ausgeschlossenen Dritten schließlich besagt, dass jeder Aussage genau einer von zwei Wahrheitswerten zugeordnet werden kann, weshalb man auch von einer zweiwertigen Logik spricht. Eine Aussage ist entweder wahr oder falsch, eine dritte Möglichkeit gibt es nicht. Der Satz »Eine Katze hat zwei Augen« ist wahr oder falsch – tertium non datur.
Beispiele logischer Schlussfolgerungen
Eine ausführliche Darstellung der Logik würde an dieser Stelle zu weit führen. Um dennoch ein Grundverständnis für eine logische Denkweise zu vermitteln, folgen zur Veranschaulichung einige einfache Beispiele.
Alle Katzen haben zwei Augen. UND Mimi ist eine Katze. → Mimi hat zwei Augen.
In diesem Beispiel wird durch eine UND-Verknüpfung aus den zwei gegebenen wahren Aussagen die weitere wahre Aussage »Mimi hat zwei Augen« logisch abgeleitet. Man erkennt deutlich den Wenn/Dann-Charakter: Wenn die beiden gegebenen Aussagen wahr sind, dann ist es auch die daraus logisch folgende Schlussfolgerung. Was aber passiert, wenn eine oder mehrere der zugrunde liegenden Axiome nicht wahr sind?
Alle Katzen haben drei Augen. UND Mimi ist eine Katze. → Mimi hat drei Augen.
Die falsche Annahme, dass Katzen nicht zwei, sondern drei Augen hätten, überträgt sich auf die Katze Mimi. Somit führt hier die logische UND-Verknüpfung von einer falschen mit einer richtigen Aussage zu einer falschen Aussage. Das Beispiel zeigt, einerlei, ob Katzen tatsächlich drei Augen haben, dass der in den Axiomen steckende Gehalt auf die Schlussfolgerung übertragen wird. Eine wichtige Eigenschaft der Logik ist damit, dass sie informationserhaltend ist. Ihre Struktur bewirkt, dass die Verknüpfung von wahren Aussagen stets zu weiteren wahren Aussagen führt. Umgekehrt führt die Verknüpfung von wahren und falschen Aussagen im Allgemeinen zu falschen Aussagen.
Die logische Deduktion als wahrheitserhaltendes Verfahren
Schon an diesen einfachen Beispielen lässt sich gut erkennen, dass durch eine logische Schlussfolgerung nichts Neues hinzukommt - von Nichts kommt Nichts. Jegliche Information steckt bereits in den zugrunde gelegten Aussagen. Der Einzelfall »Die Katze Mimi hat zwei Augen« ist offensichtlich in der allgemeinen Aussage »Alle Katzen haben zwei Augen« bereits implizit enthalten.
Dies zeigt, dass die Logik selbst keine Wahrheitsquelle darstellt, sondern lediglich ein Werkzeug ist, um die in den verwendeten Aussagen steckende Wahrheit sichtbar zu machen. Die logische Deduktion ist ein informations- und wahrheitserhaltendes Verfahren, das es ermöglicht, vom Allgemeinen und Abstrakten auf das Konkrete und Spezielle zu schließen. Dadurch ist die erste Voraussetzung für ein erfolgreiches Unterfangen des französischen Denkers erfüllt: Die logische Deduktion ist eine Methode, die es erlaubt, aus vergleichsweise wenigen wahren Grundprinzipien eine Vielzahl von speziellen Sachverhalten wahrheitserhaltend abzuleiten.
— Auf der Suche nach Evidenz
Gibt es synthetische Aussagen a priori?
Kommen wir zu Descartes’ zweiter Aufgabe, der Konstruktion unzweifelhaft wahrer philosophischer Grundannahmen.
Reine und angewandte Mathematik
Die reine Mathematik, die Descartes als Vorbild für seine deduktive Philosophie ansah, hat es hier verhältnismäßig einfach. Als sogenannte Strukturwissenschaft hat sie nicht notwendigerweise einen Bezug zu realen Sachverhalten, weshalb hier der übliche Wahrheitsbegriff irrelevant ist. In der Mathematik können grundlegende Axiome im Sinne willkürlicher Spielregeln einfach festgelegt werden und sind damit per Definition wahr. Andere Axiome führen lediglich zu anderen Formalismen, quasi zu anderen Arten von Mathematik.
Erst in der angewandten Mathematik, wenn mathematische Formalismen zur Beschreibung realer Phänomene verwendet werden sollen, ist sicherzustellen, dass die mathematischen Begriffe und Axiome ein Pendant im Bereich der realen Dinge haben. Dann erst stellt sich die Frage, ob ein Phänomen mathematisch beschrieben werden kann und welche Art von Mathematik hierzu am besten geeignet ist.
Die Suche nach gehaltvollen wahren Aussagen
Descartes stand daher vor einer ungleich größeren Aufgabe als ein Mathematiker: Zum einen musste er ein geeignetes Bündel grundlegender erster Aussagen über die Welt finden, die so inhaltsschwer sind, dass die Antworten sämtlicher relevanten Fragen darin implizit enthalten sind. Andererseits musste er sicherstellen, dass diese Axiome gemäß der Korrespondenztheorie der Wahrheit allesamt tatsächlich wahr sind und die Realität korrekt wiedergeben. Da sich der Inhalt der Grundannahmen über die logische Deduktion auf die Schlussfolgerungen überträgt, musste Descartes sicherstellen, dass an der Wahrheit der Axiome nicht der geringste Zweifel besteht. Wie das »Katzenbeispiel« zeigt, reicht bereits ein falsches Axiom, dass sich völlig falsche Schlüsse ergeben können. Dadurch würde das ganze philosophische System wertlos werden. Für Descartes stellte sich also die Schlüsselfrage, ob sich Aussagen - die Philosophen sprechen hier auch von »Urteilen« - finden lassen, die ohne Rückgriff auf andere Aussagen zweifelsfrei als wahr anerkannt werden können.
Analytische Aussagen
Es lassen sich zwei Arten von Urteilen unterscheiden, analytische und synthetische. Analytische Urteile sind in Bezug auf ihren Wahrheitsgehalt unkritisch, da sich aus den Begriffen selbst ergibt, ob der Satz wahr oder falsch ist. Aussagen wie »Der Mann der Witwe ist tot« oder »Der Schimmel ist weiß« können sofort als wahr identifiziert werden. Diese Einsicht folgt a priori, also ohne Rückgriff auf die Erfahrung, unmittelbar aus der Definition von Witwe und Schimmel. Man erfährt durch diese Art von Sätzen nichts Neues, weshalb Kant sie Erläuterungssätze nannte. In der Praxis kann man ein analytisches Urteil a priori immer an seinem kontradiktorischen Gegenteil erkennen. Dieses enthält einen Widerspruch und ist dadurch unmittelbar als falsch entlarvt. So ist beispielsweise das Gegenteil von »Der Mann der Witwe ist tot« die Aussage »Der Mann der Witwe lebt«. Dies ist ein offenkundiger Widerspruch zur Definition und damit falsch.
Synthetische Urteile
In Bezug auf die Erkennbarkeit unserer Welt sind vor allem synthetische Urteile interessant. Hierbei handelt es sich um Aussagen über Tatsachenverhältnisse, deren Wahrheit nicht allein von ihrer grammatikalischen Struktur abhängen, weshalb sie auch als Erweiterungsurteile bezeichnet werden. »Alle Schwäne sind weiß«, ist ein klassisches Beispiel für einen synthetischen Satz. Anders als beim Schimmel, ist beim Schwan die Farbe Weiß nicht automatisch impliziert. Die Behauptung »Alle Schwäne sind weiß« kann vielmehr wahr oder falsch sein. Sie galt tatsächlich lange Zeit als wahr, bis schließlich in Australien schwarze Schwäne entdeckt wurden.
Bei synthetischen Aussagen lassen sich verschiedene Arten unterscheiden. Man differenziert insbesondere zwischen singulären Sätzen wie »Mimi ist eine Katze«, Existenzaussagen wie »Es gibt Katzen« oder Allaussagen wie »Alle Katzen haben zwei Augen«.
Im Hinblick auf Descartes’ große Vision konkretisiert sich daher die Suche nach zweifelsfrei wahren und gehaltvollen Aussagen in der alles entscheidenden Frage, ob es synthetische Urteile a priori gibt. Lassen sich synthetische Aussagen formulieren, deren Wahrheit allein mithilfe der Vernunft zweifelsfrei festgestellt werden kann? Besonders fragwürdig scheint dies in Bezug auf allgemeingültige Allaussagen zu sein. Im Gegensatz zu reinen Existenzaussagen ist es hier nicht genug, sich davon zu überzeugen, dass es zumindest ein Exemplar gibt. Bei allgemeinen Aussagen muss vielmehr demonstriert werden, dass die Aussage für alle betroffenen Fälle, also ausnahmslos gilt. So reicht es für die Akzeptanz der Aussage »Alle Katzen haben zwei Augen« nicht aus, zu wissen, dass alle bisher gesichteten Katzen zwei Augen hatten. Es muss vielmehr sichergestellt sein, dass nicht doch irgendwo eine Katze mit mehr oder weniger als zwei Augen existiert.
Das »Cogito« als einzig sichere synthetische Aussage
Die Problematik synthetischer Urteile ist, dass ihr Wahrheitsgehalt umso angreifbarer ist, je allgemeiner sie sind. Bei der Aussage »Der 20-jährige Fritz Müller aus München kann einen Handstand machen« wird man, sofern dies tatsächlich zutrifft, wesentlich leichter allgemeine Zustimmung bekommen, als bei der deutlich allgemeineren und damit inhaltsschwereren These: »Jeder 20-jährige Mensch kann kurzfristig lernen, einen Handstand zu machen.« Eine Philosophie, die beansprucht, zu allen Lebensfragen allein durch logische Deduktion aussagekräftig zu sein, muss alle dafür notwendigen Informationen bereits in ihren grundlegenden Annahmen enthalten. Dies bedeutet, dass ihre Basis aus zahlreichen, sehr allgemeingültigen und abstrakten Axiomen bestehen muss und daher der geschilderten Problematik in besonderer Weise ausgesetzt ist.
Rückblickend ist es alles andere als verwunderlich, dass Descartes trotz aller Bemühungen letztlich scheitern und seinen Traum aufgegeben musste. Er kam zu dem folgerichtigen Schluss, dass es absolut unbezweifelbare Aussagen grundsätzlich nicht geben kann. Vielmehr kann jede These bezweifelt werden, sobald man den Standpunkt eines extremen Skeptikers einnimmt. Einzige Ausnahme ist, wie erwähnt, die Erkenntnis des eigenen Denkens. Am Ende ist es beim »Cogito« als einzig unbestreitbarem Axiom geblieben. Bis heute wurde keine Möglichkeit gefunden, die Wahrheit einer synthetischen Aussage rein auf Verstandesbasis zweifelsfrei festzustellen, ohne auf andere Axiome zurückzugreifen. Und es gibt auch keinen Anlass zur Hoffnung, dass sich dies ändern wird.
— Das Schreckgespenst des Widerspruchs
Steckt ein Fehler im System?
Bleibt zu Descartes’ 3-Punkte-Programm noch die Frage nach der Vollständigkeit eines philosophischen Erkenntnissystems. Wenn es auch unmöglich ist, a priori absolute Sicherheit hinsichtlich der Grundannahmen zu erhalten, so ist es doch interessant zu klären, ob es eine vollständige Philosophie geben kann. Anders formuliert: Ist es prinzipiell denkbar, ein axiomatisches Aussagenbündel zu konstruieren, auf dessen Basis alle relevanten Fragen logisch richtig beantwortet werden können?
Wahre Aussagen können sich nicht widersprechen
Wie sich zeigen wird, ist die Frage der Vollständigkeit eines Aussagensystems eng mit dessen Widerspruchsfreiheit verknüpft. Anbei zum Einstieg wieder ein simples Beispiel:
Alle Katzen haben zwei Augen. (A) UND Alle Katzen haben drei Augen. (B) UND Mimi ist eine Katze. (C) → Mimi hat zwei Augen. (A UND C) → Mimi hat drei Augen. (B UND C)
Durch die Kombination von Aussage A mit C beziehungsweise B mit C entstehen zwei neue Aussagen, die sich offenkundig widersprechen. So kann Mimi definitiv nur zwei oder drei Augen haben, beides geht nicht. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass nicht alle Voraussetzungen wahr sein können. A, B und C bilden somit ein in sich widersprüchliches System. In diesem Falle ist offenbar B falsch. Zusätzlich könnte aber auch noch C falsch sein, wenn Mimi beispielsweise in Wahrheit ein Waschbär ist und lediglich mit einer Katze verwechselt wurde.
Allgemein heißt das: Wahre Aussagen können sich nicht widersprechen. Wenn sich daher durch die logische Verknüpfung von Aussagen ein Widerspruch ergibt, so ist davon auszugehen, dass mindestens eine der verwendeten Aussagen falsch ist. In solch einem Falle besteht die Notwendigkeit, die beteiligten Annahmen zu überprüfen und entsprechend zu korrigieren. Die Widerspruchsfreiheit eines Aussagensystems, auch innere oder logische Konsistenz genannt, ist daher die notwendige Voraussetzung für die Wahrheit der daraus abgeleiteten Aussagen. Ein Widerspruch beweist immer, dass mindestens eine der Annahmen falsch ist. Das System ist dann inkonsistent und letztendlich wertlos.
Wie erwähnt, ist in der Mathematik aufgrund ihres definitorischen Charakters der Wahrheitsbegriff sinnlos. Dort spielt vielmehr die Widerspruchsfreiheit die alles entscheidende Rolle. Wären nämlich in den mathematischen Axiomen Widersprüche verborgen, so wäre die Mathematik insgesamt bedroht, weil sich dann alles Mögliche – eine Aussage A genauso wie ihr Gegenteil - beweisen ließe.
Für die Mathematiker war so etwas undenkbar. Über viele Jahrhunderte hinweg gab es nicht den geringsten Zweifel daran, dass das Gebäude der Mathematik in sich schlüssig und damit widerspruchsfrei sei. Im 19. Jahrhundert geriet diese Überzeugung allerdings ins Wanken und sollte die Mathematik in eine Krise führen. Ausschlaggebend waren Probleme, die mit dem Unendlichen und bestimmten Rückbezüglichkeiten zu tun hatten und dadurch zu paradoxen Situationen führten. Paradoxien waren schon seit der Antike bekannt, aber ihre dramatische Auswirkung auf die Mathematik als Ganzes war bis dato neu.
Widersprüche durch Selbstbezüglichkeit
Betrachten wir das Beispiel des »Lügner-Paradoxons«, bei dem ein Mann behauptet: »Ich lüge.« Wie man sich leicht überzeugen kann, handelt es sich bei diesem Satz trotz seiner simplen Struktur um eine seltsame Schleife, die es unmöglich macht, zu entscheiden, ob die Aussage des Mannes wahr oder falsch ist: Angenommen der Satz wäre richtig, dann würde der Mann lügen. Damit wäre aber die Aussage falsch. Wäre der Satz umgekehrt falsch, dann würde der Mann die Wahrheit sagen und damit wäre die Aussage doch richtig. Die Aussage »Ich lüge« ist augenscheinlich weder richtig noch falsch, sondern nicht entscheidbar.43 Ähnlich verhält es sich mit dem »Paradoxon des Eubulides«, das aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. stammt:
Diese Aussage ist falsch.
Hier gilt das Gleiche wie beim Lügner-Paradoxon. Wäre die Aussage richtig, dann wäre sie falsch und umgekehrt. Es gibt auch Paradoxien, die aus mehreren Stufen bestehen, wie die folgende zweistufige Schleife eindrucksvoll belegt:
Die folgende Aussage ist richtig. Die vorherige Aussage ist falsch.
Dieses Beispiel ist bemerkenswert, da es zeigt, wie aus der Kombination von zwei harmlosen Sätzen ein unauflösbarer Widerspruch entstehen kann.
Neben den seltsamen Schleifen, welche aus semantischen Elementen bestehen, existieren weitere Paradoxien, die rein logischer Natur sind. Diese treten in jeder symbolischen oder mathematischen Darstellung auf und sind von besonderer Bedrohung für die Mathematik. »Russels Antinomie« aus dem Jahre 1902, benannt nach dem britischen Mathematiker und Philosophen Bertrand Russell (1872-1970), ist ein bekanntes Beispiel aus der Mengenlehre. Dort geht es um unentscheidbare Aussagen im Zusammenhang mit einer Supermenge M, die alle Mengen enthält, die sich nicht selbst enthalten. Äquivalent dazu, aber etwas anschaulicher, ist das »Barbier-Paradoxon«, bei dem die Wahrheit der Aussage ebenfalls nicht entscheidbar ist. In diesem erklärt der Barbier von Sevilla:
Ich schneide allen die Haare, die sich nicht selbst die Haare schneiden.
Auch die Wahrheit dieser Aussage ist offenkundig nicht eindeutig mit »ja« oder »nein« zu beantworten.
In allen diesen Paradoxien steckt immer derselbe Haken: Selbstbezüglichkeit. Das heißt, Aussagen machen Aussagen über sich selbst und erzeugen dadurch einen Widerspruch. Es sollte nachvollziehbar geworden sein, dass derartige Probleme den Mathematikern im 19. Jahrhundert große Sorgen bereiteten, weil sie ein Indiz dafür sein könnten, dass die gesamte Mathematik womöglich widersprüchlich und damit letztlich wertlos sei.
— Gödels Geniestreich
Der Beweis der Unbeweisbarkeit
Die Gefahr, dass das Gebäude der Mathematik auf wackligen Füßen stehen könnte, machte auch einem der größten Mathematiker seiner Zeit, David Hilbert (1862-1942), zu schaffen.
Das Hilbert’sche Programm
Um zu beweisen, dass die Mathematik tatsächlich widerspruchsfrei ist, rief Hilbert in den 1920er Jahren die Zunft der Mathematiker zu einem Programm auf. Sie sollten ein logisches und systematisches Verfahren entwickeln, das es möglich macht, in einer endlichen Anzahl von logischen Schritten zweifelsfrei zu entscheiden, ob eine mathematische Aussage richtig oder falsch ist. Der Plan war, über die Existenz eines solchen Verfahrens zu zeigen, dass jede mathematische Aussage entweder eindeutig wahr oder falsch ist.
Es ist schwer zu sagen, wie optimistisch die Mathematiker dieses Vorhaben damals einschätzten. Aber aus heutiger Sicht hätte man an den Erfolgsaussichten von Hilberts Programm doch starke Zweifel hegen müssen. Da das Hilfsmittel für die Konstruktion des gesuchten Verfahrens die Mathematik selbst war, ging es um nichts weniger, als die Widerspruchsfreiheit eines Systems mithilfe des Systems selbst zu zeigen. Eine an sich aussichtslose Aufgabe, wie der amerikanische Physiker und Kognitionswissenschaftler Douglas R. Hofstadter (*1945) bemerkt: »Wie kann man seine Beweismethoden auf der Grundlage eben dieser Beweismethoden rechtfertigen? Es ist, als wolle man sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen.«44 Dieses Kunststück vollbrachte bisher nur der Baron von Münchhausen in einer seiner bekannten Lügengeschichten. Hilbert war sich dieser Problematik natürlich bewusst, hoffte aber, dass man vielleicht die Gesamtheit der mathematischen Methoden als verlässlich auszeichnen könne, indem man lediglich auf eine geringe Anzahl von Methoden zurückgriffe.
Die Gödel’schen Unvollständigkeitssätze
Das endgültige Aus von Hilberts Hoffnung kam nur wenige Jahre später, als der österreichische Mathematiker und Logiker Kurt Gödel (1906-1978) im Jahre 1931 seine berühmten Unvollständigkeitssätze bewies. Mit diesen mathematischen Sätzen zeigte er für alle logischen Systeme eine klare, unüberschreitbare Grenze auf. Umgangssprachlich lautet der erste Unvollständigkeitssatz:
Jedes hinreichend komplexe, logische und in sich widerspruchsfreie System ist unvollständig, insofern, als dass es darin notwendigerweise Aussagen gibt, deren Richtigkeit nicht innerhalb des Systems selbst beantwortet werden kann.
Gödels zweiter Unvollständigkeitssatz ist im Wesentlichen eine Folge des ersten und belegt, dass speziell die Aussage »Das System ist widerspruchsfrei« zu den Aussagen gehört, die nicht mit den Mitteln des Systems belegt werden können:
Die Widerspruchsfreiheit eines Systems kann innerhalb des Systems grundsätzlich nicht bewiesen werden.
Die Mathematik ist ein unvollständiges System
Dies bedeutet, dass die Unbeweisbarkeit der Widerspruchsfreiheit eines Systems ein wahrer, bewiesener Satz ist. Hilberts Programm hat sich damit als undurchführbar herausgestellt. Die Mathematiker mussten zur Kenntnis nehmen, dass es innerhalb der Mathematik tatsächlich Aussagen gibt, bei denen kein systematisches Verfahren bestimmen kann, ob sie wahr oder falsch sind. Jedes mathematische System ist damit unvollständig.
Damit keine Missverständnisse aufkommen: Nach wie vor gibt es gute Gründe anzunehmen, dass die Mathematik tatsächlich widerspruchsfrei ist. Allerdings gibt es dafür keinen logischen Beweis und nach Gödel kann es einen solchen auch nicht geben. Der Beweis, dass es in der Mathematik etwas gibt, das prinzipiell nicht beweisbar ist, war ein herber Schlag für alle Mathematiker.
— Die Grenzen der Vernunft
Die Relativität rationaler Erkenntnis
Was für die Mathematik gilt, hat auch für jedes andere hinreichend komplexe Erkenntnissystem mit dem Anspruch logischer Konsistenz seine Gültigkeit. Damit betrifft es auch die von Descartes gesuchte Erste Philosophie. Man kann sich daher weder absolut sicher sein, dass die grundlegenden Postulate und damit die Schlussfolgerungen eines logischen Aussagensystems tatsächlich wahr sind, noch kann man beweisen, dass das System zumindest in sich schlüssig, das heißt widerspruchsfrei ist. Es bleibt damit nichts anderes übrig, als auf die Widerspruchsfreiheit eines Systems zu vertrauen und bis auf Weiteres dogmatisch festzulegen.
Umgang mit unvollständigen Theorien
Praktisch bedeutet dies, dass im Rahmen jeder Theorie irgendwann ein Widerspruch auftauchen kann, der beweist, dass das Aussagensystem widersprüchlich und infolgedessen korrekturbedürftig ist. Sollte das System umgekehrt tatsächlich widerspruchsfrei sein, so kann man sich dessen dennoch nie absolut sicher sein. Man muss stets damit rechnen, dass es Widersprüche im System gibt, die lediglich noch nicht bemerkt wurden. Das Problem der Wahrheit und Widerspruchsfreiheit einer Theorie ist also durch reine Vernunft nicht lösbar.
Neben der Widerspruchsfreiheit kann es auch andere Fragen geben, die innerhalb eines logischen Systems nicht beantwortet werden können. Dies heißt nicht, dass die Theorie dann notwendigerweise falsch ist, weist aber unmissverständlich auf bestehende Grenzen hin. Immer dann, wenn im Rahmen einer Theorie Widersprüche oder unentscheidbare Aussagen auftreten, zeigt dies, dass die Theorie an eine Grenze gestoßen ist. Bei im Grunde genommen guten Theorien bedeutet dies jedoch in aller Regel nicht, dass das gesamte Axiomensystem zu verwerfen ist. Das System hat lediglich seine Unvollständigkeit offenbart und bedarf einer korrigierenden Erweiterung. Die Aufgabe besteht dann darin, den Gültigkeitsbereich der Theorie geeignet zu vergrößern, indem die zugrunde liegenden Postulate entsprechend modifiziert werden. Ob eine entsprechende Erweiterung des Systems erfolgreich war, lässt sich daran ablesen, dass sich danach die vormals unentscheidbaren Aussagen eindeutig als wahr oder falsch ableiten lassen und sich bestehende Widersprüche auflösen. Dieses Prinzip lässt sich anhand einer bekannten Geschichte aus Indien veranschaulichen.
Die fünf Weisen und der Elefant
»Es waren einmal fünf weise Gelehrte. Sie alle waren blind. Diese Gelehrten wurden von ihrem König auf eine Reise geschickt und sollten herausfinden, was ein Elefant ist. Und so machten sich die Blinden auf die Reise nach Indien. Dort wurden sie von Helfern zu einem Elefanten geführt. Die fünf Gelehrten standen nun um das Tier herum und versuchten, sich durch Ertasten ein Bild von dem Elefanten zu machen. Als sie zurück zu ihrem König kamen, sollten sie ihm nun über den Elefanten berichten. Der erste Weise hatte am Kopf des Tieres gestanden und den Rüssel des Elefanten betastet. Er sprach: ›Ein Elefant ist wie ein langer Arm.‹ Der zweite Gelehrte hatte das Ohr des Elefanten ertastet und sprach: ›Nein, ein Elefant ist vielmehr wie ein großer Fächer.‹ Der dritte Gelehrte sprach: ›Aber nein, ein Elefant ist wie eine dicke Säule.‹ Er hatte ein Bein des Elefanten berührt. Der vierte Weise sagte: ›Also ich finde, ein Elefant ist wie eine kleine Strippe mit ein paar Haaren am Ende‹, denn er hatte nur den Schwanz des Elefanten ertastet. Und der fünfte Weise berichtete seinem König: ›Also ich sage, ein Elefant ist wie eine riesige Masse, mit Rundungen und ein paar Borsten darauf.‹ Dieser Gelehrte hatte den Rumpf des Tieres berührt. Nach diesen widersprüchlichen Äußerungen fürchteten die Gelehrten den Zorn des Königs, konnten sie sich doch nicht darauf einigen, was ein Elefant wirklich ist. Doch der König lächelte weise: ›Ich danke Euch, denn ich weiß nun, was ein Elefant ist: Ein Elefant ist ein Tier mit einem Rüssel, der wie ein langer Arm ist, mit Ohren, die wie Fächer sind, mit Beinen, die wie starke Säulen sind, mit einem Schwanz, der einer kleinen Strippe mit ein paar Haaren daran gleicht und mit einem Rumpf, der wie eine große Masse mit Rundungen und ein paar Borsten ist.‹ Die Gelehrten senkten beschämt ihren Kopf, nachdem sie erkannten, dass jeder von ihnen nur einen Teil des Elefanten ertastet hatte und sie sich zu schnell damit zufriedengegeben hatten.«
Das Verständnis der blinden Gelehrten vom Phänomen »Elefant« lässt sich als eine »Theorie der Körperteile« auffassen. Diese Theorie ist unvollständig, weil sie in dieser Form kein befriedigendes Bild eines Elefanten liefert. Da die einzelnen Körperteile »langer Arm«, »großer Fächer« und »dicke Säule« jeweils mit dem Elefanten als solchen identifiziert werden, entstehen Widersprüche, die nicht miteinander vereinbar scheinen. Damit können innerhalb der bisherigen »Theorie der Körperteile« die Wahrheitsgehalte der einzelnen Aussagen offenbar nicht geklärt werden.
Die bestehenden Widersprüche können erst im Rahmen einer umfassenderen »Theorie des Körpers« aufgelöst werden. Durch die Ergänzung der Annahme, dass ein Elefant einen großen Körper mit verschiedenen Gliedmaßen besitzt, heben sich die bestehenden Ungereimtheiten auf. Aus einer unvollständigen Entweder/Oder-Sicht – entweder Arm oder Fächer oder Säule – wird eine Sowohl/Als-auch-Perspektive. Die zunächst mit dem Elefanten identifizierten Teile gehen auf einer höheren Ebene als unterschiedliche, aber einander ergänzende Aspekte des Elefantenkörpers in ein umfassenderes Bild vom Elefanten ein. In der erweiterten Theorie werden die ursprünglichen Widersprüche durch eine weitreichendere Sicht auf einer höheren Verständnisebene aufgehoben.
Die Unerfüllbarkeit der Descartes’schen Vision
Die Eigenschaft der Unvollständigkeit gehört zur Natur eines logischen Aussagensystems, weshalb jede wissenschaftliche Theorie ihre natürlichen Grenzen hat. Wie veranschaulicht, kann der Gültigkeitsbereich einer Theorie zwar durch eine geeignete Erweiterung ausgedehnt werden, es ergeben sich dann aber notwendigerweise andere unentscheidbare Aussagen. Selbst die besten Theorien sind immer unvollständig und hypothetisch. Eine »Theory of Everything« ist aus diesem Grund ein Hirngespinst. Streng logisch betrachtet ist all unser Wissen von der Welt lediglich ein vorläufiges Vermutungswissen.
Der deutsche Physiker Alfred Gierer (*1929) fasste diesen Sachverhalt treffend zusammen: »Ausgerechnet der Versuch, das logische Denken durch ein System strenger formaler Regeln abzusichern, führte zu der Entdeckung, dass es vernünftig formulierte und dennoch unentscheidbare Aussagen gibt; insbesondere kann in leistungsfähigen logischen Systemen die Widerspruchsfreiheit nicht mit Mitteln des Systems selbst nachgewiesen werden. Zwar vermag man unter Umständen noch ›reichere‹ Systeme zu konstruieren, die dann die Widerspruchsfreiheit des ärmeren Systems absichern; aber im reicheren System lassen sich dann wieder unentscheidbare Sätze formulieren, darunter der Satz über dessen eigene Widerspruchsfreiheit. Eine perfekte Logik der Logik ist aus logischen Gründen unmöglich, der Absicherungsversuch führt zu einer Kette ohne Ende. Die mathematischen Grenzen der Entscheidbarkeit können als Hinweis darauf gedeutet werden, dass das menschliche Denken in der Gesamtheit seiner Möglichkeiten sich selbst ein Rätsel bleibt.«45
Rückblickend betrachtet ist aufgrund der Gödel’schen Erkenntnisse klar, dass Descartes mit seinem Versuch, eine vollkommene Erste Philosophie zu errichten in doppelter Hinsicht scheitern musste. Zum einen, weil es grundsätzlich keine Möglichkeit gibt, die Wahrheit der grundlegenden Annahmen a priori zweifelsfrei sicherzustellen. Tatsächlich hätte Descartes nicht einmal die innere Konsistenz der Postulate beweisen können. Zum anderen hätte seine Philosophie niemals den ursprünglich erhofften stabilen Reifezustand erreichen können, der sämtliche zeitraubenden philosophischen Diskussionen unnötig gemacht hätte. Selbst wenn Descartes einen Satz grundlegender, widerspruchsfreier Axiome gefunden hätte, wäre sein System notwendigerweise unvollständig geblieben. Er wäre immer wieder auf Fragen gestoßen, die im Rahmen seiner Ersten Philosophie nicht zu beantworten gewesen wären. Die axiomatisch gesetzten Grundannahmen hätten daher immer wieder erweitert und gegebenenfalls revidiert werden müssen. Dabei wäre er jeweils erneut mit denselben Diskussionen und Schwierigkeiten konfrontiert gewesen: einerseits zu entscheiden, ob die neu hinzukommenden oder veränderten Postulate als wahr anerkannt werden können und andererseits zu bewerten, ob sich dadurch nicht Widersprüche in das System eingeschlichen haben könnten.
Die Überzeugungskraft eines logischen Beweises ist relativ
Die Tragweite des Gödel’schen Beweises ist so groß, dass der deutsche Logiker Heinrich Scholz (1884-1956) diesen in Anlehnung an Kant sogar als »zweite Kritik der reinen Vernunft«46 bezeichnete.
Alle diese Überlegungen zeigen, dass es keine absolute Beweisbarkeit im logischen Sinne gibt. Beweisbarkeit ist damit ein schwächerer Begriff als Wahrheit. Die Überzeugungskraft eines logischen Beweises steht und fällt mit der Wahrheit der zugrunde liegenden Annahmen. Die logische Deduktion ist daher kontextabhängig und die hierdurch gewonnene Erkenntnis relativ. Wenn jedoch der Kontext, das heißt insbesondere die zugrunde liegenden Annahmen, als korrekt und widerspruchsfrei akzeptiert werden, dann ist die logische Deduktion das sicherste Verfahren, das vorstellbar ist. Sie hat in diesem Fall objektive Beweiskraft, weil aufgrund der klar definierten, bekannten logischen Regeln sämtliche Schlussfolgerungen intersubjektiv nachprüfbar sind. Die hierdurch abgeleiteten Erkenntnisse würden dann als zweifelsfrei wahr gelten.
KURZFASSUNG
Die Rationalisten, allen voran René Descartes, setzten im Hinblick auf menschliche Erkenntnis die Vernunft über alles. Für sie stand fest, dass bei der Festlegung des Startpunktes einer jeden Argumentationskette die menschliche Vernunft die zentrale Rolle einnimmt. Sie strebten sichere Erkenntnis dadurch an, dass aus ersten, rational begründeten Annahmen jegliche Wahrheit mit mathematischer Strenge abgeleitet werden sollte. Die logische Deduktion bildete hierbei das Verfahren der Wahl, um vom Allgemeinen und Abstrakten auf das Konkrete und Spezifische zu schließen. Da eine logische Schlussfolgerung nicht mehr hervorbringen kann, als in den zugrunde gelegten Annahmen bereits enthalten ist, kommt diesen Annahmen, auch Axiome oder Postulate genannt, eine entscheidende Rolle zu.
Ernüchternderweise stellte sich im Laufe der Zeit heraus, dass es grundsätzlich keine Möglichkeit gibt, die Wahrheit einer bestimmten Aussage »a priori« (vor der Erfahrung) sicher zu belegen. Dies bedeutet, dass es für jedes philosophische System unumgänglich ist, die grundlegenden Annahmen im Sinne eines »Vorurteils« dogmatisch festzulegen. Die unvermeidbare Unsicherheit über die Richtigkeit der zugrunde liegenden Annahmen verleiht jeder Theorie einen hypothetischen Charakter. Darüber hinaus konnte im 20. Jahrhundert über die Gödel’schen Unvollständigkeitssätze mathematisch bewiesen werden, dass jedes hinreichend komplexe logische System unvollständig ist, weil sich stets Aussagen formulieren lassen, deren Wahrheit nicht innerhalb des Systems entschieden werden kann. Hierzu gehört insbesondere die Frage nach der inneren Konsistenz, also der Widerspruchsfreiheit des Systems.
Nach streng logischen Gesichtspunkten beurteilt, ist damit jegliches menschliche Wissen kontextabhängig und relativ. Verstandesmäßige Erkenntnis bleibt grundsätzlich hypothetisch, unvollständig, vorläufig und nur in Relation zu den dogmatisch gesetzten Annahmen wahr. Bestünde hingegen bezüglich der Wahrheit der zugrunde liegenden Postulate uneingeschränkte Einigkeit, dann wäre die deduktiv-dogmatische Methode der Rationalisten die sicherste vorstellbare Form einer objektiven Begründung.
→ Der Empirismus umgeht das Problem, die uneingeschränkte Gültigkeit allgemeiner Axiome sicherstellen zu müssen. Dieser Gegenentwurf zum Rationalismus ist Thema des folgenden Kapitels.