Читать книгу Eckpfeiler einer reifen Weltsicht - Michael Merkel - Страница 14

Оглавление

4 Quellen der Erkenntnis

Wer kann uns die Welt erklären?

Zwei Wahrheiten können sich nie widersprechen. GALILEO GALILEI

Das grundlegende Charakteristikum der westlichen Religionen besteht darin, dass man an etwas glaubt, für das es keine Beweise gibt. Das grundlegende Charakteristikum der westlichen Wissenschaft ist, alles abzulehnen, was nicht bewiesen werden kann… Wer hat nun Recht? GARY ZUKAV

»Ein Mann, der für sein Gottvertrauen bekannt war, stürzte in einen Fluss. An ein Stück Treibholz geklammert, trieb er flussabwärts. Auf einmal hörte er vom nahgelegenen Ufer jemanden rufen: ›Halten Sie durch, ich werfe Ihnen ein Seil zu!‹ Völlig sicher, dass Gott ihn retten werde, antwortete er ruhig: ›Machen Sie sich keine Umstände, Gott wird mir schon helfen!‹ Nach einiger Zeit holte ihn ein Kanufahrer ein und bot ihm an, ihn aus dem Wasser zu ziehen. ›Nein danke, Gott wird mir schon helfen!‹, antwortete der fromme Mann. Er trieb weiter und merkte, wie seine Kräfte langsam schwanden. Lange würde er sich nicht mehr festhalten können, aber er war sich nach wie vor sicher, dass Gott ihn nicht im Stich lassen würde. Ein Hubschrauberpilot sah den hilflosen Mann und eilte ihm zur Hilfe. Er ließ eine Strickleiter herab und forderte ihn auf, an Bord zu klettern. Aber anstatt nach der rettenden Leiter zu greifen, schüttelte der gottesfürchtige Mann nur den Kopf. Verwundert flog der Pilot davon. Noch im letzten Moment glaubte der Mann fest daran, dass Gott ihm helfen werde. Dann ging er unter und ertrank. Da er ein gerechter Mann war und ein anständiges Leben geführt hatte, kam er sogleich in den Himmel. Erbost suchte er Gott auf und überschüttete ihn mit Vorwürfen: ›Mein Leben lang habe ich an Dich geglaubt und jetzt, als ich Dich einmal dringend gebraucht hätte, lässt Du mich jämmerlich im Stich!‹ Gott hörte sich die Beschwerden geduldig an. Dann sprach er: ›Du dummer Mensch! Zuerst ließ ich Dir ein Seil zuwerfen, dann schickte ich Dir ein Boot und zu guter Letzt schickte ich zu Deiner Hilfe sogar einen Hubschrauber! Was hätte ich denn sonst noch zu Deiner Rettung tun sollen?‹«

Diese Parabel, die in verschiedenen Varianten kursiert, macht eine wichtige Sache deutlich: Unsere Entscheidungen und Handlungen hängen entscheidend von unserem Verständnis der Realität ab.

— Bausteine eines tragfähigen Weltbildes

Antworten auf die großen Lebensfragen

Jeder Mensch hat eine ganz persönliche und spezielle Sicht auf die Dinge. Unsere Vorstellung von der Realität wird üblicherweise als Weltbild, Weltsicht oder Weltanschauung bezeichnet. Unsere Weltsicht verleiht uns Orientierung und Sicherheit. Sie enthält sowohl objektive als auch subjektive Elemente. Je realitätsgetreuer unsere Sicht auf die Welt ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit dafür, gute Entscheidungen zu treffen und folgerichtig zu handeln. Eine mit der Realität im Einklang stehende Weltsicht ist damit die Voraussetzung für ein wesensgemäßes und glückliches Leben.

Soll ein Weltbild tragfähig sein und als Orientierung zur Lebensgestaltung taugen, muss es in jedem Falle Antworten auf die großen Lebensfragen liefern. Diese lassen sich in drei Wissenskategorien unterteilen:

› Wesentliche Vorstellungen vom Sein

› Fundamentale Gesetzmäßigkeiten

› Grundlegende Werte und Normen

In Bezug auf die Überlegungen zur Spielanalogie15 entsprechen die ersten beiden Kategorien dem Grundwissen, die letzte hingegen dem Praxiswissen.

Wesentliche Vorstellungen vom Sein (Ontologie)

Die ontologische Dimension eines Weltbildes behandelt grundlegende Fragen nach dem Sein. Unsere Seinsvorstellungen geben Antworten auf die Frage, was alles im Universum existiert. Welche Entitäten gibt es und welche Eigenschaften haben sie? Was bedeuten Zeit und Raum? Beruhen alle Daseinsformen auf Materie oder gibt es auch immaterielle Objekte? Gibt es gar einen Schöpfer? Falls ja, welche Eigenschaften hat er?

Neben der Auseinandersetzung mit den grundlegenden Phänomenen der Welt ist im Hinblick auf unsere Lebensgestaltung vor allem die Frage nach dem Wesen des Menschen von Bedeutung – also unser Menschenbild. Es stellt die entscheidende Grundlage dafür dar, unter welchem Lichte wir nicht nur uns, sondern auch alle anderen Menschen betrachten und bestimmt damit, welchen Wert wir dem menschlichen Leben beimessen. Es ist relevant zu wissen, welche zentralen Fähigkeiten und Potenziale den Menschen auszeichnen und welche Möglichkeiten für ihn dadurch entstehen. Unterscheidet sich der Mensch vom Tier, und falls ja, worin? Ebenso bedeutsam ist die Frage, ob und inwieweit der Mensch fähig ist, seinen Charakter zu entwickeln. Was fördert gegebenenfalls seine Entwicklung? Was verleiht ihm nachhaltiges Glück und Wohlergehen? Ist der Mensch seiner Natur nach körperlich, geistig oder gar beides? Besitzt der Mensch über seinen physischen Körper hinaus womöglich eine Seele, die den körperlichen Tod überdauert? Hat der Mensch eine besondere Bestimmung, und wenn ja, was ist dann seine Mission?

Unter den genannten ontologischen Fragestellungen zum Wesen des Menschen ist vor allem die Auseinandersetzung mit dem Tod, der ein unabänderliches Phänomen des menschlichen Lebens darstellt, vielen Menschen unangenehm und wird daher gerne verdrängt. Das ist insofern problematisch, als dass unsere Meinung hierzu von zentraler Bedeutung für unsere Lebensgestaltung ist. Wer beispielsweise davon überzeugt ist, dass mit dem Tod alles vorbei ist, wird aus der daraus folgenden »You-Only-Live-Once«-Perspektive seine Überlegungen zur Lebensgestaltung auf das irdische Leben beschränken. Wer hingegen von einem Weiterleben nach dem Tod überzeugt ist, wird sich darum bemühen, sein Handeln aus einem größeren Kontext zu betrachten, und die Folgen seines irdischen Handelns für die nächste Welt abzuschätzen.

Die Fragen zum Menschenbild lassen sich in ähnlicher Weise auch im Hinblick auf die Menschheit als Ganzes stellen. Hat auch die Menschheit Ziel und Bestimmung? Was benötigt die Menschheit als Ganzes, um sich entsprechend weiterentwickeln zu können? Die Antworten hierzu führen zu einem entsprechenden Menschheitsbild.

Fundamentale Gesetzmäßigkeiten

Den zweiten wichtigen Teil unseres Weltbildes stellt das Verständnis der im Universum herrschenden Gesetzmäßigkeiten, auch Kausalzusammenhänge genannt, dar. Diese beschreiben die Wechselwirkungen zwischen den existierenden Entitäten, welche durch deren Eigenschaften bestimmt werden. Kein Weltbild kommt ohne ein angemessenes Verständnis der im Universum geltenden Gesetzmäßigkeiten aus. Als Teil der Welt sind wir, ob wir wollen oder nicht, den existierenden Gesetzen und ihren Wirkungen ausgesetzt. Je genauer wir sie kennen, desto besser können wir im Einklang mit ihnen handeln und müssen nicht mit unliebsamen Überraschungen rechnen.

Eine physikalische Gesetzmäßigkeit, die jeder kennt, ist die Schwerkraft. Sie gilt im ganzen Universum, wirkt auf alle materiellen Körper und beeinflusst deren Bewegungen in vorhersagbarer Weise. Die Kenntnis des Gravitationsgesetzes versetzte den Menschen in die Lage, verschiedene Geräte und Hilfsmittel zu entwickeln.

Dies macht deutlich, wie sehr das Wissen um die im Universum geltenden Wechselwirkungen zu einem Gewinn für den Menschen werden kann. Wollen wir im Hinblick auf die Welt fundierte Entscheidungen treffen und zielführend handeln, kommen wir nicht um die Auseinandersetzung mit Fragen herum, die uns helfen, unsere Lebensrealität immer besser zu verstehen. Es gilt zu erkennen, welche der Gesetze, die in unserem Universum wirken, unmittelbar unser Leben betreffen und in welcher Weise sie das tun. Sollten wir aufgrund der Beschäftigung mit ontologischen Fragen davon ausgehen, dass es über die Materie hinaus weitere, immaterielle Dimensionen gibt, und wir möglicherweise selbst eine geistige Dimension besitzen, so wäre es wichtig zu wissen, welche Gesetze hier wirken und für uns von Bedeutung sind. Die meisten Menschen besitzen ausreichende Grundkenntnisse über physikalische, chemische und biologische Naturgesetze, die ihnen helfen, ihr Leben zu meistern. Im Hinblick auf die Bestimmung des Menschen ist vor allem ein Verständnis derjenigen Gesetze wichtig, die sich auf unsere wesensgemäße Entwicklung beziehen.

Je besser wir die im Universum herrschenden, gesetzesartigen Kausalzusammenhänge verstehen, desto besser können wir die Folgen und damit die Wirksamkeit unseres Handelns einschätzen. Dieses Verständnis versetzt uns darüber hinaus in die Lage, so zu handeln, dass wir nicht unnötig gegen universale Gesetzmäßigkeiten ankämpfen, sondern sie vielmehr für unsere Zwecke nutzen.

Grundlegende Werte und Normen

Der letzte große Bereich eines Weltbildes, der hier erwähnt werden soll, betrifft das Feld der Werte und Normen. Grundlage einer jeden Norm ist, wie bereits erläutert,16 der Wert, der den verschiedenen Dingen sowie deren Eigenschaften und Beziehungen beigemessen wird. Durch eine Norm wird der Wert der Dinge mit dem gewünschten Umgang mit eben diesen Dingen verknüpft.

Wird beispielsweise ein Menschenleben als unschätzbar wertvoll erachtet, muss sich dies auch in entsprechenden Normen zum Schutz des Menschen widerspiegeln. Und sollte es von herausragender Bedeutung für den Menschen sein, spezielle Tugenden zu kultivieren, so müssen Normen in Form praktischer Ziele und Handlungsgrundsätze dergestalt sein, dass dies auch entsprechend gefördert wird.

Erst wenn wir wissen, was in Bezug auf unser Leben und das Leben im Allgemeinen einen hohen Wert darstellt, können wir für diesen Wert gezielt eintreten und ihn Wirklichkeit werden lassen. Unser Weltbild muss eine Antwort auf die Frage geben, welche Werte und Normen den Menschen sowie die Menschheit als Ganzes effektiv leiten sollten.

Weltbild und Situationsbild

In der folgenden Abbildung sind die eben erläuterten Bestandteile eines Weltbildes noch einmal zusammengefasst.


Abb.3: Die Weltsicht prägt das Handeln

Die Abbildung illustriert, auf welche Weise unser Weltbild unser Handeln prägt. Wie an anderer Stelle17 bereits angemerkt, ist ein klares Verständnis der jeweiligen Situation die Voraussetzung für richtiges Handeln. Ein Situationsbild muss eine klare Vorstellung vom anzustrebenden Soll-Zustand wie auch von einer geeigneten Vorgehensweise liefern. Die Grundlage für die Einschätzung einer speziellen Situation ist, bewusst oder unbewusst, unser Weltbild. Es prägt einerseits die moralische Bewertung einer Situation und zeigt andererseits durch das Verständnis der damit verbundenen Kausalzusammenhänge verschiedene Handlungsmöglichkeiten auf. Im Idealfall gelingt es, so zu handeln, dass sämtliche mit den relevanten Normen verknüpften Ziele erreicht und dabei universale Gesetzmäßigkeiten bestmöglich genutzt werden.

Gleichzeitig macht diese Darstellung auch die Relativität rechten Handelns deutlich. Da unser Weltbild die Basis unseres Handelns darstellt, ist es gleichzeitig auch der Maßstab für die Bewertung unserer Taten. Unser Handeln ist daher nur in dem Maße gut und richtig, wie es im Einklang mit unserem Weltbild erfolgt. Ob unser Handeln auch in einem absoluten und objektiven Sinne richtig ist, hängt jedoch davon ab, inwieweit unser Weltbild die Realität angemessen widerspiegelt. Klar ist: Je realitätsgetreuer unsere Weltsicht ist, desto höher ist die Chance, dass unser Situationsbild angemessen ist und gute Entscheidungen gefällt werden können.

— Die Bildung einer Weltsicht

Von kindlicher Neugier zu reifer Reflexion

Unsere Weltanschauung fällt nicht vom Himmel, sondern entwickelt sich schrittweise. Angetrieben von unbändiger Neugier beginnt der Aufbau unseres Weltbildes bereits im Babyalter. Schon bei kleinsten Kindern kann man einen angeborenen Forscherdrang beobachten, wenn sie die Dinge ihrer Umgebung im wahrsten Sinne des Wortes zu begreifen suchen. Nur wenige Jahre später bombardieren sie mit großer Ausdauer ihr Umfeld mit unzähligen Warum-Fragen, um sich Schritt für Schritt einen Reim auf das zu machen, was ihnen begegnet. Sie möchten die Welt und ihre Phänomene verstehen. Im Zentrum des Interesses steht bei den kleinen Forschern zunächst das, was sie selbst unmittelbar mit ihren Sinnen wahrnehmen und erleben. In dem Maße, wie sich im Laufe der Zeit kognitive Fähigkeiten herausbilden, regen sich abstraktere und komplexere Fragestellungen.

Die Art der Erziehung hat großen Einfluss darauf, ob das angeborene Interesse an der Welt gefördert oder gehemmt wird. Es scheint aber, dass das natürliche Bedürfnis, die Welt zu verstehen und zu gestalten, selbst unter ungünstigen Bedingungen zumindest bis zu einem gewissen Grad erhalten bleibt. Demnach scheinen der Drang nach Erkenntnis und der zielgerichtete Einsatz der Verstandeskraft typisch menschliche Eigenschaften zu sein. »Dass ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält«, war die Sehnsucht von Faust, wie sie am Anfang des bekannten Werks von Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) beschrieben steht.18

In dem Maße, wie wir vielfältige Erfahrungen und unterschiedliches Wissen ansammeln, wird unser Bild von der Welt genauer und komplexer. Dabei neigen wir dazu, alle neuen Eindrücke und Erkenntnisse stimmig in unser Weltbild zu integrieren. Mit unbeantworteten Fragen können wir nur schwer leben und Elemente, die nicht so recht in unser bisheriges Weltbild zu passen scheinen, gefallen uns ganz und gar nicht. Allerdings machen wir uns nicht immer die Mühe, auftretende Widersprüche aufzulösen. Manchmal biegen wir unser Weltbild auch etwas zurecht, indem wir bestimmte Wahrheiten modifizieren oder ignorieren. Im allgemeinen besteht unser Weltbild insgesamt aus einer Vielzahl persönlicher Überzeugungen in Form einer bunten Mischung aus fundierten und oberflächlichen, bewussten und unbewussten, objektiv überprüfbaren und subjektiven, selbst erfahrenen und übernommenen, in sich konsistenten, aber auch widersprüchlichen Ansichten. So unterschiedlich wir Menschen sind, so unterschiedlich sind auch unsere Weltanschauungen.

Die Güte eines Weltbildes hängt stark davon ab, welche äußeren Wissens- oder Wahrheitsquellen herangezogen werden, um die persönlichen, in aller Regel nicht repräsentativen Erfahrungen zu interpretieren und einzuordnen. Welche Wissenskanäle können hier als verlässlich angesehen werden?

Historisch betrachtet, waren es seit jeher zwei große, wenn auch sehr unterschiedliche Domänen, welche die Menschen bei ihrer Suche nach Wahrheit und Wissen leiteten: Wissenschaft und Religion.

— Das gespaltene Weltbild

Die Folgen des wissenschaftlichen Erfolgs

Religion ist ein sehr altes Phänomen. Alle historischen Aufzeichnungen menschlicher Gemeinschaften und Kulturen bieten Hinweise auf religiöse Formen und Praktiken. Religion scheint es schon so lange zu geben, wie es Menschen gibt. Sie machte dem Menschen nicht nur moralische Vorgaben, sondern gab ihm auch ein ganzheitliches, wenn auch aus heutiger Sicht in Teilen zuweilen sehr einfaches und mythisch anmutendes Weltverständnis. In frühen Phasen der Menschheitsentwicklung bestimmten vermutlich vor allem überlieferte Traditionen und das Wissen der Geistlichen das Weltbild der Menschen.

Die Emanzipation des Denkens

Parallel dazu machte der Mensch schon immer persönliche Erfahrungen und stellte eigene Überlegungen über Gott und die Welt an. In dem Maße, wie der Mensch im Laufe der Geschichte seine Suche nach den Geheimnissen des Universums systematisierte und methodisch verfeinerte, entstand schließlich das, was wir heute Wissenschaft nennen. In vielen sehr alten Kulturen finden sich bereits zahlreiche Hinweise auf wissenschaftliches und technologisches Wissen. Bereits sehr systematisch haben beispielsweise die alten Griechen Wissenschaft betrieben, und die Platonische Akademie war ein erster Vorläufer der heutigen Universitäten. Noch heute zehren wir von den Erkenntnissen herausragender Denker aus jener Epoche wie Thales von Milet, Empedokles, Pythagoras, Hippokrates, Heraklit, Sokrates, Platon oder Aristoteles.

Das Aufblühen der Wissenschaft im Islam

Einen enormen Schub erfuhr die Wissenschaft ab dem 7. Jahrhundert durch die Araber. Mit dem Aufblühen der islamischen Hochkultur gingen große Fortschritte in den verschiedenen Wissensgebieten wie Medizin, Mathematik, Astronomie, Chemie, Botanik, Geografie, Philosophie und Literatur einher. Avicena, Alkindus, Hafis oder Rumi sind Beispiele herausragender Persönlichkeiten, die hierzu maßgeblich beigetragen haben. Der Einfluss der arabischen Wissenschaft ist auch heute noch allgegenwärtig. So steckt die arabische Vorsilbe »al« in vielen grundlegenden wissenschaftlichen Fachbegriffen wie Algebra, Alchemie, Alkali oder Alkohol. Auch Sternnamen wie Aldebaran, Algol und Atair, aber auch die astronomischen Bezeichnungen Zenit und Nadir sind arabischen Ursprungs.

Bemerkenswert ist, dass bei den Arabern die hohe Bedeutung des Erwerbs von Wissen und seine Verbreitung religiös motiviert waren und ihren Ursprung in den Lehren Muhammads hatten. So hat der Mensch nach den Lehren des Islam die Aufgabe, die Welt zu erforschen und die Zeichen der Schöpfung zu erkennen. Allein das Wort Wissen und seine verschiedenen Abwandlungen finden sich an mehreren hundert Stellen im Qur’án. Jede Form von Wissen wird gelobt und die hohe Stufe der Wissenden und Gelehrten herausgestellt. So lesen wir im Qur’án: »Sprich: ›Sind solche, die wissen, denen gleich, die nicht wissen?‹ Allein nur die mit Verstand Begabten lassen sich warnen.«19 Oder an anderer Stelle: »Allah wird die unter euch, die gläubig sind, und die, denen Wissen gegeben ward, in Rängen erhöhen.«20 Auch in zahlreichen islamischen Überlieferungen wird die Bedeutung des Wissens herausgestellt und der Mensch dazu angehalten, Kenntnisse zu erwerben. »Die Tinte des Schülers ist heiliger als das Blut des Märtyrers« oder »Wer nach Wissen strebt, betet Gott an«21, sind typische Aufrufe an die Gläubigen.

Im ursprünglichen Islam stand die Wissenschaft nicht im Widerspruch zum religiösen Glauben. Im Gegenteil: Muhammad rief die Gläubigen dazu auf, Wissen und Erkenntnisse aus allen Teilen der Erde zusammenzutragen und für den Aufbau einer großen Kultur zu nutzen.

Die Entstehung der modernen Wissenschaft

Die Verbreitung der islamischen Weltkultur und insbesondere der mit ihr verbundene Aufbau zahlreicher Universitäten hatten einen erheblichen Einfluss auf die europäischen Denker. Nach der langen und finsteren Phase des Mittelalters entwickelte sich beginnend mit der Aufklärung das, was wir heute moderne Wissenschaft nennen. Maßgeblich für diesen Evolutionssprung menschlicher Forschungskompetenz war, wie wir noch sehen werden, dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse allmählich über die Stufe reinen Informationswissens hinausgingen, indem sie zusehends überprüfbare Erklärungen für die sichtbare Erscheinungswelt lieferten. So wichtig ein Ordnen und Kategorisieren von Informationen zunächst auch sein mochte, so konnte ein nachhaltiger wissenschaftlicher Fortschritt erst durch echtes Verstehen der verschiedenen Phänomene erreicht werden.

Mit den Methoden der modernen Wissenschaft wurde dies möglich. Die Wissenschaftler lieferten fortan zu einer Fülle beobachtbarer Phänomene überzeugende Erklärungen und legten dadurch die hinter den sichtbaren Erscheinungen liegenden Kausalzusammenhänge offen. Die Entdeckung fundamentaler Gesetzmäßigkeiten verlieh dem Menschen ein tiefes Verständnis und verschaffte ihm Macht über die Natur.

Die Koexistenz von Wissenschaft und Glauben

Auch im christlich geprägten Kulturkreis wurde ursprünglich zwischen der kritisch-rationalen Grundhaltung der Wissenschaft und der eher mystischen Weltsicht der Religion in der Regel kein Widerspruch gesehen. Der amerikanische Philosoph Stephen Toulmin (1922-2009) bemerkte hierzu: »Vor der Reformation war das Christentum nur wenig an Lehren beteiligt, für die die Naturwissenschaften einen Grund hatten, sie zu bestreiten. … Die angebliche Unvereinbarkeit von Wissenschaft und Theologie war somit ein Konflikt innerhalb der Moderne, der aufkam, als zunehmende Erfahrung den Wissenschaftlern Gelegenheit gab, die Glaubenssätze der Gegenreformation infrage zu stellen, die von Katholiken und Protestanten nach 1650 gleichermaßen in ihren erbaulichen Predigten über die Weisheit der Schöpfung Gottes verwendet wurden.«22

Noch zu Beginn der Aufklärung wurden Wissenschaft und Religion gleichermaßen anerkannt. Es gab sogar Versuche, diese beiden sehr unterschiedlichen Zugänge zur Wirklichkeit in Einklang zu bringen. So schreibt Hans-Peter Dürr: »In der abendländischen Geschichte stehen diese beiden unterschiedlichen Grundhaltungen in einem ständigen fruchtbaren Wechselspiel. Sie spiegeln sich wider in der Zweiheit von Wissen und Glauben, von Naturwissenschaft und Religion. Immer gab es Bestrebungen, so insbesondere im 16. Jahrhundert durch die Alchemie, diese Doppelgleisigkeit zu überwinden und die Wissenschaft in ein umfassenderes, mystische Elemente enthaltendes Ganzes einzuschmelzen.«23 Wenn es auch nicht gelang, Wissenschaft und Glauben zu vereinen, so gab es zumindest in aller Regel keine offenkundigen Konflikte. Auch der als Begründer der modernen Naturwissenschaften geltende Galileo Galilei (1564-1642) war noch überzeugt, dass »die Heilige Schrift und die Natur in gleicher Weise aus dem göttlichen Wort hervorgegangen sind, jene als Einflößung des Heiligen Geistes, diese als gehorsame Vollstreckerin der göttlichen Befehle.«24 Nach dieser Vorstellung hat der gleiche Gott sowohl das Buch der Natur als auch das Heilige Buch geschrieben.

Die Kluft zwischen wissenschaftlicher und religiöser Weltsicht

Spätestens zur Zeit des englischen Philosophen und Naturforschers Sir Isaac Newton (1643-1727) begann sich jedoch das wissenschaftliche Weltbild immer stärker vom religiösen Weltbild abzuspalten. Es entstand eine Kluft zwischen der wissenschaftlichen und der religiösen Sicht auf die Welt, die im Laufe der Zeit immer größer wurde.

Der Hauptgrund für das Auseinanderdriften von Wissenschaft und Religion lag im großen Erfolg der Wissenschaft. Sie machte innerhalb kürzester Zeit zahlreiche bahnbrechende und umwälzende Entdeckungen und gewann dadurch sukzessiv Anerkennung und Vertrauen. Dieser ungeheure Aufschwung beeinflusste das Denken der Menschen enorm und gab ihm eine neue Ausrichtung. Immer mehr Menschen fingen an sich zu fragen, warum die Religion als Erklärungssystem überhaupt noch länger nötig sei, wenn doch der Mensch selbst in der Lage ist, großartige Entdeckungen zu machen und überzeugende, tiefgründige Erklärungen zu den verschiedensten Naturphänomenen zu finden. Viele einflussreiche Denker kamen daher zu dem Schluss: »Wozu etwas glauben, wenn man wissen kann?«

Entsprechende Kontroversen und Konflikte mit den kirchlichen Institutionen ließen nicht lange auf sich warten. Bald ging es nicht mehr nur um unterschiedliche Meinungen zu speziellen weltanschaulichen Fragen, sondern um den Wert von Wissenschaft und Glauben per se. In dem Maße, wie die Daseinsberechtigung der Religion offen angezweifelt wurde, verhärteten sich die Fronten und beide Lager verfielen in zusehends extremere Sichtweisen.

Religiöser Aberglaube und blinde Wissenschaftsgläubigkeit

Diese Entwicklung spitzte sich kontinuierlich zu und führte zu grotesken Extremen, die im 20. Jahrhundert ihren Höhepunkt erfuhren. Der Unternehmer und Religionswissenschaftler Huschmand Sabet (1931-2016) fasst diesen Umstand mit den folgenden Worten zusammen: »Das 20. Jhd. hat sowohl die exzessiven kollektivistischen wie die rückhaltlosesten individualistisch-freiheitlichen Ideologien gesehen. In ihm trieben gleichzeitig blinde Wissenschaftsgläubigkeit und fundamentalistische Abergläubigkeit die seltsamsten Blüten.«25

Sowohl religiöser Aberglaube als auch blinde Wissenschaftsgläubigkeit stellen fundamentalistische Geisteshaltungen dar. Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass sich die jeweiligen Protagonisten im Besitz absoluter Wahrheit wähnen, während Andersdenkenden der Anspruch auf Wahrheit abgesprochen wird. Derartig unversöhnliche Positionen müssen zwangsläufig in Streit und Konflikt ausarten.

Fundamentalismus, in welcher Form auch immer, geht nicht nur mit einem Gefühl der Überlegenheit einher, sondern prägt auch das persönliche Weltbild in extremer Weise. So führt ein religiös motivierter Fundamentalismus nicht selten zu abergläubischen Vorstellungen und einer naiven, stark vereinfachten Weltsicht, die als »religiöser Dogmatismus« beschrieben werden kann. Eine starre Wissenschaftsgläubigkeit ist hingegen häufig mit einer reduktionistischen Weltsicht verbunden. Dieser »wissenschaftliche Reduktionismus« bezeichnet dabei die Vorstellung, dass nur dem, was messbar und damit der Wissenschaft zugänglich ist, eine objektive Existenz zukommt.26

— Weil es geschrieben steht

Religiöser Dogmatismus

Betrachten wir das Phänomen des religiösen Dogmatismus am Beispiel des Christentums. Wie in allen traditionellen Religionen veränderten sich auch im Christentum im Laufe der Jahrhunderte die ursprünglichen Lehren merklich und sammelten zahlreiche Dogmen an. Der grandiose Aufstieg der Wissenschaft während der Renaissance trug nun entscheidend dazu bei, dass bisher akzeptierte Interpretationen einzelner Lehren offen beleuchtet und kritisch hinterfragt wurden.

Versäumte Chancen

Die kirchlichen Institutionen und Machthaber hätten die neuen Erkenntnisse der Wissenschaft durchaus begrüßen und nützen können. Sie hätten sich zum Beispiel von überholten Lehrmeinungen verabschieden und dadurch die Kraft der Religion wieder stärken können. Der dafür notwendigen Offenheit haben sich die religiösen Institutionen jedoch weitgehend verweigert. Sie versäumten es, auf den Zug der modernen Wissenschaft aufzuspringen und aktiv an deren Erfolgen zu partizipieren. Das allgemeine Religionsverständnis verharrte damit auf dem Stand der Wissenschaft und Philosophie zur Zeit der Antike.

Die wissenschaftlichen Entdeckungen blieben jedoch nicht stehen und enthüllten der Öffentlichkeit zunehmend Tatsachen, die sich ganz offensichtlich nicht mit den starren Glaubensvorstellungen der Kirche vereinbaren ließen. Aber selbst die Aufdeckung prekärer Widersprüche ließ das Gros der Kirchenvertreter die jeweiligen Dogmen nicht überdenken. Sie beharrten weiter stur auf ihren festgefahrenen Standpunkten, anstatt ernsthafte Versuche zu unternehmen, die eklatanten Widersprüche durch einen sachorientierten Diskurs aufzulösen. Die Kirchenvertreter schalteten vielmehr auf Angriff und versuchten die Wissenschaftler zu diskreditieren. Beispielhaft hierfür ist der bekannte Umgang mit den Entdeckungen Galileo Galileis. Um die Wahrheit weiterhin ignorieren zu können, verweigerten die Kirchenoberhäupter den klärenden Blicks durch das Teleskop. Stattdessen brandmarkten sie Galilei als Ketzer.

Der unglückselige Mix von Ignoranz und Anmaßung

Ein engstirniger, eingeschränkter Blick und eine ignorante, anmaßende Geisteshaltung sind typisch für jede Form von Fundamentalismus. So können aus Sicht des religiösen Dogmatikers Maß und Mittelpunkt jeglicher Wahrheitsfindung ausschließlich die Heiligen Schriften und Traditionen seiner Religion sein. Nur das, was dort geschrieben steht, wird als sicherer und unmittelbarer Weg zu Wissen und Erkenntnis betrachtet. Demgegenüber gelten alle anderen Zugänge zur Wirklichkeit als nachrangig, wenn nicht gar überflüssig und bedürfen zur Legitimation der Bestätigung durch die Heilige Schrift.

Religiöse Fundamentalisten begründen ihren Wahrheitsanspruch mit dem Verweis auf die göttliche Autorität ihres Buches. So ist es aus ihrer Sicht nur logisch, wissenschaftliche Belege, die im Widerspruch zu ihrem Buch stehen, als unwahr zu verwerfen. Damit bleibt das jeweilige Dogma unangetastet. Kurz: Der religiöse Fundamentalist überhöht seine Religion, empfindet abweichende Meinungen als ketzerische Bedrohung und versperrt sich jeglicher sachlichen Argumentation.

Die Abwendung aufgeklärter Menschen vom Glauben

Je stärker und übermächtiger die rationalen Argumente der Philosophen und Wissenschaftler gegen eine wörtliche Auslegung der religiösen Schrift wurden, desto heftiger wurden sie bekämpft. Die Kirche nutzte ihre ganze Macht, um den Geist der Aufklärung als Ketzerei zu brandmarken und die neuen Erkenntnisse zu unterdrücken. Die Situation in Europa spitzte sich dramatisch zu. Als Höhepunkte dieser traurigen Auseinandersetzung gelten die Hinrichtung des Philosophen und Astronomen Giordano Brunos (1548-1600) und die erzwungene Abschwörung Galileo Galileis im Jahre 1633.

Der Siegeszug der Wissenschaft konnte dennoch nicht mehr aufgehalten werden. Die offensichtlichen Grenzüberschreitungen der Religionsführer führten dazu, dass viele aufgeklärte Bürger die Religion hinsichtlich Erkenntnisgewinn und Welterklärung nicht mehr ernst nahmen. Die Triumphe der Wissenschaft läuteten damit den Niedergang der traditionellen Religion und die Zeit der Säkularisierung ein.

Nichtsdestotrotz herrscht auch heute noch in vielen Teilen der Erde ein religiös-fundamentalistisches Weltbild vor, das von den Machthabern nicht selten geschickt zum eigenen Vorteil ausgenutzt wird. In zahlreichen, vielfach islamisch geprägten Ländern ist sogar ein reger Zuwachs zu dieser Art von Glauben zu verzeichnen.

— Die Leugnung des Geistes

Wissenschaftlicher Reduktionismus

Betrachten wir nun als Gegenstück zum religiösen Dogmatismus den wissenschaftlich motivierten Fundamentalismus, der in Europa während der Zeit der Aufklärung entstand und sich in einem reduktionistischen Weltverständnis zeigte.

Die Verkündung von Gottes Tod

Nach jahrhundertelang währendem Meinungsbildungsmonopol durch die Kirche reagierten viele Anhänger der Wissenschaft mit Genugtuung auf deren Hilflosigkeit gegenüber den neuen Naturerkenntnissen. Im Zuge der großen wissenschaftlichen und technologischen Erfolge verfielen allerdings auch zahlreiche aufgeklärte Menschen in ähnlich fundamentalistische Extremhaltungen. Sie wehrten sich nicht nur gegen offenkundig falsche Auslegungen der religiösen Schriften, sondern lehnten zusehends Religion und Transzendenz per se ab. Getragen von einem Gefühl intellektueller Überlegenheit verfielen sie einem ausufernden Reduktionismus, demzufolge alle relevanten Fragen ausschließlich durch die Wissenschaft beantwortet werden könnten. Der wissenschaftliche Erfolg schien eindeutig zu belegen, dass es völlig unnötig geworden war, bei der Erklärung der Wirklichkeit auf das Walten eines allmächtigen Schöpfers oder die Existenz eines allumfassenden, unbegreiflichen Geistes zurückzugreifen.

In der Folge traten immer mehr Wissenschaftler und Denker aufs Podest, um die Grundfesten der Religion offen anzugreifen und lauthals den Tod Gottes sowie das Ende der Religion zu verkünden. Der deutsche Philosoph und Anthropologe Ludwig Feuerbach (1804-1872) erklärte beispielsweise, dass Religion nicht auf das Walten einer Gottheit zurückzuführen, sondern lediglich menschliches Machwerk sei. Der Mensch ist »der Anfang der Religion, der Mensch ist der Mittelpunkt der Religion, der Mensch ist das Ende der Religion«,27 so Feuerbach. Ein anderer prominenter Zeitgenosse, der deutsche Philosoph und Ökonom Karl Marx (1818-1883), ging in seiner Kritik noch einen Schritt weiter und konstatierte: »Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elends und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.«28 Die Anfeindungen gegen die Religion gipfelten in Aussagen wie der von Auguste Comte (1798-1857), welcher im 19. Jahrhundert prophezeite: »Gott wird verschwinden, ohne auch nur die Spur einer Frage hinterlassen zu haben.«29

Das Märchen vom materialistischen Reduktionismus

Nachdem die Hypothese Gott zur Erklärung der Welt scheinbar überflüssig geworden war, wurde der Weg für das Credo des Materialismus frei. In der Folge wurde die Welt als durch und durch materiell betrachtet und postuliert, dass jedes Phänomen letztendlich auf materielle Ursachen zurückzuführen sei. Gemäß dem materialistischen Reduktionismus galt der Wissenschaft fortan nur noch Greifbares als wirklich und wahr. Transzendenz und die Existenz geistiger Seinsbereiche wurden als Hirngespinst abgetan. Dem materialistischen Credo zufolge existierten nur die Materie und ihre Wirkungen. Alles andere galt als pure Illusion.

Heute wissen wir, dass die Welt ihrer Natur nach nicht materialistisch ist.30 Die moderne Wissenschaft hat bereits vor über 100 Jahren zu dieser Einsicht geführt. Eine rein materialistische Weltsicht gehört damit ins Reich der Fabeln. Dennoch gibt es auch heute noch Wissenschaftler und Philosophen, die nicht nur einen religiösen Fundamentalismus, sondern Religion per se ablehnen und Gläubige wegen ihrer vermeintlichen Naivität und wissenschaftlichen Rückständigkeit belächeln. So geht beispielsweise der britische Biologe und überzeugte Atheist Richard Dawkins (*1941) in seinem Werk Der Gotteswahn davon aus, dass alle, die sein Buch »als religiöse Menschen zur Hand genommen haben, es als Atheisten wieder zuschlagen« müssten. Andernfalls würde es sich um »eingefleischte Gläubige« handeln, die »keinem Argument zugänglich«31 seien. Gemäß Dawkins wurde jeder, der nicht zu einer atheistischen Weltsicht gelangt, entweder in seiner Kindheit indoktriniert, verfügt über eine geistesschwache Natur oder stellt einen psychiatrischen Fall dar.

Die Entladung angestauten Hasses

Im Rückblick ist nachvollziehbar, dass das Tempo, mit dem im 18. und 19. Jahrhundert wissenschaftliche Erkenntnisse hervorsprudelten, Wissenschaftler hoffen ließ, dass sich künftig alle wesentlichen Fragen allein durch wissenschaftliches Forschen und ganz ohne Gott als Lückenbüßer zufriedenstellend beantworten ließen. Der rasante Fortschritt der Wissenschaft erklärt jedoch nicht das gewaltige Ausmaß der Vehemenz, mit der von nun an die Religion als solche angegriffen und gänzlich abgelehnt wurde. Schon bald beschränkte sich die Missbilligung nicht mehr nur auf wissenschaftlich nicht länger haltbare Erklärungsmodelle wie beispielsweise die Schöpfungsgeschichte oder die Stellung der Erde im Universum. Mit einem Mal wurden nahezu alle Glaubensinhalte, Werte und Normen pauschal als obsolet angesehen. Der Grund für die radikale Abwendung von der Religion kann nur in dem über Jahrhunderte hinweg aufgestauten Hass auf die repressiven Auswüchse und den Machtmissbrauch der institutionalisierten Religion liegen. Mit Blick auf die blutige Geschichte der Religionen stellt der britische Physiker Paul Davies (*1946) fest: »Niemand kann die zahlreichen Einzelfälle selbstloser Aufopferung durch religiös geprägte, dem Wohl der Allgemeinheit verschriebene Menschen auf der ganzen Welt leugnen, doch wurden die Religionen schon vor langer Zeit zu Institutionen, die sich häufig mehr mit Fragen der Macht und Politik beschäftigten als mit Gut und Böse. Religiöser Eifer hat nur allzu oft heftig ausgetragene Konflikte zur Folge gehabt, die Toleranz des Menschen in ihr Gegenteil verkehrt und barbarische Grausamkeiten entfesselt…. Es ist paradox, daß zwar die meisten Religionen die Tugenden der Liebe, des Friedens und der Demut preisen, die Geschichte der großen Weltreligionen aber häufig von Haß, Krieg und Überheblichkeit geprägt ist.«32

— Eine Frage der Aufgabenteilung

Glauben oder beweisen?

Schon allein die Existenz der beiden fundamentalistischen und sich gegenseitig ausschließenden Grundhaltungen zeigt, dass es nötig ist, das Verhältnis von Wissenschaft und Glauben differenzierter zu untersuchen.

Entweder/Oder oder Sowohl/Als-auch?

Um sich dem Thema systematisch zu nähern, ist es hilfreich, sich anhand der folgenden Abbildung die vier wesentlichen Möglichkeiten des Verhältnisses von Wissenschaft und Glauben zu vergegenwärtigen.


Abb.4: Mögliche Beziehungen von Wissenschaft und Glauben

Die beiden oberen Modelle der Abbildung repräsentieren die Entweder/Oder-Varianten, die bereits als die beiden fundamentalistischen Sichtweisen vorgestellt worden sind: Der wissenschaftliche Reduktionismus betrachtet die Wissenschaft als übergeordnete Quelle objektiver Erkenntnisbildung und sieht Religion bestenfalls als unbedeutende Vorwissenschaft an, die im Laufe der Zeit vollständig durch die Wissenschaft ersetzt werden wird. Demgegenüber macht der religiöse Dogmatismus die Heilige Schrift und die Tradition seines Glaubens zum Maß aller Dinge und erkennt wissenschaftliche Erkenntnisse bestenfalls dort an, wo sie sich im Einklang mit den religiösen Dogmen befinden.

Demgegenüber geht die dualistische Sicht davon aus, dass sowohl Wissenschaft als auch Religion ihre Daseinsberechtigung haben. Allerdings sieht sie keinerlei Verbindungspunkte zwischen den beiden Disziplinen, da sie sich auf völlig unterschiedliche Bereiche der Realität beziehen würden. Eine dualistische Perspektive gesteht der Wissenschaft objektive Kompetenz zu, während sie das legitime Aufgabenfeld der Religion im Bereich des Subjektiven sieht. Diesem misst sie jedoch durchaus eine wichtige Bedeutung bei.

In der vierten Betrachtungsweise bilden Wissenschaft und Religion eine Einheit. Dieses Konzept lehrt, dass beide Domänen einen primären Wirkungsbereich haben, darüber hinaus aber auch Überschneidungsbereiche existieren, in denen sie widerspruchsfrei im Einklang stehen. Im Einheits-Modell ergänzen sich Wissenschaft und Glaube gegenseitig auf harmonische Art und Weise.

Lassen sich Wissenschaft und Glaube vereinbaren?

So weit verbreitet die Meinung ist, dass sich Wissenschaft und Glaube gegenseitig ausschließen, so gibt es zusehends ernst zu nehmende Stimmen, die dies anders beurteilen. Schon der britische Philosoph und Mathematiker Alfred North Whitehead (1861-1947) wies auf die Kraft beider Domänen hin, weshalb dringend zu klären sei, in welcher Art und Weise beide zusammenwirken müssen: »Wenn wir bedenken, was Wissenschaft und Religion für die Menschheit sind, dann läßt sich ohne Übertreibung sagen, daß der zukünftige Geschichtsverlauf von der Entscheidung dieser Generation über die Relationen zwischen beiden abhängt. Sie sind (neben dem bloßen Impuls der verschiedenen Sinne) die beiden stärksten allgemeinen Kräfte, welche den Menschen beeinflussen, und sie scheinen gegeneinander gerichtet zu sein – nämlich die Kraft unserer religiösen Anschauungen und die Kraft unseres Impulses der genauen Beobachtung und logischen Deduktion.«33

Auch der amerikanische Buchautor Gary Zukav (*1942) macht in seinem Bestseller Die tanzenden Wu-Li Meister klar, dass sich in Bezug auf Wissenschaft und Glauben eine simple Entweder/Oder-Einstellung nicht befriedigend ist: »Das grundlegende Charakteristikum der westlichen Religionen besteht darin, dass man an etwas glaubt, für das es keine Beweise gibt. Das grundlegende Charakteristikum der westlichen Wissenschaft ist, alles abzulehnen, was nicht bewiesen werden kann. Mit anderen Worten: Religion wurde zu einer Angelegenheit des Herzens und Wissenschaft zu einer Angelegenheit des Verstandes. Dieser bedauerliche Zustand läßt die Tatsache außer Acht, dass, in physiologischer Hinsicht, das eine ohne das andere nicht existieren kann. Jeder braucht beides. Herz und Verstand sind nur zwei verschiedene Aspekte von uns. Wer hat nun Recht? Sollten Schüler ohne Beweis glauben? Soll die Wissenschaft auf Beweise bestehen?«34

Vorurteile zur Natur wissenschaftlicher und religiöser Erkenntnis

Dem aufmerksamen Leser wird aufgefallen sein, dass die Begriffe Wissenschaft und religiöser Glaube bisher in sehr pauschaler Weise benutzt wurden. Um zu klären, welche Rolle Wissenschaft und Glaube in der heutigen Zeit zukommen, müssen diese Begriffe präzisiert und die wesentlichen Merkmale beider Domänen herausgestellt werden. Auf diesem Weg gilt es auch, mit einigen Vorurteilen und Missverständnissen zur Natur von Wissenschaft und Glauben aufzuräumen.

Es wird sich zeigen, dass vieles, was heute als Religion bezeichnet wird, weniger mit Religion, als mit der Dekadenz einst fruchtbarer Lehren zu tun hat. Wie fast alles, kann auch der Glaube missbraucht werden. Diese Tatsache sagt jedoch nicht zwangsläufig etwas über sein eigentliches Wesen und Potenzial aus. Auf der anderen Seite werden häufig bestimmte Überzeugungen voreilig als wissenschaftlich bewiesen dargestellt, ohne dass der jeweiligen Person klar wäre, was unter einem wissenschaftlichen Beweis überhaupt zu verstehen ist. Darüber hinaus werden wir häufig mit angeblich wissenschaftlichen Studien konfrontiert, deren Schlussfolgerungen sich offenkundig widersprechen. Das ist keineswegs immer darauf zurückzuführen, dass die Forschung in solchen Fällen noch keinen allgemein akzeptierten Stand erreicht hat. Vielmehr wird – aus unterschiedlichen Motivationen heraus - vielfach etwas als Wissenschaft verkauft, was diesem Anspruch bei genauerer Betrachtung nicht standhält.

Um zu klären, welche Daseinsberechtigung Wissenschaft und Glaube im Hinblick auf unser Weltbild tatsächlich haben und welche Beziehung zwischen beiden Domänen besteht, gilt es zunächst, das Wesen von Wissenschaft und Glauben herauszuarbeiten. Dies umfasst vor allem ein Verständnis, für welche Art von Erkenntnissen beide Disziplinen stehen und auf welchem Weg sie zu diesen gelangen. Dazu wiederum müssen wir uns zunächst mit der Frage nach der Natur menschlicher Erkenntnis befassen.

KURZFASSUNG

Unser Weltbild bestimmt nicht nur unsere Sicht auf die Welt, sondern prägt auch maßgeblich unser Handeln. Um eine effektive Orientierung bieten zu können, muss eine tragfähige Weltanschauung vor allem überzeugende Antworten auf die großen Fragen des Lebens geben können. Diese betreffen wesentliche Vorstellungen vom Sein, fundamentale Gesetzmäßigkeiten sowie grundlegende Werte und Normen.

Die beiden großen Orientierungssysteme und Erkenntnisquellen waren seit jeher Wissenschaft auf der einen und Glaube auf der anderen Seite. In unserer modernen, aufgeklärten Welt hat heute die Wissenschaft klar die Nase vorne. Insbesondere im Westen betrachten die Menschen wissenschaftliche Erkenntnis mehrheitlich als objektiv verlässlich und das Maß aller Dinge. Religiöse Lehren gelten hingegen zumeist als subjektive Privatsache, wenn nicht gar als überflüssiges historisches Relikt. Hierzu trugen nicht nur die ungeheuren Erfolge der Wissenschaft bei, sondern auch die Dekadenz religiöser Führer und Institutionen. Auf der anderen Seite herrscht auch heute noch in vielen Teilen der Erde ein stark religiös geprägtes Weltbild vor. In seiner fundamentalistischen Ausprägung bedeutet dies, dass wissenschaftliche Erkenntnisse geleugnet werden, wenn sie religiösen Dogmen oder Traditionen widersprechen. In zahlreichen, vielfach islamisch geprägten Ländern ist sogar ein reger Zuwachs zu dieser Art von Glauben zu verzeichnen.

Diejenigen, die nicht der Meinung sind, dass sich Wissenschaft und Glaube in einer modernen Welt zwangsläufig gegenseitig ausschließen, vertreten häufig einen dualistischen Standpunkt. Dieser besagt, dass beide Disziplinen ihre Daseinsberechtigung hätten, weil sie sich auf völlig unterschiedliche Bereiche der Realität beziehen würden. Während die Wissenschaft für objektive Erkenntnis stehe, verhelfe uns der Glaube zur Gewinnung subjektiver Einsichten.

Die vierte und letzte Sichtweise besteht darin, dass Wissenschaft und Religion eine Einheit bilden und harmonisch zusammenwirken. Dies bedeutet, dass beide einen primären Wirkungsbereich haben, darüber hinaus aber Überschneidungsbereiche existieren, in denen beide Seiten übereinstimmen.

Um zu klären, welche Daseinsberechtigung Wissenschaft und Glaube im Hinblick auf unser Weltbild tatsächlich haben und welche Beziehung zwischen beiden Domänen besteht, gilt es, das Wesen von Wissenschaft und Glauben herauszuarbeiten. Dies umfasst vor allem ein Verständnis, für welche Art von Erkenntnissen beide Disziplinen stehen und auf welchem Weg sie zu ihnen gelangen. Daher stellt sich zunächst die Frage nach der Natur menschlicher Erkenntnis.

Der folgende Teil II »Die Grenzen menschlicher Erkenntnis« befasst sich mit dem philosophischen Gebiet der Erkenntnistheorie. Diese untersucht systematisch die Voraussetzungen und das Zustandekommen menschlicher Erkenntnis, also die Frage: »Was kann ich wissen?«

Eckpfeiler einer reifen Weltsicht

Подняться наверх