Читать книгу Eckpfeiler einer reifen Weltsicht - Michael Merkel - Страница 13

Оглавление

3 Ethik

Die Kunst des rechten Handelns

Das Recht, meine Faust zu schwingen, endet dort, wo die Nase des Nächsten anfängt. OLIVER WENDELL HOLMES JR.

Moral zu predigen ist ebenso leicht als Moral zu begründen schwer ist. FRIEDRICH WILHELM NIETZSCHE

Stellen Sie sich vor, Sie stehen auf einer Brücke und beobachten folgende Szene: Vier Grundschüler sind nach der Schule auf dem Nachhauseweg und schlendern fröhlich dahin. Auf einmal verlassen sie den Bürgersteig und steuern auf die nahegelegenen Zuggleise zu – vermutlich eine Abkürzung zum gegenüberliegenden Wohngebiet. Nicht nur verboten, sondern auch nicht ungefährlich, denken Sie sich noch. Immerhin schauen sich die Kinder aufmerksam um, bevor sie die Gleise überqueren. Als sie die Gefahrenzone fast hinter sich gelassen haben, bleiben sie unvermittelt stehen. Es sieht so aus, als hätten sie etwas Interessantes entdeckt. Mit einem Schlag scheinen die Kinder jegliches Gefühl für die Gefahr verloren zu haben. Gebannt kauern sie inmitten der Gleise auf dem Boden und widmen sich ihrer Entdeckung. Sie sind so vertieft, dass sie nicht bemerken, wie sich mit hoher Geschwindigkeit ein Zug nähert.

Gehen wir nun davon aus, dass Sie die Kinder retten könnten, wenn es Ihnen gelänge, ein Hindernis auf die Gleise zu werfen und so den Zug anzuhalten. Stellen Sie sich vor, dass es hierzu in diesem Gedankenspiel genau eine Möglichkeit gäbe: Sie müssten einen übergewichtigen, etwa 70 jährigen Mann, der ein paar Meter neben Ihnen steht, von der Brücke auf die Gleise stoßen. Was würden Sie tun? Von was hinge Ihre Entscheidung ab? Würde es eine Rolle spielen, ob es um das Leben eines Kindes oder das von vier oder gar 10 Kindern ginge? Hätte das Alter des Mannes Einfluss auf Ihr Handeln?

Diese konstruierte Situation ist als »Trolley-Problem« bekannt, abgeleitet vom englischen Wort für Straßenbahn. Es gibt mehrere Variationen dieses Gedankenexperiments, welches erstmals von der britischen Philosophin Philippa Ruth Foot (1920-2010) beschrieben wurde. Die dahinter liegende Frage ist immer die gleiche: Dürfen für die Rettung von Menschen andere, unbeteiligte Menschen geopfert werden? Diese Situation beschreibt ein Dilemma in Form einer moralischen Zwickmühle. Wie man sich auch entscheidet: Die Lösung ist aus moralischer Sicht nicht wirklich befriedigend.

Wenngleich als Gedankenexperiment konzipiert, so ist das Trolley-Beispiel weniger theoretisch, als es auf den ersten Blickt scheint. So ist die Frage nach der Möglichkeit, Unschuldige zu opfern, eine ganz zentrale Frage im Umgang mit Terror. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 wurde hitzig diskutiert, ob es legitim sei, ein Flugzeug, bei dem sich Zivilisten an Bord befinden, abzuschießen, wenn dadurch ein Terrorakt mit noch mehr Opfern verhindert werden könnte. Die philosophisch interessante Frage ist, ob es in solchen Fällen eine eindeutig »richtige« Vorgehensweise gibt. Durch welche Kriterien wäre diese definiert? Hierauf eine Antwort zu geben, ist Aufgabe der Ethik.

— Eine Frage der Moral

Was soll ich tun?

Leben ohne zu handeln, ist unmöglich. Handeln wiederum entspricht immer einem Eingriff in die Realität. Das heißt, der Lauf der Dinge wird durch unser Handeln in die eine oder andere Richtung beeinflusst. In jeder Situation sind vielfältige Handlungen möglich, aber nicht alle sind gleichermaßen wünschenswert. Geht man davon aus, dass der Mensch in seinen Handlungen weitgehend frei ist, stellt sich unweigerlich die Frage nach dem »rechten« Handeln. Ein freier Mensch kann das Schlechte ablehnen und sich für das Richtige und Erstrebenswerte entscheiden. Dazu muss er allerdings wissen, woran er das Gute beziehungsweise Schlechte erkennen kann.

Die Suche nach moralischen Grundsätzen

Was in einem gegebenen Kontext gut und richtig ist, hängt im Allgemeinen von den jeweils vorliegenden Rahmenbedingungen ab. Daher ist es für das Verständnis und die richtige Einschätzung einer Situation wichtig zu wissen, was sie konkret kennzeichnet. Dazu gehören nicht nur die Kenntnis der aktuellen Gegebenheiten und Zusammenhänge, sondern auch das klare Bewusstsein von den im gegebenen Kontext jeweils erstrebenswerten Zielen sowie die für deren Erreichung geeigneten Mittel. Moralische Zwickmühlen verdeutlichen die Schwierigkeit des richtigen Handelns in extremer Weise. So sind beim Trolley-Problem ohne weitere Erläuterung weder das Ziel noch die hierzu zulässigen Mittel eindeutig klar.

Wenn es bereits in einer sehr konkreten Situation alles andere als einfach ist, die »richtige« Handlungsweise zu finden, so ist davon auszugehen, dass dies für allgemeinere Kontexte, zum Beispiel bezüglich der »richtigen« Lebensgestaltung, umso mehr gilt. Hierfür die notwendige Orientierung und Hilfestellung zu geben, ist die Aufgabe der Ethik. Der Begriff Ethik geht auf den griechischen Philosophen Aristoteles (384-322 v. Chr.) zurück und ist derjenige Teil der Philosophie, welcher sich mit Gewohnheiten, Sitten und Gebräuchen, also der Voraussetzung und Bewertung menschlichen Handelns befasst. Sie wird daher auch häufig als »Praktische Philosophie« oder »Moralphilosophie« bezeichnet.

Hinter dem Bemühen, ethische Fragen systematisch zu erforschen, steht die Idee, dass es für ein vernunftbegabtes Wesen unwürdig ist, das Handeln vorrangig auf Tradition oder persönlichen Meinungen und Ansichten aufzubauen. Aristoteles ging vielmehr davon aus, dass menschliches Handeln grundsätzlich einer vernünftigen und theoretisch fundierten Reflexion zugänglich ist. Eine zentrale Fragestellung der Ethik ist daher, ob es allgemeingültige Maßstäbe und Kriterien gibt, die menschliches Handeln bewertbar machen. Sie sucht nach einer philosophischen Begründung, warum eine bestimmte Handlung moralisch gerechtfertigt oder aber abzulehnen ist.

Die Notwendigkeit moralischer Prinzipien

Für Aristoteles ergab sich die Notwendigkeit moralischen Handelns aus der Würde des Menschen. Es gibt aber auch ganz praktische Gründe, die dafür sprechen, menschliches Handeln an grundlegenden und verbindlichen Maßstäben auszurichten. So sind moralische Grundsätze vor allem für das soziale Zusammenleben der Menschen von hoher Bedeutung. Dabei spielt es zunächst keine Rolle, ob die in diesen Grundsätzen verpackten Werte real existieren oder von der jeweiligen Gemeinschaft lediglich »erfunden« und festgelegt wurden. Allein das Wissen, dass wesentliche Dinge transparent nach vereinbarten Regeln und vorhersehbar ablaufen, verleiht Sicherheit und Verlässlichkeit.

Ein Beispiel: Heutzutage wird erfreulicherweise in den meisten Ländern das Menschenleben als hoher Wert erachtet und entsprechend das Töten absolut verboten. Übertretungen werden hart geahndet. Infolgedessen sind Mord und Totschlag in zivilisierten Ländern die absolute Ausnahme. Ohne eine derartige moralische Vereinbarung wäre das Leben wesentlich weniger entspannt. Man müsste ständig auf der Hut sein und sich genau überlegen, wem man den Rücken zudrehen kann. Der akzeptierte moralische Grundsatz »Du darfst nicht töten!« gibt uns Sicherheit und trägt maßgeblich zu unserer Lebensqualität bei. Ganz anders ist die Situation in Zeiten eines Bürgerkriegs. Hier konkurriert der Wert menschlichen Lebens plötzlich mit anderen Werten, beispielsweise mit bestimmten Zielen politischer Machtergreifung.

Unser Leben erweckt häufig den Anschein, dass sich nur bei einem kleinen Teil unserer Handlungen die Frage der Moral stellt. Die meisten Situationen, denen wir im Laufe des Tages begegnen, erscheinen aus moralischer Sicht eher belanglos. In einer komplexen Welt mit vielfältigen Abhängigkeiten ist diese Sicht jedoch zweifelhaft. Nehmen wir das Beispiel persönlicher Gesundheit. Gehe ich beispielsweise davon aus, dass ich grundsätzlich niemandem verantwortlich bin, ist mein Umgang mit meiner Gesundheit reine Privatsache. In einer Gesellschaft, in der das Gesundheitswesen von allen Mitgliedern der Gemeinschaft finanziert wird, kann man dies mit gutem Grund auch anders bewerten. Gleiches gilt, wenn ich Angehörige habe, die von meiner Gesundheit und Arbeitsfähigkeit abhängig sind. Die Frage, ob und inwieweit ich hier eine Verantwortung gegenüber meinen Mitmenschen habe, ist eine typische Frage der Moral. Wir müssen daher zur Kenntnis nehmen, dass in einer vernetzten Welt viele unserer Handlungen eine mehr oder weniger stark ausgeprägte moralische Komponente beinhalten.

— Ethische Grundbegriffe

Das weite Feld menschlichen Handelns

Die Betrachtung des menschlichen Handelns ist ein weites Feld. Um ein Grundverständnis für die verschiedenen moralphilosophischen Ansätze zu erlangen, reicht es jedoch, sich mit den wesentlichen Grundbegriffen vertraut zu machen.

Ursachen und Wirkungen menschlichen Handelns

Hinter jeder menschlichen Handlung steht gewöhnlich eine Absicht, die auch als Wille oder Intention bezeichnet wird. Diese Absicht korrespondiert mit dem Ziel der Handlung. Sowohl die Handlung als auch das dahinter liegende Ziel kann bewusst oder unbewusst sein. Ist die Absicht bewusst, spricht man auch von einer freiwilligen Handlung. Jede Handlung kann als ein Ereignis in der Welt betrachtet werden, welches mit einer Wirkung und gegebenenfalls Folgewirkungen verknüpft ist. Dadurch beeinflusst und verändert eine Handlung die Realität.

Gelegentlich wird zwischen explizit beabsichtigten Wirkungen und in Kauf genommenen Nebenwirkungen unterschieden. So hat beispielsweise der betrunkene Autofahrer die verständliche Absicht, nach Hause zu gelangen, nimmt dabei aber in Kauf, dass er andere durch sein eingeschränktes Wahrnehmungsvermögen gefährdet. Ähnlich verhält es sich mit der »zweifachen Kausalität des Willens«, die auf den Philosophen und Theologen Thomas von Aquin (ca. 1225-1274) zurückgeht. Diese beschreibt den Umstand, dass sich eine Absicht direkt oder indirekt manifestieren kann. Im ersten Fall wird ein Ereignis aufgrund einer direkten Einwirkung des Willens durch aktives Handeln hervorgerufen. Die indirekte Einwirkung des Willens entspricht hingegen dem Zulassen eines bestimmten Ereignisses durch Unterlassen einer entsprechenden Handlung. In diesem Sinne ist auch Nichthandeln eine Form der Handlung, da hierdurch eine bestimmte Folge, wenn auch nicht direkt hervorgerufen, so doch zumindest akzeptiert wird. Beispiele hierfür stellen die passive Sterbehilfe oder die unterlassenen Hilfeleistungen an einem Unfallort dar. Beides, Handeln und Nichthandeln, ist für ethische Betrachtungen wichtig.

Werte und Normen als Maßstab moralischen Handelns

Die Bedeutung einer Handlung ergibt sich in erster Linie durch ihre Zielsetzung. Der Wert eines Ziels überträgt sich auf die mit ihm verbundenen Handlungen. Darüber hinaus spielen auch Werte eine Rolle, die nicht im unmittelbaren Fokus stehen, sofern sie von der Handlung berührt sind. Aus den mit unserem Handeln verfolgten Werten speist sich auch das Gefühl für Sinn. So wird eine Lebensweise, die auf erstrebenswerte Werte abzielt, von den meisten Menschen als sinnvoll und erfüllend empfunden.

Die Moralphilosophie untersucht systematisch, welche Werte grundsätzlich erstrebenswert und der Natur des Menschen angemessen sind. Daraus leitet sich dann ab, welche Handlungen im Rahmen eines moralischen und sinnstiftenden Lebens anzustreben oder zu vermeiden sind. Sind Werte verbindlich einzuhalten, spricht man von einer Norm. Sie beschreibt in Form eines Imperativs das anzustrebende Soll. Eine Norm kann sich dabei sowohl auf die Absicht als auch auf die Umsetzung einer Handlung beziehen. Aus den verschiedenen Normen ergibt sich der Maßstab für moralisches Handeln.

Trägt eine Handlung den vorgegebenen Normen Rechnung, ist sie moralisch richtig oder gut. Ansonsten gilt sie als schlecht oder böse. Das durch die Normen festgelegte Soll kann noch weiter konkretisiert werden: Das, was aus ethischer Sicht möglich ist, gilt als sittlich erlaubt. Wenn etwas aus moralischer Sicht sogar notwendig ist, ergibt sich daraus ein Gebot, also eine Pflicht. Das, was aus ethischer Sicht unmöglich ist, stellt ein Verbot dar.

Werte und Normen existieren auf unterschiedlichen Abstraktionsniveaus. Abhängig von den zugrunde liegenden Werten können Normen sehr allgemein und abstrakt oder aber situationsbezogen und konkret sein. Normen, die klare und konkrete Handlungsorientierungen vorgeben, werden in der Regel als Handlungsprinzipien, Handlungsgrundsätze oder Maximen bezeichnet. Sie beschreiben abstrakte Ziele und Werte mittels praktischer Grundsätze, die dem Handeln als Leitlinien und Bewertungskriterien dienen. Grundsätzlich lassen sich aus fundamentalen Werten und übergeordneten Normen im Sinne »erster« Prinzipien weniger allgemeine Prinzipien ableiten, aus denen nun ihrerseits konkrete Handlungsanweisungen entstehen.

Offensichtlich erfordert jedes Sollen zugleich ein Können, wenn moralische Normen nicht zu theoretischen, praxisuntauglichen Konstrukten verkommen sollen. Voraussetzung für jede Form von Ethik ist daher, dass menschliches Handeln hinreichend frei ist. Sollte der Mensch vollständig determiniert sein, erübrigt sich jegliche Diskussion über Recht und Moral. Im Laufe der Zeit erarbeiteten Philosophen unterschiedliche ethische Konzepte, um eine rational begründete Grundlage für das menschliche Handeln zu schaffen. Je nachdem, welche Werte und Normen als besonders wichtig und zentral angesehen werden, ergeben sich unterschiedliche Moralphilosophien. Bekannt sind zwei große Grundausrichtungen: Die eine verfolgt einen deontologischen und die andere einen konsequentialistischen Ansatz.

— Handeln als Pflichterfüllung

Der deontologische Ansatz

Die deontologische Ethik leitet ihren Namen von griechisch »deon« (Pflicht) ab und wird daher auch als Pflichtethik bezeichnet. Dieser Ansatz stellt die Vorstellung in den Mittelpunkt, dass der Mensch gewisse Pflichten hat. Sie haben den Charakter moralischer Normen, die im Rahmen unserer Handlungen einzuhalten sind. Den menschlichen Pflichten nachzukommen, ist von höchster Bedeutung, da sie das Gute definieren. Moralisches Handeln bedeutet somit in erster Linie Pflichterfüllung. Die konkreten Konsequenzen, die sich aus unserem Verhalten ergeben, sind aus diesem Blickwinkel von nachgelagerter Bedeutung.

Kants Pflichtethik

Das bekannteste Beispiel des deontologischen Ansatzes ist die Kant’sche Pflichtethik. Nach Ansicht des deutschen Philosophen Immanuel Kant (1724-1804) erkennt man eine moralische Handlung daran, dass sie aus einer die menschliche Natur kennzeichnenden Pflicht verrichtet wird und nicht etwa aus Neigung, Gefühl oder anderen persönlichen Gründen. Der Beweggrund und die Handlung selbst sind entscheidend, nicht deren Konsequenzen. Moralisches Handeln besteht nach Kant ausschließlich darin, seine Pflicht zu tun. Handlungen gelten als moralisch recht oder unrecht, unabhängig davon, was sonst noch aus ihnen folgt. Menschliche Pflicht wird als einzig akzeptabler Beweggrund angesehen.

Betrachten wir zur Veranschaulichung noch einmal die oben beschriebene moralische Zwickmühle. Aus deontologischer Sicht müsste hier die Handlung als solche betrachtet werden. Die Frage wäre also: Darf ich den übergewichtigen 70-jährigen Mann töten? Würde man das Töten eines Menschen als grundsätzlich verboten ansehen, dann ergäbe sich umgekehrt die Pflicht, nicht zu töten. Diese quasi einem moralischen Gesetz gleichkommende Pflicht ist nicht vereinbar mit der Handlung, den Mann von der Brücke zu stoßen. Da das Töten eines anderen Menschen gemäß dieser Sichtweise grundsätzlich nicht infrage kommt, erübrigt es sich, die Folgen der Handlung weiter zu betrachten.

Die deontologische Sichtweise trägt der Tatsache Rechnung, dass das tatsächliche Ergebnis einer Handlung im Allgemeinen nicht vollständig in der Kontrolle des Handelnden liegt und daher nicht als ethischer Maßstab herangezogen werden kann. Der Mensch kann vielmehr nur für das verantwortlich gemacht werden, was vollständig in seiner Macht steht. Der Fokus auf die Pflicht bewirkt nach Kant, dass jeder Mensch die Möglichkeit hat, moralisch richtig zu handeln.

Der kategorische Imperativ

Als vernunftbegabtes Wesen mit freiem Willen hat der Mensch nach Kant verschiedene Pflichten, die kategorisch sind. Sie sind absolut, gelten ausnahmslos und lassen sich als Handlungsprinzipien - Kant nennt sie Maximen - formulieren. Moral ist in diesem Sinne eine Sammlung von Maximen, ein System aus kategorischen Imperativen. »Helfe denen, die in Not sind« ist ein Beispiel einer Maxime. Da sich nach Kant alle Maximen aus einer Pflicht ergeben, kann jede Maxime gedanklich um »…, weil es deine Pflicht ist« ergänzt werden.12

Darüber hinaus gibt es nach Kant eine übergeordnete Maxime, einen grundlegenden kategorischen Imperativ, der in seiner bekanntesten Formulierung lautet: »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.«13 Tatsächlich nähme die Anzahl schädlicher Handlungen drastisch ab, würden wir uns stets fragen: »Was geschieht, wenn das alle machen würden?« Eine derartige Haltung trüge mit Sicherheit dazu bei, dass unsere Lebensweise umsichtiger und nachhaltiger würde.

Eine andere, äquivalente Variante des kategorischen Imperativs stellt die Zweck-Mittel-Formel dar: »Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.«14 In dieser Formulierung kommt die hohe Bedeutung der Menschenwürde deutlich zum Ausdruck. Die Formel sagt aus, dass die Art, wie ein Mensch zu behandeln ist, immer auch seinetwegen geschehen muss.

Die Probleme des deontologischen Ansatzes

Die Universalität der Kant’schen Ethik zeigt sich darin, dass jeder moralischen Handlung eine Maxime zugrunde liegen muss, die in vergleichbarer Situation für jeden gilt. Dass es Kant gelang, eine ganze Ethik quasi auf einen Grundsatz zurückzuführen, stellt zweifelsohne eine philosophische Meisterleistung dar. Dieser Umstand birgt jedoch gleichzeitig einen großen Nachteil. So besteht ein berechtigter Kritikpunkt an der Kant’schen Ethik in dem Vorwurf, dass sie »leer« sei. Sie zeigt zwar die Struktur moralischer Urteile auf, bietet aber keine nennenswerte, praktisch-inhaltliche Hilfe. Sie macht keine Aussagen darüber, was genau die wesentlichen menschlichen Pflichten sind und welche Hierarchie unter ihnen besteht, wenn konkurrierende Pflichten in einer speziellen Situation nicht gleichzeitig erfüllbar sind.

Ein weiteres Defizit besteht darin, dass sich im Rahmen dieser Ethik sehr zweifelhafte Handlungen moralisch rechtfertigen lassen, weil die Folgen einer Handlung nicht explizit berücksichtigt werden. Das kann sich mitunter überaus verheerend auswirken, wie zum Beispiel dann, wenn eine Person der Maxime »Lüge nicht!« folgend, einem Attentäter das Versteck seiner potenziellen Opfer verrät. Zudem werden wertvolle menschliche Tugenden wie Mitgefühl oder Sympathie bagatellisiert, weil sie im Rahmen der Pflichtethik als moralisch nicht relevant beurteilt werden.

— Das Ergebnis zählt

Der Konsequentialismus

Der Konsequentialismus, häufig auch als teleologische Ethik (von griechisch »telos«, Ziel oder Zweck) bezeichnet, bildet die Gegenposition zur Pflichtethik. Hier steht nicht die Handlung selbst, sondern deren Folgen im Vordergrund. Der moralische Wert einer Handlung ergibt sich damit aus den mit ihr verbundenen Konsequenzen.

Der Utilitarismus

Der Utilitarismus, wie er beispielsweise vom englischen Philosophen und Ökonomen John Stuart Mill (1806-1873) verfochten wurde, ist ein bekannter Vertreter der konsequentialistischen Ethik. Der Utilitarismus stellt nicht die Erfüllung der ureigenen menschlichen Pflichten, sondern das höchstmögliche Glück der Menschen als das höchste Gut dar. Menschliches Tun müsse sich daher daran orientieren, was dem Glück der Menschen am meisten nützt. Gemäß dieses Nützlichkeitsprinzips ist in einer gegebenen Situation diejenige Handlung die moralisch richtige, die insgesamt das größte Glück beziehungsweise das geringste Unglück zur Folge hat. Das Nützlichkeitsprinzip verlangt vom Handelnden, in einer Situation sämtliche zur Disposition stehenden Folgen abzuschätzen, die jeweils mit den einzelnen Handlungsoptionen einhergehen. Zu betrachten ist stets sowohl der quantitativ wie auch der qualitativ zu erwartende Nutzen.

Beim Trolley-Problem müsste im Sinne des Nützlichkeitsprinzips bewertet werden, ob die Rettung der vier Kinder den Tod des Mannes aufwiegen würden. Für eine richtige Entscheidung wären daher alle Konsequenzen zu berücksichtigen. Eine naheliegende Folge wäre zum Beispiel das Leid der Familienangehörigen des getöteten Mannes. Welche Folgen jeweils in Betracht kämen und abzuwägen wären, lässt sich selten leicht und rasch erkennen. Es ist offenkundig, dass in vielen Situationen die zu berücksichtigenden Faktoren äußerst vielfältig sein können und die praktischen Bewertungskriterien nicht eindeutig und klar definierbar sind.

Die Probleme des Konsequentialismus

Genau an diesem Punkt setzt die Kritik der Gegner des utilitaristischen Ansatzes an. Soll der Utilitarismus praktisch umgesetzt werden, muss der Nutzen, also das Glück, nicht nur klar definiert, sondern auch hinreichend gut messbar sein. Dies erscheint jedoch bei der Vielzahl an Zielen, welche mit Glück identifiziert werden können, kaum möglich. Wie lässt sich eindeutig klären, welche Formen von Glück höher als andere zu bewerten sind? Aufgrund dieser Problematik unterschied Mill nach »höherer« Lust, zu der er beispielsweise die Erkenntnis zählt und »niederer« Lust, wozu er unter anderem das physische Wohlbefinden rechnete. Nach Mill ist es besser, ein trauriger, aber weiser Mensch zu sein, als ein fröhlicher, aber unwissender Narr. Nichtsdestotrotz lässt sich auch diese Differenzierung äußerst kontrovers diskutieren und hilft bei vielen praktischen Problemen nicht maßgeblich weiter.

Ebenso problematisch gestaltet sich in der Praxis die Aufgabe, das Glück auf der einen Seite gegen das Leid auf der anderen Seite sinnvoll abzuwägen. Auch hier scheint keine allgemeingültige, befriedigende Lösung in Sicht. Darüber hinaus ist es schwierig zu bestimmen, in welcher Tiefe die Konsequenzen einer Handlung betrachtet werden müssen. Geht es nur um die unmittelbare Wirkung einer Handlung oder womöglich auch um eventuelle Spätfolgen? Nicht unbedenklich ist auch, dass der Utilitarismus eine »Ethik der Mehrheit« ist. So sind nach dem Nützlichkeitsprinzip Handlungen als moralisch gerechtfertigt vorstellbar, die einzelnen schaden oder sie diskriminieren.

— Weitere ethische Ansätze

Regelutilitarismus und Tugendethik

Sowohl die deontologische Ethik als auch der Konsequentialismus sind anerkannte ethische Grundkonzepte und zeigen wesentliche Merkmale ethischen Verhaltens auf. Beide haben neben den geschilderten Schwächen ausgesprochene Stärken. Trotz, oder gerade wegen ihrer Unterschiede sind viele Philosophen zur Einsicht gelangt, dass eine leistungsfähige Ethik wesentliche Bestandteile beider Richtungen beinhalten muss.

Dies führte zu verschiedenen Versuchen, beide Ansätze in geeigneter Weise miteinander zu verknüpfen. Der Regelutilitarismus und die bereits auf Aristoteles zurückgehende Tugendethik stellen zwei bekannte Beispiele einer Mischform dar.

Der Regelutilitarismus

Der Regelutilitarismus ist ein Versuch, die jeweils besten Aspekte des gewöhnlichen Handlungsutilitarismus und der deontologischen Ethik miteinander zu verbinden. Die Grundidee besteht darin, nicht die Konsequenzen einzelner Handlungen, sondern den Nutzen von Handlungsregeln zu betrachten. Demnach gilt eine Handlung dann als gerechtfertigt, wenn sie einer moralischen Regel folgt. Eine Ethik im Sinne des Regelutilitarismus besteht daher aus einem Bündel moralischer Regeln in Form von Handlungsprinzipien, welche einen möglichst großen Nutzen versprechen.

Die Hauptschwierigkeit dieses Ansatzes liegt darin, sich auf konkrete Regeln einigen zu müssen. Zu klären, welche Regeln zentral und welche nachgelagert sind, ist die Aufgabe, die gelöst werden muss, wenn der Ansatz in der Praxis verwendet werden soll.

Die Tugendethik

Einen weiteren, bekannten ethischen Ansatz stellt die Tugendethik dar, welche weitgehend auf die Nikomachische Ethik von Aristoteles zurückgeht. Sie legt ihren Fokus nicht auf die Handlung, sondern auf den Charakter des Menschen. Die Tugendethik gibt in einer speziellen Situation keine klare Handlungslinie vor, sondern verweist auf die Eigenschaften des Handelnden: Der Mensch soll bestimmte Tugenden besitzen und entsprechend tugendhaft handeln. Aristoteles ging davon aus, dass die Entwicklung von Tugenden für den Menschen der beste Weg sei, wahres Glück zu erlangen. Aristoteles nahm an, dass sich aus der Pflicht des Menschen, Tugenden zu erwerben, automatisch auch der größte Nutzen für ihn und sein Umfeld ergeben würde.

Auch bei diesem Ansatz liegt die Schwäche in der Schwierigkeit, das Konzept geeignet zu konkretisieren. So ist zweifellos eine Vielzahl positiver, menschlicher Fähigkeiten und Verhaltensweisen vorstellbar. Welche davon sind jedoch als wesentliche Tugenden zu betrachten? Die Antwort »Diejenigen, die der Mensch braucht, um glücklich zu sein« ist richtig, hilft aber praktisch nicht weiter. Darüber hinaus scheint eine Beschränkung auf den Erwerb von Tugenden in der heutigen Zeit, die sich durch ein hohes Maß an Komplexität auszeichnet, zu kurz gesprungen.

Alle moralphilosophischen Mischformen haben zum Ziel, Elemente aus der deontologischen und konsequentialistischen Ethik so zu verknüpfen, dass sich die jeweiligen Vorteile verstärken und ihre Nachteile abschwächen.

— Ethik und Weltanschauung

Die Relativität ethischer Konzepte

Welches der verschiedenen moralphilosophischen Grundkonzepte ist nun das richtige? Die Pflichtethik, der Utilitarismus oder eine Mischform? Die Tatsache, dass die verschiedenen Ansätze parallel existieren und diskutiert werden, lässt erahnen, dass eine eindeutige Antwort nicht ohne Weiteres möglich ist. Der Hauptgrund dafür liegt darin, dass die Grundsatzfragen der Ethik in enger Beziehung zu generellen Fragen der Weltanschauung stehen.

Die Begründung von Werten erfordert Werte

Wie bereits erläutert, sind es die zentralen Werte, die den grundlegenden Charakter jeder Ethik vorgeben. Alle weiteren Handlungsgrundsätze und Maximen leiten sich von ihnen ab und werden durch sie legitimiert. Jede Moralphilosophie ist daher relativ, da sie maßgeblich von den zugrunde gelegten Werten bestimmt wird. Die Frage nach dem richtigen Handeln verlagert sich damit auf die Auswahl der wesentlichen Werte. Will man vermeiden, dass diese Auswahl willkürlich vollzogen wird, muss eine stichhaltige Begründung erfolgen. Problematisch ist dabei, dass jede Begründung eine Wertung beinhaltet, welche ihrerseits einer Begründung bedarf.

Spätestens an dieser Stelle wird der originäre Bereich der Ethik verlassen. Die Frage nach fundamentalen ethischen Werten und Normen lässt sich nur eingebettet in grundlegende Fragen der Weltanschauung klären. In diesem erweiterten Kontext ist zu fragen: Gibt es eine Möglichkeit zu erkennen, welche Werte tatsächlich grundlegend sind? Existieren überhaupt Werte und Normen in einem absoluten Sinne? Anders formuliert: Gibt es Werte, die natürliche Eigenschaften des Universums darstellen oder muss jeder Wert notwendigerweise auf menschlicher Konvention beruhen? Die Frage nach dem Fundament der Ethik führt damit zu einer Aufgabe, die sich nur außerhalb der Moralphilosophie lösen lässt.

Die Bedeutung eines Menschen- und Menschheitsbildes

Die Frage nach einer geeigneten Werte- und Normenbasis ist eng mit der Natur des Menschen verknüpft. Die grundlegende Frage der Ethik »Was soll ich tun?«, hängt ganz entscheidend vom zugrunde liegenden Menschenbild ab. Mit anderen Worten: Ohne ein klares Bild davon, was das innerste Wesen des Menschen ausmacht und über welche potenziellen Fähigkeiten er verfügt, hängt jede Ethik in der Luft.

Zur Verdeutlichung: Angenommen, der Mensch wäre aufgrund seiner Natur grundsätzlich unfähig, friedlich mit anderen Menschen zusammenzuleben, so ginge eine Norm, die genau das fordern würde, an der Realität vorbei. Geht man hingegen davon aus, dass der Mensch grundsätzlich lernfähig ist, so kann der Wert Friedfertigkeit selbst für eine streitsüchtige Person erlernbar und handlungsleitend sein.

Es reicht nicht aus, dass sich die Ethik am herrschenden Menschenbild orientiert. Weil der Mensch stets auch Teil einer Gemeinschaft ist und beide sich in komplexer Weise gegenseitig beeinflussen, müssen Werte und Normen gleichermaßen individuelle und kollektive Bedürfnisse berücksichtigen. Die für eine zeitgemäße Ethik notwendige Werte- und Normenbasis muss daher nicht nur dem zugrunde liegenden Menschenbild entsprechen, sondern auch mit einem geeigneten Menschheitsbild im Einklang stehen.

Es lässt sich festhalten, dass jede Moralphilosophie relativ ist, da sie stets in den größeren Rahmen der allgemeinen Weltanschauung eingebettet und von diesem abhängig ist. Die Frage nach einer objektiven und allgemein akzeptierten Ethik kann daher nicht ohne Bezug auf ein tragfähiges Weltbild beantwortet werden. Im nächsten Schritt ist daher zu untersuchen, welche Bausteine ein tragfähiges Weltbild auszeichnen und welche Quellen des Wissens hierfür infrage kommen.

KURZFASSUNG

Ethik ist die philosophische Disziplin, die systematisch untersucht, was wir tun sollen. Hierzu analysiert sie die wesentlichen Werte, deren Berücksichtigung durch entsprechende Normen sichergestellt werden soll. Je nachdem, welche Werte als besonders wichtig erachtet werden, ergeben sich unterschiedliche moralphilosophische Richtungen. Verbreitet sind vor allem der deontologische Ansatz und der Konsequentialismus sowie verschiedene daraus resultierende Mischformen. Während die deontologische Ethik die Einhaltung grundlegender Pflichten als zentralen Wert ansieht, fokussiert sich der Konsequentialismus auf das erwartete Ergebnis einer Handlung. Welche der verschiedenen moralphilosophischen Grundkonzepte das richtige ist, lässt sich nicht ohne Weiteres beantworten.

Der wesentliche Grund dafür ist, dass die Grundsatzfragen der Ethik in enger Beziehung zu generellen Fragen der Weltanschauung stehen. Zunächst stellt sich die Frage, ob Werte überhaupt in einem absoluten Sinne existieren oder ausschließlich auf menschlicher Konvention beruhen. Darüber hinaus erfordert die Auswahl einer geeigneten Wertebasis eine stichhaltige Begründung. Problematisch ist dabei, dass jede Begründung eine Wertung beinhaltet, welche ihrerseits einer Begründung bedarf. Ebenso wichtig ist der Bezug der Ethik zum zugrunde liegenden Menschen- und Menschheitsbild. Ohne ein klares Bild davon, was das innerste Wesen des Menschen ausmacht, welche potenziellen Fähigkeiten er besitzt und welche kollektiven Bedürfnisse von Bedeutung sind, hängt jede Ethik in der Luft.

In diesem Sinne ist jede Moralphilosophie relativ, da sie stets in den größeren Rahmen der allgemeinen Weltanschauung eingebettet und von diesem abhängig ist. Die Frage nach einer objektiven und allgemein akzeptierten Ethik kann daher nicht ohne Bezug auf ein tragfähiges Weltbild beantwortet werden.

Im nächsten Kapitel wird untersucht, welche Bausteine ein tragfähiges Weltbild auszeichnen und welche Quellen des Wissens hierfür infrage kommen.

Eckpfeiler einer reifen Weltsicht

Подняться наверх