Читать книгу Eckpfeiler einer reifen Weltsicht - Michael Merkel - Страница 20

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8 Wissen ohne Gewähr

Der Modellcharakter wissenschaftlicher Erkenntnis

Jedes Naturgesetz, das sich dem Beobachter offenbart, lässt auf ein höheres, noch unerkanntes schließen. ALEXANDER VON HUMBOLDT

Im heutigen Wissenschaftsbetrieb gilt: Theorien haben kurze Beine. RAINER KOHLMAYER

500 Menschen haben sich mit demselben Ziel am Münchner Flughafen eingefunden. Ob aus geschäftlichen oder privaten Gründen, alle wollen nach Hongkong. Sie sitzen in Zweier-, Dreier- oder Vierersitzreihen auf zwei Stockwerke verteilt und warten darauf, dass die Reise beginnt. Langsam und schwerfällig bewegt sich der über 500.000 kg schwere Airbus A380 über den Rollweg. Als der Pilot Gas gibt, donnern die gigantischen Triebwerke los. Alle Trägheit ist verflogen und einer ungeheuren Dynamik gewichen. Mit einer Schubkraft, die 2.500 Mittelklassewagen entspricht, beschleunigt der Jet in knapp 20 Sekunden auf etwa 300 km pro Stunde und hebt sanft in den Münchner Himmel ab. Ein Großteil des Fluges findet in 12.000 Metern über der Erde bei unwirtlichen -50 Grad Celsius und einer Geschwindigkeit von knapp 900 km pro Stunde statt.

Der mit High-Tech vollgepackte und aus vielen neuartigen Werkstoffen gefertigte Flieger lässt die Menschen von diesen extremen Bedingungen nichts spüren. Schallgeschützt und bei angenehmer Temperatur sitzen die Fluggäste im Inneren des 72 Meter langen künstlichen Vogels. Einige schlafen, andere trinken Kaffee, lesen oder schauen sich einen Film an. Dann, am späten Nachmittag, fast 9.000 km vom Start in München entfernt, bittet der Pilot die Passagiere, sich anzuschnallen. Die Landung in Hongkong steht unmittelbar bevor. Ein komplexes System aus Vorflügeln und Landeklappen unterstützt beim Bremsen, so dass der riesige Airbus nur wenige Minuten später sicher auf der Landebahn zum Stehen kommt.

Obwohl der Mensch keine Flügel hat, ist Fliegen zu einem alltäglichen Vorgang geworden – Wissenschaft und Technik machten es möglich. Wir haben uns längst daran gewöhnt, dass verschiedenste Technologien heutzutage unseren Alltag prägen. Nur selten machen wir uns klar, wie erstaunlich unsere technischen Errungenschaften tatsächlich sind. Am ehesten fällt es uns vielleicht auf, wenn wir einem kleinen Kind die Funktionsweise eines bestimmten technischen Gerätes erklären wollen. Alle unsere technischen Wunderwerke bauen auf einem hinreichend genauen Verständnis der in der Welt herrschenden Gesetzmäßigkeiten auf. Daher ist der Stand der Technik ein untrüglicher Indikator für die Tiefe unseres Verständnisses der Realität. Wie ist solch ein erstaunliches Verständnis der Welt möglich geworden? Die Tatsache, dass alles Wissen kontextabhängig und in letzter Konsequenz hypothetisch und vorläufig ist, müsste eigentlich anderes vermuten lassen. Aber zweifelsohne hat der Mensch trotz aller erkenntnistheoretischen Einschränkungen Mittel und Wege gefunden, der Realität ihre Geheimnisse zu entlocken. Es bleibt die Frage, wie es der Wissenschaft gelang, unter diesen Bedingungen Theorien zu entwickeln, welche die Realität offenbar sehr gut repräsentieren.

— Abschied vom Ideal absoluter Wahrheit

Die Akzeptanz grundlegender Wissensbarrieren

Der philosophische Zweig, der den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess untersucht, ist die Wissenschaftstheorie.

Wissenschaftstheorie

Die Wissenschaftstheorie nimmt sowohl die Merkmale und die Struktur wissenschaftlicher Erkenntnis als auch die verwendeten methodischen Prinzipien unter die Lupe. Abhängig vom Wissensgebiet lassen sich verschiedene Formen von Wissenschaft unterscheiden. Im Folgenden werden unter Wissenschaft die sogenannten Wirklichkeitswissenschaften verstanden, wohl wissend, dass auch die Formal- oder Strukturwissenschaften wie die Mathematik zu den Wissenschaften gehören. Den Wirklichkeitswissenschaften wie zum Beispiel der Physik oder der Biologie ist gemeinsam, dass sie keine rein intellektuellen Konstrukte sind, sondern beanspruchen, objektive Aussagen über die Realität zu machen.

Da die Gegenstandsbereiche der einzelnen Wissenschaften unterschiedlich komplex sind, ist auch deren jeweiliger Reifegrad entsprechend unterschiedlich. Aufgrund dieser Unterschiede weichen die Wissenschaften nicht nur in der Mächtigkeit und Tiefgründigkeit ihrer Theorien voneinander ab, sondern auch in ihren speziellen Methoden. Dennoch gibt es grundlegende gemeinsame Merkmale, welche die einzelnen Disziplinen zur Wissenschaft machen. In diesem Sinne besteht zwischen den teilweise schon sehr weit fortgeschrittenen Naturwissenschaften und den aufgrund ihres komplexen Themenbereichs schwerer greifbaren Sozial- und Geisteswissenschaften kein nennenswerter Unterschied.

Die wesentlichen Grundlagen der modernen Wissenschaftstheorie wurden vom österreichisch-britischen Philosophen Karl Popper (1902-1994) erarbeitet und von anderen Erkenntnis- und Wissenschaftstheoretikern weiterentwickelt und verfeinert. Die Wissenschaftstheorie hat eine zweifache Natur: Sie ist zum einen deskriptiv, da sie die Entwicklung wissenschaftlicher Erkenntnisse im historischen Rückblick rekonstruiert. Zum anderen hat sie einen normativen Charakter, weil sie herausarbeitet, nach welchen methodischen Prinzipien wissenschaftliche Forschung idealerweise erfolgen sollte. Die moderne Wissenschaftstheorie setzt dort an, wo die klassische Erkenntnistheorie aufhört.

Wissenschaft ist wie Geschirrspülen

Ausgangslage für die Untersuchung des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses bilden die im Rahmen der Erkenntnistheorie herausgearbeiteten fundamentalen Wissensbarrieren. Wie konnte es zur unbeschreiblichen Erfolgsgeschichte der Wissenschaft kommen, wo es doch sichere Erkenntnis grundsätzlich nicht geben kann? Dieses Wunder erläuterte von Weizsäcker in seinen Vorlesungen häufig anhand einer gleichnishaften Anekdote. Darin berichtet er von einem Abend, den er zusammen mit zwei weiteren Koryphäen der Physik, Niels Bohr (1885-1962) und Werner Heisenberg (1901-1976), beim Skifahren in den bayerischen Alpen erlebt hat: »Man wohnt in einer kleinen Almhütte und muss sich um das Abendessen selbst kümmern. Bohr bekommt die Aufgabe, den Abwasch zu übernehmen. Er zieht sich brav in die Küche zurück, klappert kräftig mit dem Geschirr – und stößt plötzlich einen Schrei aus. Aufgeregt rennt er zu den anderen, und während er seine Riesenhand gegen die breite Stirn klatscht, erklärt er den verblüfften Wissenschaftlern, dass er endlich herausgefunden hat, warum ihr Vorgehen überhaupt erfolgreich sein kann. ›Wissenschaft ist wie Spülen‹, erläutert Bohr, ›beim Geschirrwaschen tauchen wir dreckige Teller in eine dreckige Brühe und reiben sie mit einem dreckigen Lappen ab. Und dabei werden sie sauber. In der Wissenschaft verwenden wir unklare Begriffe, die wir in unklaren Experimenten erproben, deren Ergebnisse wir in einer Sprache mit einem unklaren Anwendungsbereich mitteilen. Und doch gelingt es uns dabei unsere Einsicht zu verbessern.‹«55

Die Entkopplung von Wahrheit und Beweisbarkeit

Würde man dem Ideal der klassischen Philosophie folgen und nur sicheres, also beweisbares Wissen als echte Erkenntnis anerkennen, dann wäre man gezwungen, sich von der Wissenschaft als Erkenntnisunternehmen zu verabschieden. Wer kann das wollen? Die einzige Alternative dazu ist, den Wunsch nach unbezweifelbarer Erkenntnis aufzugeben. Genau diesen Weg ist die Wissenschaft schließlich auch gegangen. Sie arrangierte sich mit der Tatsache, dass Beweisbarkeit ein schwächerer Begriff als Wahrheit ist und gestand damit ein, dass nicht alles, was wahr ist, auch bewiesen werden kann. Daraus ergab sich die methodische Notwendigkeit, Wahrheit und Beweisbarkeit zu entkoppeln. Wissenschaftler wissen, dass jede Theorie, wie gut sie auch sein mag, dennoch nur als hypothetisch, vorläufig und unvollständig zu betrachten ist.

Daher versucht die Wissenschaft nicht, durch Deduktion oder Induktion zu unbezweifelbaren Erkenntnissen zu gelangen, sondern setzt stattdessen auf einen dynamischen Lernprozess. Wissenschaftler arbeiten in dem Bewusstsein, dass ihre Theorien nie der Weisheit letzter Schluss sind, sondern im Rahmen des wissenschaftlichen Lernprozesses stetig verbessert werden müssen. Und die Geschichte der Wissenschaft zeigt, dass diese Strategie der schrittweisen Verbesserung äußerst erfolgreich ist. Mit »dreckigem Lappen« und »dreckiger Brühe« in Form unscharfer Methoden gelingt es offenbar, den »Teller der Welt« schrittweise zu reinigen und einen zusehends klareren Blick auf die darunterliegenden Schichten der Realität zu erlangen. Auch wenn es dafür keinen strengen Beleg gibt, so nährt der Erfolg der Wissenschaft die Hoffnung, dass sich die wissenschaftlichen Theorien im Laufe der Zeit der Realität immer stärker annähern.

— Von der Lehre zur Wissenschaft

Gütekriterien einer Theorie

Den Rahmen für einen effektiven wissenschaftlichen Lernprozess bilden bestimmte Anforderungen, die an eine Theorie gestellt werden. Ein Bündel geordneter Einzelaussagen ist für eine wissenschaftliche Theorie zu wenig.

Anforderungen an eine wissenschaftliche Theorie

Wie Kant auf der ersten Seite der Vorrede seiner Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft erklärt, kann von echter Wissenschaft erst dann gesprochen werden, »wenn sie ein System, d.i. ein nach Prinzipien geordnetes Ganzes der Erkenntnis«56 darstellt. Diese Prinzipien bilden methodische Gütekriterien, die eine vorwissenschaftliche Lehre in den Rang einer wissenschaftlichen Theorie heben. Der deutsche Philosoph Wolfgang Detel (*1942) nennt fünf wesentliche Bedingungen, die eine wissenschaftliche Theorie erfüllen muss:57

1 Sie beschreibt nicht nur Tatsachen, sondern zeigt auch die Ursachen dieser Tatsachen auf.

2 Sie richtet sich nicht nur auf wahrnehmbare, sondern auch auf nichtwahrnehmbare Gegenstandsbereiche.

3 Sie bezieht sich nicht nur auf singuläre, sondern auch auf allgemeine Tatsachen.

4 Sie wird in logisch geordneter Form präsentiert.

5 Sie ist intersubjektiv überprüfbar und damit grundsätzlich kritisierbar und verbesserungsfähig.

Aufzeigen der Ursachen bekannter Tatsachen

Die erste Bedingung zielt darauf ab, dass es in der Wissenschaft nicht um das Sammeln von Fakten geht, sondern um ein tiefes Verständnis der Realität. Daher ist die genaue Beschreibung eines Phänomens eine wichtige Voraussetzung, aber für wirkliche Erkenntnis noch nicht ausreichend. Der Hauptwert einer wissenschaftlichen Theorie liegt vielmehr in ihrer Fähigkeit, eine Erklärung für die verschiedenen beobachteten Fakten zu liefern, also die im Raum stehende Warum-Frage zu klären. Gelingt es den Forschern, die Ursachen der beobachteten Tatsachen aufzuzeigen, ist die Bedingung erfüllt.

Beschreibung von unsichtbaren Teilen der Realität

Weil die Ursachen eines Phänomens nicht immer sichtbar sind, besteht die zweite Anforderung darin, auch den unsichtbaren Bereich der Realität unter die Forschungslupe zu nehmen. Es ist bezeichnend, dass sich beispielsweise in der Physik fast alle Theorien auf unsichtbare Objekte und Wechselwirkungen beziehen. So wurden weder ein Elektron noch die Schwerkraft jemals direkt »gesehen«. Eine gute wissenschaftliche Erklärung strebt immer danach, die hinter den sichtbaren Teilen eines Phänomens verborgenen Mechanismen aufzudecken.

Die Bedingungen 1 und 2 erklären auch, warum Russels Hahn überraschend im Kochtopf landete. Der Hahn gab sich mit einer oberflächlichen Beobachtung zufrieden, anstatt eine Erklärung für das Verhalten des Bauern zu suchen. Er bemühte sich nicht um ein Verständnis des Verhaltens, sondern verallgemeinerte lediglich seine Beobachtung von der täglichen Fütterung. Den kausalen Zusammenhang zwischen Füttern und der vom Bauern angestrebten Fleischproduktion verstand er nicht.

Erklärung allgemeiner Eigenschaften der Realität

Das dritte Kriterium trägt dem Umstand Rechnung, dass eine Theorie umso wertvoller ist, je größer ihr Geltungsbereich ist. Die Erfahrung zeigt, dass insbesondere sehr allgemeine Theorien eine Vielzahl von zum Teil unterschiedlichen Erscheinungen erklären können.

Betrachten wir zum Beispiel die Schwerkraft. Sie wirkt nicht nur auf den Menschen und verhindert, dass er von der Erde fällt, sondern stellt eine ganz allgemeine Beziehung dar, die zwischen allen Massenkörpern besteht. Die Gravitation steht damit für ein universales Naturgesetz, das für jegliche materiellen Gegenstände im ganzen Universum ausnahmslos gilt. Daher lassen sich mit Hilfe des Gravitationsgesetzes das physikalische Verhalten sämtlicher Massekörper, seien es Steine, Planeten oder Sterne, verstehen.

Die Bedingung 3 untermauert die Bedeutung eines möglichst allgemeinen Charakters einer Theorie. Bemerkenswert ist, dass sich sehr umfassende und weitreichende Theorien in der Regel sehr kompakt darstellen lassen. Das liegt daran, dass der allgemeine Charakter eines Phänomens mit einer fundamentalen Regelmäßigkeit der Realität, also einer Gesetzmäßigkeit korrespondiert, die sich jedoch aufgrund verschiedener Rahmenbedingungen in mannigfaltiger Weise äußert.

Darstellung in logisch geordneter Form

Dies führt zur nächsten Bedingung. Gesetzesartige Zusammenhänge lassen sich sehr prägnant in einer logischen Wenn/Dann-Struktur beschreiben. Sind diese hinreichend präzise und logisch-stringent unter Angabe des jeweiligen Anwendungs- oder Geltungsbereiches beschrieben, ist die Bedingung 4 erfüllt. Bereits eine simple Allaussage stellt ein einfaches Gesetz dar, an dem sich der damit verbundene Wenn/Dann-Charakter veranschaulichen lässt. So kann man beispielsweise die Aussage »Alle Katzen haben zwei Augen« entsprechend umformen:

WENNDer Gegenstand ist eine Katze.
DANNDer Gegenstand hat zwei Augen.

Dieses Beispiel ist zugegeben etwas künstlich. Eine geläufigere Gesetzmäßigkeit stellt die Aussage »Metalle dehnen sich bei Erhitzung aus« dar, die ausgeschrieben bedeutet:

WENNDer Gegenstand ist ein Metall.
UND WENNDer Gegenstand wird erhitzt.
DANNDer Gegenstand dehnt sich aus.

Intersubjektive Überprüfbarkeit

Die letzte Bedingung fordert die intersubjektive Überprüfbarkeit einer wissenschaftlichen Theorie, weil andernfalls keine Bewertung und damit auch keine Verbesserung möglich wäre. Im Falle von gesetzesartigen Theorien ist die Überprüfbarkeit grundsätzlich sichergestellt. Dies liegt daran, dass gesetzesartige Aussagen immer mit »Ereignisverboten« verbunden sind. Dies lässt sich schnell verstehen, wenn man beim letzten Beispiel den Dann-Teil etwas umformt:

WENNDer Gegenstand ist ein Metall.
UND WENNDer Gegenstand wird erhitzt.
DANNEs kann nicht sein, dass der Gegenstand sich nicht ausdehnt.

Wenn das Gesetz also tatsächlich gilt, dann darf es nicht vorkommen, dass sich ein Metall bei Erwärmung nicht ausdehnt. Sollte dieser von der Theorie »verbotene« Sachverhalt beobachtet werden, war das postulierte Gesetz offenbar falsch. Der gesetzesartige Charakter von Theorien gewährleistet also, dass eine Theorie scheitern kann und macht sie dadurch kritisierbar und verbesserungsfähig. Damit ist die Bedingung 5 erfüllt.

Das Aufdecken gesetzesartiger Muster als Kern jeder Wissenschaft

Es sollte deutlich geworden sein, dass vor allem das Verständnis von allgemeinen, gesetzesartigen Phänomenen die Leistungsfähigkeit einer wissenschaftlichen Theorie kennzeichnet. Eben diese Kenntnis der gesetzesartigen Eigenschaften des Universums versetzt Wissenschaftler in die Lage vorherzusehen, was unter bestimmten Bedingungen geschehen wird. An dieser Stelle wird Wissen zu Macht. Je genauer bestimmte Vorhersagen möglich sind, desto leichter lässt sich dieses Wissen für spezielle Anwendungszwecke nutzen. Eine wissenschaftliche Disziplin ist in dem Maße erfolgreich, wie es ihr gelingt, die sichtbaren Erscheinungen ihres Untersuchungsgebiets auf kompakte, gesetzesartige Zusammenhänge zurückzuführen und dadurch zu erklären.

Der gesetzesartige Charakter von Theorien ist im Falle der Naturwissenschaften offenkundig. Aber auch weniger exakte Wissenschaften wie die Human- oder Sozialwissenschaften müssen danach streben, sich zunehmend durch die Erklärung kausaler Zusammenhänge auszuzeichnen. Wenngleich der Untersuchungsgegenstand komplexer und damit zweifelsohne weniger scharf zu greifen ist, muss es auch dort um die Entdeckung und Beschreibung von grundlegenden Gesetzen und Prinzipien gehen, sofern die Forschungsergebnisse von wissenschaftlicher Tragfähigkeit sein sollen.

— Das Hempel-Oppenheim-Schema

Der Idealtypus einer wissenschaftlichen Erklärung

Die gesetzesartige Erklärung ist als zentraler Bestandteil jeder wissenschaftlichen Theorie für die Wissenschaftstheorie von besonderem Interesse. Zunächst war es Popper, der 1935 auf den wissenschaftstheoretischen Erkenntnissen des 18. und 19. Jahrhunderts aufbauend, die Grundstruktur einer wissenschaftlichen Erklärung veröffentlichte.58

Das Schema von Hempel und Oppenheim

Die deutschen Philosophen Carl Gustav Hempel (1905-1997) und Paul Oppenheim (1885-1977) arbeiteten Poppers Konzept in der Folge weiter aus.59 In Anlehnung an ihre Nachnamen ist die typische Struktur einer ausgereiften wissenschaftlichen Erklärung seitdem auch als Schema von Hempel und Oppenheim oder kurz HO-Schema bekannt.

Das HO-Schema berücksichtigt die Wenn/Dann-Struktur wissenschaftlicher Gesetze und hat daher zwei Teile. Es besteht einerseits aus der Erklärung, dem »Explanans« (das Erklärende), und andererseits aus den zu erklärenden Tatsachen, dem »Explanandum« (das zu Erklärende). Das Explanans repräsentiert den Wenn-Teil und besteht aus einer oder mehreren allgemeinen Gesetzesaussagen sowie weiteren Aussagen, die als Randbedingungen bezeichnet werden. Das Explanandum beschreibt den Dann-Teil, also das, was sich aus den Gesetzen unter den gegebenen Rahmenbedingungen ergibt.

Gemäß diesem Konzept ist eine Erklärung ein sprachliches Gebilde, bei dem sich aus dem Explanans, das Explanandum als logische Vorhersage ergibt. Weil die Ableitung des Explanandums streng logisch (deduktiv) erfolgt und weil dafür die Gesetzmäßigkeit (»nomos«) entscheidend ist, wird das HO-Schema auch als deduktiv-nomologische Erklärung, kurz D-N-Erklärung bezeichnet. Das HO-Schema ist in Abbildung 11 anhand eines einfachen Beispiels aus der Physik, der Zustandsgleichung eines idealen Gases, dargestellt.


Abb.11: Die Struktur einer wissenschaftlichen Erklärung (HO-Schema)

Bei einem idealen Gas besteht die allgemeine Gesetzmäßigkeit darin, dass das Volumen V des Gases in ganz bestimmter Weise von der Temperatur T und dem vorherrschenden Druck P abhängt. Die Zustandsgleichung V = const. T/P beschreibt diesen Zusammenhang. Unter den im Beispiel genannten Rahmenbedingungen – es handelt sich um Heliumgas, dessen Druck bei konstanter Temperatur auf die Hälfte reduziert wird - lässt sich aus der Gesetzmäßigkeit sofort eine Verdopplung des Gasvolumens ableiten.

Anforderungen an eine wissenschaftliche Erklärung

Wie man an diesem Beispiel sieht, ist die allgemeine Gesetzesaussage (G) der zentrale Kern der Erklärung. Ohne diese würde eine Erklärung nur zufällig stimmen. Die Randbedingungen (R1), (R2) und (R3) wiederum spezifizieren die Situation. Das konkret zu Erklärende (E) ergibt sich dann als logische Ableitung aus dem allgemeinen Gesetz im Zusammenspiel mit den drei Randbedingungen. Die allgemeine Gesetzmäßigkeit und die Fähigkeit, das Explanandum logisch abzuleiten, sind damit zwei notwendige Eigenschaften einer gesetzesartigen Erklärung.

Der Wissenschaftstheoretiker Hans Günther Ruß (*1959) weist darauf hin, dass noch drei weitere Anforderungen erfüllt sein müssen, damit eine wissenschaftliche Erklärung als vertrauenswürdig gelten kann.60 So müssen sämtliche Komponenten einer Erklärung anhand verschiedener Fälle unabhängig prüfbar sein. Dies ist nicht erfüllt, wenn nur ein spezielles Explanandum prüfbar ist. Wenn beispielsweise beobachtet wird, dass sich ein Stück Eisen bei Erwärmung ausdehnt, so ist die Aussage »Eisen dehnt sich bei Erwärmung aus« noch keine Erklärung. Diese Aussage stellt gegenüber der Beobachtung selbst keinen Mehrwert dar. Der Satz »Metalle dehnen sich bei Erwärmung aus« bietet hingegen eine erste Erklärung, weil seine Richtigkeit unabhängig von Eisen auch anhand von Kupfer, Nickel und anderen Metallen überprüft werden kann. Um wiederum die Frage zu beantworten, warum Metalle sich ausdehnen, wäre eine tiefer gehende Erklärung notwendig.

Eine weitere Bedingung ist, dass das Explanans empirischen Gehalt haben muss, weil sich auf deduktivem Weg nur aus gehaltvollen Aussagen (Explanans) weitere gehaltvolle Aussagen (Explanandum) bilden lassen. Der Satz »Wenn ich meinen Hund rufe, dann kommt er oder nicht« weist zwar eine gesetzesartige Wenn/Dann-Struktur auf, ist aber nicht empirisch gehaltvoll. Er sagt nichts aus und stellt daher nur scheinbar eine Gesetzmäßigkeit dar.

Die letzte der drei Anforderungen gibt vor, dass das Explanans ausnahmslos aus wahren Aussagen bestehen muss. Wie im Rahmen der logischen Deduktion ausgiebig erläutert,61 ist dies eine notwendige Voraussetzung jedes logischen Systems. Weil logische Schlüsse inhaltserhaltend sind, würden sich Fehler im Explanans auf das Explanandum übertragen.

Anbei sind die wesentlichen Eigenschaften, die eine wissenschaftliche Erklärung gemäß dem HO-Schema erfüllen muss, noch einmal zusammengefasst:

› Das Explanans enthält mindestens ein Gesetz.

› Das Explanandum lässt sich logisch aus dem Explanans ableiten.

› Sämtliche Komponenten einer Erklärung sind anhand verschiedener Fälle unabhängig prüfbar.

› Das Explanans hat empirischen Gehalt.

› Alle Komponenten des Explanans sind wahr.

Offensichtlich ist das HO-Schema mit den im vorangegangenen Abschnitt vorgestellten grundlegenden Eigenschaften einer wissenschaftlichen Theorie im Einklang. Zusätzlich fokussiert es aber noch stärker auf die postulierte Regelmäßigkeit und gesetzesartige Struktur unseres Universums.

Die Unvollständigkeit einer Theorie

Das HO-Schema ist als Idealtypus einer wissenschaftlichen Erklärung anzusehen. Dieser Standard kann jedoch in der Praxis nicht immer erreicht werden. Das größte Problem stellt dabei die Unvollständigkeit dar, welche jede Theorie in zweierlei Weise betrifft. Zum einen ist jede Theorie grundsätzlich unvollständig, weil sie gemäß Gödel immer unentscheidbare Aussagen beinhaltet und daher irgendwann an ihre Grenzen stoßen wird.

Zum anderen - und das ist für die wissenschaftliche Praxis fast noch bedeutsamer – müssen Theorien aus rein praktischen Gründen unvollständig bleiben. Weil viele Phänomene sehr komplex und darüber hinaus zumeist mit anderen Phänomenen verknüpft sind, ist es in der Praxis oft gar nicht möglich, sämtliche betroffenen Gesetzmäßigkeiten und Einflussfaktoren zu erkennen und in der HO-Beschreibung zu berücksichtigen. Betrachten wir hierzu beispielhaft die Aussage »Hoher Zigarettenkonsum erhöht die Wahrscheinlichkeit an Lungenkrebs zu erkranken.« Aus diesem Gesetz und der Randbedingung »Herr Müller hat seit vielen Jahren einen hohen Zigarettenkonsum« folgt natürlich nicht zwingend: »Herr Müller wird an Lungenkrebs erkranken.« Zu bedeutend sind hier andere Einflussfaktoren wie Ernährung, Bewegung oder die körperliche und psychische Konstitution. In einer vollständigen Theorie müsste man sämtliche derartige Faktoren präzisieren und berücksichtigen.

Da dies in der Praxis nicht möglich ist, besteht die Kunst darin, zumindest diejenigen Bedingungen und Gesetzmäßigkeiten, die für die Erklärung eines komplexen Phänomens von besonderer Relevanz sind, in der Theorie zu erfassen. Wenn dies gelingt, werden technische Wunderwerke wie der eingangs erwähnte Airbus A380 möglich. Die praktische Notwendigkeit, sich auf wesentliche Eigenschaften eines Phänomens beschränken zu müssen, ist der Grund, warum in der Wissenschaft anstatt von Theorien häufig auch von Modellen der Realität gesprochen wird.

— Denken in Modellen

Der Mensch als modellbildendes Wesen

Ob Bohr’sches Atommodell, Urknall-Modell oder die Modellvorstellungen der Zukunftsforscher - der Begriff des Modells ist eng mit wissenschaftlicher Tätigkeit verknüpft.

Die Wissenschaft als Modelle entwickelnde Unternehmung

Zu Recht wird die Wissenschaft häufig als eine Modelle entwickelnde Unternehmung bezeichnet. Allerdings ist der Begriff des Modells äußerst vielschichtig und taucht in unterschiedlichen Zusammenhängen auf. Wir finden heute förmlich einen »Modell-Zoo« vor, in welchem es sowohl umgangssprachliche als auch formalsprachliche Modelle wie beispielsweise logisch-mathematische Modelle gibt. Ebenso finden wir praktische und theoretische Modelle, Analogmodelle und idealisierte Modelle, strukturelle und semantische Modelle, konkrete und abstrakte Modelle, implizite und explizite Modelle, Beschreibungs- und Erklärungsmodelle, Analyse- und Prognosemodelle, Entscheidungsmodelle und Skalarmodelle.

Diese Vielfalt wird verständlich, wenn man die große Bedeutung von Modellen für den Menschen betrachtet. Nach Meinung des deutschen Philosophen Herbert Stachowiak (1921-2004) spielen Modelle für den Menschen sowohl bei der Erkenntnisgewinnung als Nachbildung der Realität als auch beim Handeln als Vorbild eine entscheidende Rolle: »Zu den Grunderlebnissen des Menschen gehört dasjenige der Dichotomie von Vorgegebenem und Nachvollzogenem, von Original und Modell. Wir können den Menschen geradezu als das modellbildende Wesen begreifen. Alles, was ihm neu- und fremdartig erscheint, sucht er sich im Medium der Modellbildung anschauend, beobachtend, interpretierend, vergewissernd anzueignen. Sein Lernen ist ein Lernen an und mit Modellen und sein Handeln wesentlich ein Handeln nach Modellen; denn auch die Antizipation neuer Wirklichkeiten ist nichts anderes als – prospektive – Modellkonstruktion.«62

Als Teil der Wissenschaftstheorie beschäftigt sich die Allgemeine Modelltheorie systematisch mit dem Modellbegriff sowie dem Aufbau und der Verwendung von Modellen. An dieser Stelle sollen Modelle jedoch nur in ihrer Funktion als Nachbildung betrachtet werden, weil nur diese Funktion im Hinblick auf wissenschaftliche Erkenntnis wesentlich ist.

Modelle als Nachbildung eines Originals

Zentral für jedes Modell ist die Funktion einer Abbildung. Bei modellhaften Nachbildungen hat sie die Form einer »Ähnlichkeitsrelation«, die einem Original ein Abbild zuordnet. Original und Modell sind hierbei von ähnlicher Struktur, haben also entsprechende Gemeinsamkeiten im Sinne einer Analogie. Die Anzahl und Relevanz der Gemeinsamkeiten verleihen einem Analog-Modell seinen Wert. In der Praxis gibt es jedoch auch unvermeidbare Unterschiede. So kann das Modell gegenüber dem Original sowohl verkürzt als auch überladen sein.

Das lässt sich gut am Beispiel einer physischen Landkarte veranschaulichen. Die Landkarte bildet eine Landschaft (Original) auf einer illustrierten Papierkarte (Modell) ab. Die Abbildung auf dem Papier hat Ähnlichkeit zur Landschaft, da entsprechende Gemeinsamkeiten vorliegen. Analog der echten Landschaft zeigt die Karte ebenfalls Ortschaften, Straßen, Flüsse, Wiesen, Wälder, Berge und Täler. Allerdings gibt die Karte das Original nur sehr verkürzt wieder. Viele Details fehlen wie beispielsweise einzelne Bäume oder Blumen. Selbst dann, wenn die Karte einzelne Häuser abbildet, vermittelt sie keine Information über deren Bewohner. Eine Karte enthält auch keinerlei dynamische Informationen wie beispielsweise die aktuelle Position eines speziellen Fuchses im Wald. Auf der anderen Seite kann eine Karte aber auch überladen sein. Bei einer Karte aus Papier hat beispielsweise die Papierdicke oder das aufgedruckte Impressum des Kartenherstellers keinerlei Bezug zum Original.

Dieses einfache Beispiel verdeutlicht, dass es verschiedene Möglichkeiten für die Modellierung einer Landschaft gibt, je nachdem welche Aspekte der Landschaft im Zentrum des Interesses stehen. So wird man bei einer Autokarte im Unterschied zu einer Wanderkarte besonderen Wert auf die Abbildung der Straßen legen, die Tankstellen deutlich kennzeichnen und einen entsprechend kleinen Maßstab wählen. Eine topografische Karte bildet hingegen das Höhenprofil der Landschaft in Form von Höhenlinien sehr genau ab.63

Zusammengefasst ist ein Modell nicht nur eine mehr oder weniger gute Nachbildung der Realität, sondern auch ein praktisches Werkzeug, das zumindest Teile einer komplexen Realität greifbar und beschreibbar macht. Der deutsche Kybernetiker Karl W. Steinbuch (1917-2005) meinte zum erkenntnistheoretischen Wert von Modellen: »Die Tatsache, dass Menschen vielfach in Modellen denken, bleibt unverständlich, solange nicht die kommunikative Unzulänglichkeit des Menschen beachtet wird: Das Bewußtsein des Menschen ist zum Verständnis unserer Welt quantitativ (im Sinne der Informationstheorie) unzureichend, zwischen der Komplexität unserer Welt und dem Fassungsvermögen unseres Bewußtseins besteht ein krasses Mißverhältnis. So behilft sich das menschliche Bewußtsein damit, Teilbereiche der Wirklichkeit durch Denkmodelle abzubilden, um wenigstens in Teilbereichen erfolgreich denken zu können.«64

— Wissenschaftler als Modellbauer

Modelle als Abbild der Realität

Modelle haben für die Wissenschaft eine zentrale Bedeutung, weil dadurch die untersuchten Phänomene nachgebildet und begreifbar werden. Ein künstliches Skelett oder ein Planetarium sind einfache Beispiele für Modelle, die reale Gegenstände in Form von anderen realen (Modell-) Gegenständen veranschaulichen. Die Kunststoffknochen des künstlichen Skeletts repräsentieren die Knochen eines Menschen, die gewöhnlich unter der Haut verborgen liegen und machen diese sichtbar und begreifbar. Ähnliches gilt für ein Planetarium, das ein verkleinertes Abbild von großen und weit entfernten Himmelskörpern liefert.

Sprachliche Modelle zur Beschreibung der Realität

Bedeutsamer sind in der Wissenschaft allerdings sprachliche Modelle, die reale Phänomene in Form von Aussagen modellieren.65 Sie übersetzen im Rahmen einer Theorie den untersuchten Gegenstandsbereich mit den darin enthaltenen Entitäten und deren Eigenschaften in theoretische Begriffe. Dies gilt auch für Phänomene der unsichtbaren Realität. Das sprachliche Modell ist ein Vehikel, um eine an sich unzugängliche Wirklichkeit sichtbar zu machen. Der österreichische Philosoph Gerhard Frey (1915-2002) bemerkte im Hinblick auf die Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaft: »Die nach-kantische Philosophie und Naturwissenschaft kann sich der Konsequenz immer weniger entziehen, dass die Hypothesen, die theoretischen Entwürfe der Naturwissenschaften nicht eine an-sich-seiende Wirklichkeit wiedergeben. Sie sind nur Modelle. … Das Modell ist also etwas, mit dem wir anstelle einer nicht fassbaren Wirklichkeit operieren.«66

Wie schon mehrfach erwähnt, besteht die Herausforderung bei der Entwicklung wissenschaftlicher Theorien darin, treffende Erklärungen für die Mechanismen, die sich hinter der sichtbaren Oberfläche der Realität befinden, zu finden. Das wissenschaftliche Modell ist hierbei einerseits Abbild und Stellvertreter der Wirklichkeit, andererseits struktureller Bestandteil der Theorie. Es kann als schematische Repräsentation der Wirklichkeit betrachtet werden, das als Bindeglied zwischen Realität und Theorie fungiert. In aller Regel ist es der Einfachheit halber jedoch legitim, die Begriffe Theorie und Modell synonym zu verwenden.

Allgemeine, idealisierte und spezifische Modelle

Wie erläutert, ist es aufgrund der Komplexität der meisten Phänomene in der Praxis in aller Regel notwendig, zu abstrahieren. Infolgedessen müssen sich Wissenschaftler auf die im gegebenen Kontext vermeintlich relevanten Teile der Realität sowie deren wesentlichen Eigenschaften und Kausalzusammenhänge beschränken. Das Ziel bleibt dabei immer, ein möglichst umfassendes und daher allgemeines Modell der Realität zu bilden.

Sehr ähnlich zur Abstraktion ist die Idealisierung. Sie reduziert die Komplexität des Sachverhalts auf das Nötigste, indem bei der Anwendung allgemeiner Modelle auf spezielle Situationen bewusst Vereinfachungen vorgenommen werden. Dieser praktische Kniff entspricht einer Näherung für die sonst sehr viel kompliziertere Beschreibung des allgemeinen Problems, das dadurch leichter greifbar und handhabbar wird. Mittels einer Idealisierung werden bekannte Einflussfaktoren, die im gegebenen Kontext vermeintlich geringe Auswirkungen haben, bewusst vernachlässigt. So reicht es beispielsweise aus, die Erde idealisiert als Massepunkt aufzufassen, um ihre Bewegung um die Sonne zu beschreiben. Sollen hingegen Effekte auf der Erdoberfläche beschrieben werden, die infolge der Erdrotation entstehen, wäre diese Idealisierung vollkommen ungeeignet.

Auch bei komplizierten mathematischen Formalismen ist es häufig möglich, Näherungsverfahren zu verwenden, um die Berechnung quantitativer Effekte zu vereinfachen. Da sich wissenschaftliche Theorien sehr häufig auf unsichtbare Teile der Realität beziehen, ist allerdings im Allgemeinen gar nicht klar, inwieweit ein gewähltes Modell vereinfacht oder überladen ist. Spätestens dann, wenn eine theoretische Vorhersage formuliert werden soll, um sie beobachten zu können, sind alle relevanten Rahmenbedingungen exakt festzulegen und die Gesetzmäßigkeit auf diese anzuwenden. Man spricht dann von einem spezifischen Modell.

Die unterschiedlichen Ebenen von allgemeinen, idealisierten und spezifischen Modellen sind in Abbildung 12 im Rahmen des HO-Schemas veranschaulicht.


Abb.12: Wissenschaftliche Modelle im HO-Schema

Man erkennt, dass sich die verschiedenen Stufen eines Modells durch eine Differenzierung der Randbedingungen in grundlegende Annahmen, Idealisierungen und konkrete Spezifizierungen ergeben.

— Wahrheit und Anschaulichkeit

Ist Anschaulichkeit ein Wahrheitskriterium?

Der Mensch liebt es anschaulich. Je anschaulich etwas ist, desto leichter ist es begreifbar. Ideal ist es, wenn sich die Realität anhand der Eigenschaften eines anschaulichen Analog-Modells darstellen lässt. Im Weltbild der klassischen Physik war diese Situation zumeist gegeben. So äußerte sich in diesem Zusammenhang der britische Physiker Lord Kelvin (1824-1907) einmal wie folgt: »Ich begnüge mich nie ohne mechanisches Modell; wenn ich mir ein solches Modell machen kann, verstehe ich die Theorie, so lange ich kein Modell habe, verstehe ich sie nicht.«67 Seit der Zeit Kelvins hat sich jedoch vieles verändert.

Die Welt ist ihrer Natur nach nicht anschaulich

Je tiefer die Wissenschaftler in die einzelnen Wissensgebiete eindrangen, desto fremder wurde die sich dort auftuende Welt im Vergleich zu der Welt, wie wir sie an der Oberfläche tagtäglich erleben. So sind beispielsweise in der Physik die heutigen Modelle mathematischer Natur und in ihrer allgemeinen Form längst nicht mehr anschaulich. So wünschenswert anschauliche Modelle für unsere Art zu denken auch sind, so wenig kann Anschaulichkeit heute als Qualitätsmerkmal gelten. Allerdings werden unsere abstrakten, allgemeinen Modelle bei der Anwendung auf einen speziellen Kontext durch Idealisierung und etwaige Spezifikation manchmal wieder so konkret, dass sich hierfür anschauliche Modelle finden lassen.

Ein bekanntes Beispiel aus der Physik betrifft die Natur elektromagnetischer Wellen in Form von sichtbarem Licht. Gemäß der allgemeinen Theorie der Quantenphysik erfolgt die Beschreibung von Licht in Form eines abstrakten mathematischen Formalismus. Angewendet auf spezielle Bedingungen nehmen diese mathematischen Gleichungen je nach Kontext eine Form an, wie sie für die Beschreibung einer mechanischen Welle beziehungsweise eines Teilchens gelten. Aufgrund dieser unvereinbaren Erscheinungsformen - man spricht hier vom »Welle-Teilchen-Dualismus« - lässt sich Licht als solches nicht mehr anschaulich begreifen. Bezogen auf einen konkreten Kontext kann man sich Licht dennoch im Sinne eines anschaulichen Analog-Modells aus der uns vertrauten Welt, je nach Rahmenbedingung, sehr gut als Wasserwelle beziehungsweise als Kugel vorstellen.

Anschaulichkeit ist kein Gütekriterium von Modellen

Die Einsicht, dass das Universum in seinem Inneren nicht mehr anschaulich vorstellbar ist, überträgt sich auf unsere Modelle der Realität. Das bedeutet, dass Anschaulichkeit als solche kein Kriterium für eine gute Theorie sein kann. Das heißt aber keineswegs, dass unsere Theorien deshalb unpräzise sein müssen. Im Gegenteil: Die mathematischen Formalismen unserer besten Theorien sind so genau, dass sich daraus sogar bis dato unbekannte Beobachtungen exakt vorhersagen lassen. Der deutsche Physiker Hans Christian von Baeyer (*1938) fasst den Sachverhalt mit den folgenden Worten zusammen: »Im Wortschatz der Physik ist das ›Modell‹ eng verwandt mit dem Begriff der Analogie. Zwar sind die mechanischen Modelle früherer Generationen den mathematischen Modellen gewichen, aber die Idee ist die gleiche geblieben. Ein wissenschaftliches Modell ist ein künstliches Konstrukt, das als Analogon für eine Naturerscheinung dient. Es ist einfacher, besser zu verstehen und, wie ein maßstabsgerechtes Schiffsmodell, leichter zu handhaben als das Original. Man kann es angleichen und verfeinern, bis seine Eigenschaften die empirischen Beobachtungen so genau widerspiegeln, dass man seiner Vorhersagekraft vertrauen kann.«68

KURZFASSUNG

Ein wesentliches Merkmal der Wissenschaft ist, dass sie sich vom Ideal absoluter Gewissheit verabschiedet hat. Die beiden Ideale Wahrheit und Beweisbarkeit wurden voneinander entkoppelt und das unerreichbare Ziel, absolut wahre Theorien zu finden, durch die Etablierung eines dynamischen Lernprozesses ersetzt. Dabei haben sich bestimmte strukturelle Anforderungen bewährt, die eine wissenschaftliche Theorie erfüllen muss. Neben der Fähigkeit, allgemeine und zum Teil unsichtbare Prinzipien und Ursachen aufzudecken, gehören hierzu auch eine logisch-stringente Darstellung sowie die Möglichkeit, die Theorie intersubjektiv überprüfen zu können. Insbesondere letztere Eigenschaft macht eine Theorie kritisierbar und dadurch verbesserungsfähig. Die Wissenschaft strebt damit nicht nach absoluter Wahrheit, sondern versucht fortlaufend leistungsstarke und verbesserungsfähige Theorien zu finden, welche die Realität zusehends besser erklären.

Wissenschaftliche Theorien entsprechen konstruierten Modellen der Realität, das heißt Abbildern der Realität, welche diese mehr oder weniger gut widerspiegeln. Da wissenschaftliche Erklärungen häufig auch unsichtbare Teile der Realität betreffen, bleibt jede Theorie notgedrungen hypothetisch. Die Komplexität der Realität macht es überdies in aller Regel notwendig, zu abstrahieren. Dies bedeutet, dass sich der Wissenschaftler bei seinen modellhaften Erklärungen auf die vermeintlich wesentlichen Merkmale eines Phänomens beschränken muss. Erwähnenswert ist, dass sich nicht unmittelbar erkennen lässt, inwieweit die von uns Menschen konstruierten Modelle die Realität tatsächlich angemessen widerspiegeln. Aufgrund der Natur des wissenschaftlichen Lernprozesses und des praktischen Erfolgs der Wissenschaft ist es aus wissenschaftstheoretischer Sicht jedoch vernünftig, anzunehmen, dass sich unsere Modelle im Laufe der Zeit der Realität immer stärker annähern.

Die Erfahrung zeigt, dass die besten wissenschaftlichen Theorien sehr kompakt formuliert sind. Dies liegt nicht zuletzt an deren gesetzesartigen Struktur, die als Hauptmerkmal einer wissenschaftlichen Erklärung anzusehen ist. Tatsächlich ist es vor allem das Wissen um die fundamentalen Gesetzmäßigkeiten der Realität, welches die Wissenschaftler in die Lage versetzt, die Wirklichkeit sehr genau zu verstehen und verschiedene Phänomene vorhersagen zu können. Dieses gesetzesartige Wissen ist auch die Grundlage sämtlicher praktischen Anwendungsfälle und die Ursache für unsere erstaunlichen technischen Errungenschaften.

Das folgende Kapitel behandelt den Kern wissenschaftlicher Methodik – den Prozess, der vom Problem zum erklärenden Modell führt.

Eckpfeiler einer reifen Weltsicht

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