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7 Empirismus

Aus Erfahrung klug

Ein Biologe, ein Physiker und ein Mathematiker haben Urlaub und sind auf einer Zugreise durch Schottland. Im Vorbeifahren sehen sie ein schwarzes Schaf auf einer Weide grasen. Der Biologe sagt: »Aha, in Schottland sind die Schafe schwarz.« Der Physiker verbessert: »Das ist nicht ganz korrekt. In Schottland gibt es schwarze Schafe.« Der Mathematiker seufzt: »In Schottland gibt es auf mindestens einer Weide mindestens ein Schaf, was auf mindestens einer Seite schwarz ist. MATHEMATIKER-WITZ

Stellen Sie sich vor, Sie verbringen ein paar Urlaubstage in einer kleinen Pension in den Bergen. In der Früh nehmen Sie im Halbschlaf das Krähen eines Hahns wahr, bevor Sie kurz darauf von den direkt auf Ihr Gesicht fallenden Sonnenstrahlen geweckt werden. Sie springen aus dem warmen Bett und öffnen das Fenster. Die Morgenluft schlägt Ihnen angenehm kühl entgegen. Sie genießen für einen Augenblick das Zwitschern der Vögel und den Blick auf die im Sonnenlicht glitzernden Berggipfel. Aus der Gaststube im Erdgeschoß dringen Geräusche nach oben. Es riecht nach frischem Brot und Kaffee. Sie freuen sich auf das Frühstück und den anstehenden Ausflug.

Jeder von uns kann die beschriebenen Sinneseindrücke nachempfinden. Sofern wir körperlich gesund sind, können wir alle sehen, hören, riechen, tasten und schmecken. Über diese fünf äußeren Sinne machen wir unmittelbare Erfahrungen, über deren Realität kein Zweifel besteht. Zeigt Ihnen jemand einen konkreten Gegenstand, beispielsweise ein Auto oder einen Baum, so werden Sie diesen ebenfalls sehen. Knallt es unvermittelt, werden andere Anwesende vermutlich ebenso zusammenzucken wie Sie. Das Anfassen eines heißen Topfes ist für alle Menschen ähnlich schmerzhaft und eine raue Oberfläche wird gleichermaßen als rau wahrgenommen. Auch der Geschmackssinn scheint bei allen Menschen sehr ähnlich zu sein. So wird jeder, unabhängig von persönlichen Vorlieben, Salz als salzig, eine Zitrone als sauer, Wermut als bitter und Zucker als süß empfinden.

Im Gegensatz zu allgemeinen Prinzipien scheint es relativ einfach zu sein, über konkrete Sinneserfahrungen intersubjektive Einigkeit erzielen zu können. Sämtliche Erkenntnisse und Begründungen auf der Basis sehr konkreter und unstrittiger Erfahrungswerte aufzubauen, stellt damit eine vielversprechende philosophische Strategie dar. Genau dies war der Plan der Empiriker.

— Beobachtungsaussagen

Erfahrung in Worte gekleidet

Ein wesentliches Merkmal der rationalistisch geprägten Vorgehensweise war, dass sie die Erfahrung gegenüber der Vernunft völlig vernachlässigte. In einer Geschichte wird erzählt, dass Aristoteles einmal ebenso ausführlich wie stringent bewiesen habe, dass seine Frau über genau 42 Zähne verfüge. Es wäre ihm gar nicht in den Sinn gekommen, ihr in den Mund zu schauen und die Zähne zu zählen. Wozu auch? Seine Beweisführung hätte schließlich unwiderleglich gezeigt, dass es nicht mehr und nicht weniger als 42 sein konnten.47

Der Empirismus als Gegenentwurf zum Rationalismus

Der Empirismus, vom Lateinischen »empiricus« (der Erfahrung folgend), umgeht das Manko vernachlässigter Erfahrungswerte und bildet damit einen Gegenentwurf zum Rationalismus. Als Begründer des (englischen) Empirismus zählen die englischen Philosophen Francis Bacon (1561-1626) und John Locke (1632-1704). Vertieft und ausgebaut wurden ihre Überlegungen später vom schottischen Philosophen, Ökonomen und Historiker David Hume (1711-1776). Weil es unmöglich sei, aufgrund rein logischer Überlegungen relevante Erkenntnisse über die Realität zu erlangen, könne allein die Erfahrung als Basis für ein Verständnis von der Welt dienen. Stegmüller schreibt über diesen Angriff der Empiriker auf den Rationalismus: »In der schärfsten Form ist der Gegenschlag vom englischen Philosophen David Hume geführt worden. Er unterschied zwischen logischen Erkenntnissen und Tatsachenerkenntnissen und wies darauf hin, daß man mit Hilfe rein logischer Analysen und Deduktionen niemals ein Wissen um Tatsachen gewinnen könne, vielmehr muß sich jedes Tatsachenwissen auf Beobachtungen stützen. Da nun aber alles Wissen um unsere Welt ein Tatsachenwissen darstellt, muß daher auch unsere gesamte Welterkenntnis empirisch verankert sein.«48 Gemäß dem Empirismus ist der rationale Zugang zur Realität grundsätzlich zum Scheitern verurteilt.

Die Beobachtung als Startpunkt der Erkenntnis

Ausgangslage des empirischen Erkenntnisprozesses bilden Aussagen, die sich unmittelbar aus der Erfahrung ergeben, sogenannte Beobachtungsaussagen. Diese gewinnen wir in erster Linie direkt über unsere Sinnesorgane, die gegebenenfalls durch entsprechende technische Instrumente erweitert werden, so beispielsweise durch ein Mikroskop oder einen Detektor. Im Fokus des Empirismus stehen daher nicht synthetische Urteile a priori, sondern synthetische Urteile a posteriori, vom Lateinischen »posterior« (der spätere). Zentral für dieses Konzept sind Aussagen über die Realität, die sich aus entsprechenden Beobachtungen ableiten.

Da konkrete Erfahrungen als unmittelbar einsichtig gelten, sollte sich über deren Wahrheitsgehalt sehr viel leichter objektive Einigkeit erzielen lassen als über die abstrakten und allgemeinen Axiome im Rahmen des deduktiven Verfahrens. So gilt die Wahrheit der Aussage »Diese Katze hat zwei Augen« als sehr einfach überprüfbar im Unterschied zur allgemeinen Behauptung »Alle Katzen haben zwei Augen«. Von den vielen existierenden Katzen können uns immer nur wenige Exemplare bekannt sein. Eine konkrete Katze lässt sich hingegen anschauen und gegebenenfalls anfassen, um die Beobachtungsaussage zweifelsfrei zu überprüfen.

Der Empirismus trägt dem Münchhausen-Trilemma Rechnung, indem von einer endlichen Anzahl von Erfahrungen ausgegangen wird, die als Fakten betrachtet und in Form von Beobachtungsaussagen festgehalten werden. Um Erkenntnisse über die Welt zu erlangen, gilt es nun, ein Verfahren zu finden, mit dem aus Beobachtungsaussagen weitere Aussagen abgeleitet werden können. Francis Bacon war der erste, der in seinem Novum Organon (1620) eine Theorie für eine induktive Methode formulierte. Wie wir noch sehen werden, bezeichnet hier die Induktion, vom Lateinischen »inducere« (herbeiführen), in Abgrenzung zur Deduktion, eine abstrahierende Schlussfolgerung. Inspiriert von Galileis Erkenntnissen über die Wichtigkeit des Experimentes machte Bacon in seinem Werk Beobachtungsaussagen und darauf aufbauende Schlussfolgerungen zur Grundlage von Wissenschaft und Philosophie.

Da den Beobachtungsaussagen als Basis der empirischen Erkenntnisgewinnung eine zentrale Bedeutung zukommt, wollen wir zunächst deren Natur etwas genauer unter die Lupe nehmen. Sind unsere Beobachtungen tatsächlich über jeden Zweifel erhaben und können sie als gesicherte Fakten angesehen werden? Betrachten wir hierzu die Quelle für Beobachtungsaussagen: die menschliche Sinneswahrnehmung.

— Sinneswahrnehmung

Vom Sinnesreiz zur Beobachtungsaussage

Unsere Sinne vermitteln uns zahlreiche Informationen über unsere Umwelt und sind ein wesentliches Tor zur Welt. Das Sehen nimmt zumeist die Hauptrolle ein, gefolgt von Hören und Tasten. Unsere Sinnesorgane und ihr Zusammenspiel bilden einen wesentlichen Teil des menschlichen Wahrnehmungskanals.

Stufen der Wahrnehmung

Im Rahmen der Kognitionswissenschaften werden Sinne und Sinneswahrnehmung systematisch untersucht. An dieser Stelle soll nur das Grundprinzip des sinnlichen Wahrnehmungsprozesses anhand eines einfachen, in der Abbildung dargestellten Sender-Empfänger-Modells schematisch erläutert werden.


Abb.8: Menschliche Sinneswahrnehmung (schematisch)

Wenn ein Mensch (Subjekt) etwas wahrnimmt, erfolgt dies dadurch, dass die vom betroffenen Objekt ausgehenden Signale den menschlichen Wahrnehmungskanal durchlaufen und dadurch eine entsprechende Vorstellung des Objekts erzeugen. Sämtliche Signale führen dabei über einen dreistufigen Prozess innerhalb unseres Wahrnehmungsapparates zu einem Sinneseindruck, beispielsweise in Form eines inneren Bildes. Die drei Stufen umfassen die Selektion, die Verarbeitung und schließlich die Interpretation der vom Objekt ausgehenden Signale.

Der Selektionsprozess

In der ersten Stufe findet ein Auswahlprozess statt. Das rührt daher, dass unsere Sinnesorgane nur für einen Teil der grundsätzlich verfügbaren Informationen empfänglich sind. Alles andere wird nicht registriert und bleibt für unsere Sinne gewissermaßen unsichtbar.

So kann beispielsweise unser Sehvermögen nur einen Teil des Spektrums elektromagnetischer Wellen optisch wahrnehmen. Hierzu gehören die Farben Grün oder Gelb des sichtbaren Farbspektrums, nicht jedoch Ultraviolette oder Röntgenstrahlung. Ebenso erzeugen nicht alle Schallwellen einen akustischen Sinneseindruck. So können wir beispielsweise im Gegensatz zu vielen Tieren hohe Frequenzen im Ultraschallbereich nicht hören. Gleiches gilt für alle anderen Sinne. Diese Beispiele zeigen, dass uns über die Sinne nur ein Teil der Realität direkt zugänglich ist.

Allerdings ermöglicht uns die Technik mittlerweile in vielen Fällen, unsere Organe zu »verlängern« und dadurch den wahrnehmbaren Bereich der Realität zu vergrößern. Diese Erweiterung der Sinne entspricht einer indirekten Wahrnehmung, die rechts in der Abbildung skizziert ist. Der Unterschied zu einer direkten Wahrnehmung besteht darin, dass nicht die Wirkung des Objekts selbst, sondern die Wirkung, welche dieses auf ein weiteres Objekt ausübt, in unseren Wahrnehmungsapparat gelangt. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn wir ein sehr kleines Objekt durch ein Mikroskop betrachten oder Röntgenstrahlung mithilfe eines Detektors sichtbar machen.

Die Verarbeitung der erfassten Signale

In der zweiten Stufe des Wahrnehmungsprozesses werden die erfassten Signale verarbeitet. Im Falle des Sehens wird beispielsweise das Licht durch Hornhaut, Linse und Glaskörper unseres Auges hindurch auf die Netzhaut geleitet. Dort wird es in den Zäpfchen (Farbe) und Stäbchen (Helligkeit) in elektrische Impulse umgewandelt und über verschiedene Nervenleitungen ins Gehirn übertragen.

Abhängig von der Art und Weise, wie die Verarbeitung der verschiedenen Sinneseindrücke in unseren Sinnesorganen erfolgt, sind Veränderungen oder Verluste der ursprünglichen Signale zu erwarten. Wie beim Kinderspiel »Stille Post«, bei dem ein Satz flüsternd von einem zum anderen weitergegeben wird, ist es auch hier möglich, dass die ursprüngliche Botschaft deutlich verändert am Ende der Übertragungskette ankommt.

Die Interpretation der Sinnesreize

Im letzten Schritt werden die verarbeiteten Sinnesreize interpretiert. Dadurch manifestiert sich der Sinneseindruck, beispielsweise in Form eines optischen Bildes in unserer Vorstellung. Wie wir wissen, erfolgt die Interpretation nicht isoliert, sondern ist maßgeblich von unserem Vorwissen und unseren bisherigen Erfahrungen geprägt. So kann das visuell wahrgenommene Glitzern einer Straße bei großer Hitze, je nach Erfahrung und Wissen, entweder als Luftflimmern oder als Nässe gedeutet werden.

Im Zuge der Interpretation unserer Sinneseindrücke fällt auch die Entscheidung, welche als relevant betrachtet werden und in unser Bewusstsein gelangen sollen. Folgen wir beispielsweise mit den Augen konzentriert einem bestimmten Gegenstand, so werden Teile der Umgebung, obwohl sie sich im Gesichtsfeld befinden, ausgeblendet. Ähnlich verhält es sich, wenn wir bestimmte Hintergrundgeräusche nach einiger Zeit nicht mehr bewusst wahrnehmen.

Die Fehleranfälligkeit des menschlichen Wahrnehmungskanals

Schon die Struktur des eben geschilderten Sender-Empfänger-Modells lässt vermuten, dass unsere Wahrnehmung über die Sinne nicht perfekt ist. Auf jeder der drei vorgestellten Modell-Stufen können Defizite und Verfälschungen auftreten, die unseren Blick auf die Realität verzerren. Es ist daher unmöglich, die Realität über die Sinne unmittelbar in einem 1: 1-Verhältnis zu erkennen. Im Allgemeinen werden wir nur einen Teil der Wirklichkeit erfassen und diesen auch nur in Form eines mehr oder weniger verzerrten Bildes in unserer Vorstellung. Denn immer können die Auswahl der Eingangsdaten ungenügend (Selektivität), die Informationen vom Wahrnehmungsapparat verfälscht worden (Verarbeitung) oder Fehler bei der Deutung und Bewertung der Informationen (Interpretation) aufgetreten sein. Diese Einsicht in physiologische Vorgänge bestätigt die philosophisch motivierte Ablehnung des naiven Realismus zugunsten der Annahme eines gemäßigten Realismus.49

Auch beim denkbar einfachsten Gegenstand ist unser inneres Bild immer abhängig vom Gegenstand selbst (Objekt) wie auch von unserem Wahrnehmungsapparat (Subjekt). Anders als erhofft, ist die über die Sinne gewonnene Erkenntnis nicht absolut, sondern kontextabhängig. Der menschliche Wahrnehmungsapparat, gegebenenfalls unterstützt durch technische Hilfsmittel, bildet einen wesentlichen Teil des Kontexts.

Was bedeutet dies für den empirischen Erkenntnisansatz? Ist er damit zum Scheitern verurteilt? Um die Auswirkungen der offensichtlichen Fehleranfälligkeit unserer Sinne auf die Güte von Beobachtungsaussagen bewerten zu können, müssen wir uns noch etwas detaillierter mit dem Phänomen der Kontextabhängigkeit unserer Sinneswahrnehmung beschäftigen.

— Der theoriegeladene Blick

Die Kontextabhängigkeit unserer Wahrnehmung

Kennen Sie das? Sie werden eines Tages auf ein bestimmtes Automodell aufmerksam, das Sie vorher nie bewusst wahrgenommen haben. Just von diesem Zeitpunkt an haben Sie den Eindruck, dass dieser Autotyp überproportional häufig auf den Straßen vertreten ist. Dies rührt daher, dass man Dinge, auf die man fokussiert ist, besonders häufig und klar wahrnimmt. Noch wichtiger in Bezug auf die Erkennbarkeit der Realität ist jedoch der umgekehrte Effekt: Dinge, die wir nicht im Fokus haben oder nicht erwarten, werden häufig übersehen oder ignoriert.

Das Gorilla-Experiment

Dieses Phänomen zeigt sich sehr eindrucksvoll im sogenannten »Gorilla-Experiment«, welches von den amerikanischen Psychologen Christopher Chabris (*1966) und Daniel Simons (*1969) im Jahre 1999 durchgeführt wurde.50 Versuchspersonen wurden gebeten, sich eine etwa eineinhalb Minuten lange Videosequenz anzusehen, in der sich ein weiß und ein schwarz gekleidetes Team, bestehend aus je drei Personen, jeweils einen Basketball zuwerfen. Vor der Videovorführung erhielten die Probanden einen denkbar einfachen Arbeitsauftrag: Sie sollten die Ballwechsel des weißen Teams zählen. Die Ballkontakte des schwarzen Teams spielten für die Aufgabe keine Rolle. Im Anschluss an das Video konnten die Teilnehmer, wenig überraschend, fast ausnahmslos die richtige Anzahl nennen.

Im Anschluss wurde allerdings noch eine weitere Frage gestellt, die auf das eigentliche Experiment abzielte. Die Teilnehmer sollten sagen, ob ihnen beim Betrachten der Filmsequenz etwas Ungewöhnliches aufgefallen sei. Weniger als die Hälfte der Befragten bejahten die Frage. Dies war in der Tat erstaunlich: Offenbar hatte über die Hälfte der Beobachter den Auftritt einer Person in einem schwarzem Gorillakostüm nicht bemerkt. Der Auftritt des »Gorillas« erfolgte nach etwa 30 Sekunden und dauerte knapp 10 Sekunden. Er marschierte von rechts in die Bildmitte, wandte sich den Zuschauern zu und klopfte sich mit beiden Fäusten auf die Brust, bevor er den Bildausschnitt links wieder verließ.

Das Gorilla-Experiment gilt als eindrucksvoller Beleg für die Kontextabhängigkeit der menschlichen Wahrnehmung. So kann sich offenbar etwas sehr Ungewöhnliches oder Auffälliges direkt vor unseren Augen abspielen, ohne dass wir es wahrnehmen. Die Wahrscheinlichkeit hierfür ist besonders hoch, wenn das Ereignis im gegebenen Kontext nicht erwartet wird oder wir auf etwas gänzlich anderes fokussiert sind.

Interessant an diesem Experiment ist darüber hinaus, dass zahlreiche Versuchspersonen selbst dann, als man sie auf ihren Wahrnehmungsfehler hinwies, vehement darauf beharrten, dass in der Filmsequenz, die ihnen gezeigt wurde, kein Gorilla zu sehen gewesen wäre. Dies lässt erkennen, dass wir zuweilen sogar gegenüber unserer eigenen Blindheit blind sind.

Weitere Tücken des menschlichen Wahrnehmungskanals

In der folgenden Abbildung ist die Kontextabhängigkeit unserer Wahrnehmung beispielhaft anhand von drei optischen Phänomenen illustriert.


Abb.9: Die Kontextabhängigkeit menschlicher Wahrnehmung

Der erste Fall (links) stellt eine bekannte optische Täuschung dar. So wird üblicherweise der obere der beiden schraffierten Kreise größer eingeschätzt, obwohl beide Kreise exakt gleich groß sind. Die Täuschung unserer Wahrnehmung rührt in diesem Falle daher, dass durch die unterschiedliche Größe der umliegenden Kreise ein jeweils anderer Kontext hergestellt wird, der unser Größenempfinden beeinflusst.

Beim zweiten Beispiel (Mitte) wird dem Betrachter bei der waagrechten Zeichenfolge, vor allem wegen des »A«, ein Buchstaben-Kontext vorgegeben. Daher wird das mittlere Zeichen gewöhnlich als »B« interpretiert. Hingegen suggeriert die senkrechte Symbolfolge einen Zahlen-Kontext. Infolgedessen wird das mittlere Symbol üblicherweise als »13« interpretiert. Man sieht: Je nach Kontext wird dasselbe Zeichen einmal als »B« und einmal als »13« wahrgenommen.

Im letzten Beispiel (rechts) ist ein sogenanntes Vexierbild zu sehen. Ein Vexierbild ist so konstruiert, dass je nach Blickwinkel unterschiedliche Bildinhalte vermittelt werden. Im vorliegenden Beispiel erkennt der Betrachter entweder einen Hasen oder eine Ente. Solange wir den Hasen sehen, ist die Ente verborgen, und umgekehrt. Übertragen auf unsere Wahrnehmungsfähigkeit im Allgemeinen bedeutet dies, dass jemand, der im Hasen-Kontext auf die Realität blickt, die gleichzeitig vorhandene Ente tendenziell nicht wahrnehmen wird.

Die Theoriegeladenheit menschlicher Wahrnehmung

Die Kontextabhängigkeit menschlicher Wahrnehmung hat noch eine weitere Dimension. So kann der Kontext, in dem ein Sinneseindruck interpretiert wird, in Ergänzung zu den bisher genannten Beispielen auch von begrifflicher oder theoretischer Art sein. Das liegt daran, dass Beobachtungsaussagen zwar definitionsgemäß singuläre Sätze sind, in der Regel aber zusätzlich theoretische Konzepte beinhalten. Diese stellen quasi Mini-Theorien dar, die nicht Teil der Erfahrung selbst sind.

Zur Erläuterung ein Beispiel: Die Beobachtungsaussage »Dort steht ein schwarzer Koffer« wirkt unscheinbar, setzt aber voraus, dass das Konzept eines Koffers bekannt ist. Im Unterschied zu einem massiven Block, hat ein Koffer beispielsweise die Eigenschaft, dass er innen hohl ist und mit Gepäck gefüllt werden kann. Jemand, der das Konzept Koffer nicht kennt, wird dessen äußere Gestalt zwar wie alle anderen Betrachter sehen, aber ein wesentliches Merkmal der Aussage nicht begreifen können. Auch werden ihm die Transportgriffe des Koffers als merkwürdige »Anhängsel« erscheinen, weil sich diese ohne entsprechendes konzeptionelles Vorwissen nicht vollständig erschließen.

Betrachten wir noch ein Beispiel aus der Wissenschaft in Form der Aussage: »Der Planet Jupiter hat mehrere Monde.« Da die Jupitermonde nicht mit bloßem Auge, sondern nur mittels entsprechender Vergrößerung sichtbar werden, kann die obige Beobachtungsaussage erst mit Hilfe eines Teleskops getroffen werden. Die Richtigkeit der Beobachtungsaussage steht und fällt daher damit, dass der Betrachter das Konzept eines Teleskops verstanden hat und ein gewisses theoretisches Grundverständnis der optischen Gesetze besitzt. Andernfalls wäre dem Beobachter gar nicht klar, dass die im Teleskop erkennbaren Lichtpunkte mit den Jupitermonden zu identifizieren sind.

Hieraus lässt sich erkennen, dass Beobachtungsaussagen nicht nur vom Kontext unserer Wahrnehmung abhängen, sondern zusätzlich auch noch theoriegeladen sind. Beobachtungsaussagen sind demnach immer in einen begrifflichen und theoretischen Kontext eingebettet.

Konsequenzen für die Formulierung von Beobachtungsaussagen

Sämtliche der genannten Überlegungen machen deutlich, dass unsere Wahrnehmung zahlreichen Tücken ausgesetzt ist. Daher dürfen wir unserem Wahrnehmungsapparat keinesfalls blind vertrauen und können unsere Sinneseindrücke nicht unreflektiert für bare Münze nehmen. Die Fehleranfälligkeit unserer Sinneswahrnehmung ist in Bezug auf die Güte von Beobachtungsaussagen im Rahmen des empirischen Erkenntnisansatzes aber nicht so kritisch, wie es auf den ersten Blick scheint, sofern wir uns der Gefahr bewusst sind und entsprechende Vorkehrungen treffen. Fassen wir hierzu die drei Stufen der Wahrnehmung noch einmal kurz zusammen:

Dass wir die Welt nur selektiv wahrnehmen können, ist eine Tatsache, die wir akzeptieren müssen. Vermutlich werden wir niemals wissen, wie viel von der Welt uns Menschen dauerhaft verborgen bleibt. Auf der anderen Seite hat uns die fortlaufende Entwicklung technischer Instrumente erlaubt, den für uns zugänglichen Teil der Realität stetig zu vergrößern. Im Hinblick auf die Zuverlässigkeit unserer Beobachtungen ist unser selektiver Blickwinkel jedoch nachrangig, weil es in diesem Fall nur um die Qualität des tatsächlich Wahrgenommenen und die damit verbundene korrekte Beschreibung geht.

Kommen wir zur Fehleranfälligkeit, die durch die Verarbeitung unserer Sinneseindrücke entsteht: Da die Sinnesorgane bei allen Menschen sehr ähnlich sind, ist davon auszugehen, dass sich, anders als bei der »stillen Post«, sämtliche Verfälschungen der Signale für alle Menschen mehr oder weniger gleich darstellen. Infolgedessen ist trotz eines möglicherweise verzerrten Bildes der Realität eine gemeinsame Basis gegeben und die Beobachtungen sind damit intersubjektiv diskutier- und bewertbar.

Innerhalb des dreistufigen Prozesses lauern die größten Fallstricke bei der Interpretation unserer Wahrnehmung. Hier müssen wir uns gewahr sein, dass sich der gleiche Sachverhalt je nach Kontext mitunter völlig anders darstellen kann. Viele Täuschungen lassen sich umgehen, wenn man sich nicht auf die subjektive Wahrnehmung verlässt, sondern objektive Maßstäbe anlegt. So mögen die schraffierten Kreise in der Abbildung unterschiedlich groß erscheinen, aber eine Messung schafft hier schnell Klarheit, dass dem nicht so ist. Unser Vorwissen und unsere Vorurteile beeinflussen sehr stark das, was wir wahrnehmen. Diese Verzerrung kann dadurch vermieden werden, dass wir uns über den jeweiligen Kontext verständigen und dadurch unsere Beobachtung objektivieren. Hierzu gehört es auch, sicherzustellen, dass die im jeweiligen Kontext verwendeten Konzepte allen Beteiligten bekannt sind. Darüber hinaus ist der Umstand, dass wir bei unseren Beobachtungen Teile der Realität ausblenden - selbst dann, wenn dies kollektiv geschieht - im Hinblick auf die Verlässlichkeit konkreter Beobachtungsaussagen weniger kritisch, als vielleicht zu vermuten wäre. Die Tendenz, Teile auszublenden, bewirkt zwar, dass unser Bild von einer bestimmten Situation unvollständig ist - man denke an den Gorilla - sie ändert aber nichts an der Korrektheit der getroffenen Beobachtungsaussage. So bleibt die Aussage »Das weiße Team hatte 15 Ballwechsel« richtig, egal, ob der Gorilla wahrgenommen wurde oder nicht.

Quasi-objektive Beobachtungsaussagen sind möglich

Der historische Blick auf die Evolution des Menschen unterstützt die Einschätzung, dass unsere Wahrnehmungsfähigkeit hinreichend genau ist, um zu verlässlichen Beobachtungsaussagen zu gelangen. So zeigt die Erfahrung, dass Menschen in vielen Fällen sehr ähnlich wahrnehmen und interpretieren. Allein die Tatsache, dass die Menschheit noch nicht ausgestorben ist, kann als klarer Hinweis auf eine sehr brauchbare Qualität unseres Wahrnehmungsapparates gedeutet werden. Hätten unsere Vorfahren Gefahren wie Feuer oder wilde Tiere nicht anhand von Geruch oder Geräuschen realistisch eingeschätzt, hätten sie auf Dauer wohl kaum überlebt. Die mangelnde Fähigkeit, UV-Strahlung sehen zu können, war hingegen von zweitrangiger Bedeutung.

Ebenso deuten unsere wissenschaftlichen Erkenntnisse darauf hin, dass sich unser Wahrnehmungsapparat im Laufe der Evolution so entwickelte, dass er relativ gut auf denjenigen Teil der Realität abgestimmt ist, dem wir im Alltag begegnen. Vermutlich ist es kein Zufall, dass der Mensch die Fähigkeit hat, relevante Informationen von irrelevanten zu trennen sowie die aufgenommenen Daten so zu verarbeiten und zu interpretieren, dass eine effektive Orientierung in der Welt möglich ist.

Es bleibt festzuhalten, dass unsere Wahrnehmung nicht perfekt, sondern selektiv, fehleranfällig und theoriegeladen ist. Deshalb den erkenntnistheoretischen Realismus zugunsten einer vorwiegend konstruktivistischen Sichtweise aufzugeben, ist jedoch nicht angebracht. Vielmehr ist sicherzustellen, dass Beobachtungen, die für weitergehende Erkenntnisse relevant sind, hinreichend präzise beschrieben und die benötigten Begriffe und Konzepte allen Beteiligten vertraut sind. Wenn dies gelingt, können Beobachtungsaussagen als quasi-objektiv angesehen werden. Sie geben dann im gegebenen Kontext ein Abbild der sichtbaren Realität, das intersubjektiv überprüft werden kann.

— Erweiterungsschlüsse

Vom Konkreten zum Allgemeinen

Die Sicherstellung der Objektivität von Beobachtungsaussagen ist im Rahmen des empirischen Erkenntnisprozesses erst die halbe Miete. Für sich genommen stellen Beobachtungsaussagen nur eine sehr begrenzte Form von Erkenntnis dar, weil sie bestenfalls eine genaue Beschreibung der sichtbaren Realität liefern. Wie wir wissen, sind es aber vor allem allgemeine Wahrheiten oder das Verständnis unsichtbarer Phänomene, die zum fulminanten Wissensfortschritt führten. Die Beobachtung, dass sich ein Gedächtniskünstler in einer Minute 100 Begriffe merken kann, mag bemerkenswert sein. Weitaus interessanter wäre jedoch eine Erklärung dieser ungewöhnlichen Leistung. In diesem Fall würde beispielsweise erst das Verständnis der mit der Gedächtnisleistung verbundenen gehirnphysiologischen Prozesse aus der Beobachtung eine echte Erkenntnis machen. Ebenso gibt die Betrachtung eines fallenden Steines noch keine Auskunft darüber, warum sich der Stein in der beobachteten Art und Weise bewegt. Dies wird erst verständlich, wenn die unsichtbare Ursache dieser Bewegung gefunden wird, also eine Erklärung des beobachteten Phänomens vorliegt.

Wert und Notwendigkeit induktiver Schlussfolgerungen

Für tiefe Erkenntnisse sind also zusätzliche Schlussfolgerungen notwendig, die auf der Basis der verfügbaren Beobachtungsaussagen zu treffen sind. Das Verfahren, das von konkreten Beobachtungsaussagen zu einer gerechtfertigten Verallgemeinerung führt, wird als Induktion bezeichnet. In Umkehrung zur Deduktion wird mithilfe der Induktion vom Konkreten und Spezifischen auf das Allgemeine und Abstrakte geschlossen.

Induktionsschlüsse sind uns allen vertraut und bilden eine wichtige Fähigkeit menschlichen Denkens. Sie entsprechen unserem Alltagsverstand und helfen uns zu klassifizieren, zu ordnen und weiträumig anwendbares Wissen für die Gestaltung unseres Lebensalltags zu gewinnen. Ohne diese Fähigkeit bestünde die Welt aus einer ungeordneten, nicht überschaubaren Anzahl von isolierten und für sich genommen unbedeutenden Einzelerfahrungen. Induktives Denken macht es Ärzten möglich, die Symptome ihrer Patienten richtig zu interpretieren, weil sie durch den Rückgriff auf Erfahrungen mit anderen Patienten wissen, was die jeweilige Symptomatik bedeutet. Desgleichen nutzt der Kriminalbeamte beobachtete Indizien, um schrittweise zu den Erkenntnissen zu gelangen, die ihn schließlich zum Täter führen. Ebenso ist es angeraten, eine heiße Herdplatte nur einmal anzufassen, weil induktiv davon auszugehen ist, dass es auch beim nächsten Mal wieder schmerzhaft sein wird.

Induktives Denken ist nicht nur wertvoll, sondern für die praktische Alltagsbewältigung unumgänglich. Im Hinblick auf den Erwerb sicherer Erkenntnis, wie sie der Philosoph anstrebt, ist es jedoch äußerst problematisch. Der Grund dafür ist, dass die durch einen induktiven Schluss gewonnenen Aussagen wegen ihrer höheren Allgemeinheit mehr Information beinhalten, als in den Beobachtungsaussagen steckt. Anders als die Deduktion stellt die Induktion nicht nur eine logische Umformung, sondern einen Erweiterungsschluss dar, dessen Informationsgehalt über den der zugrunde liegenden Annahmen hinausgeht.

Verallgemeinerung und Abduktion

Die beiden wesentlichen Arten von Erweiterungsschlüssen sind die Verallgemeinerung (auch Generalisierung genannt) und die Abduktion. Bei der Generalisierung werden die Beobachtungen zu Allaussagen verallgemeinert. So könnte man die Erfahrungen aus der Beobachtung diverser Katzen beispielsweise in der Form »Alle Katzen haben zwei Augen« verallgemeinern. Die Sätze »Alle Smaragde sind grün« oder »Alle Metalle dehnen sich bei Erwärmung aus« sind weitere Beispiele für Allaussagen.

Bei einer Abduktion besteht das Ziel darin, anhand spezieller Beobachtungen auf eine dahinter liegende, gegebenenfalls unsichtbare Erklärung zu schließen.

Gesucht wird also die Ursache, die ein beobachtetes Phänomen erklärt. Von der Zeigerbewegung einer Uhr auf deren innere Funktionsweise zu schließen, ist ein Beispiel für eine Abduktion. Anhand der sichtbaren Flugbahn eines Steines oder einer fallenden Tasse auf die Existenz einer unsichtbaren Ursache (die Gravitationskraft) zu schließen, stellt ebenfalls eine Abduktion dar.

Die Problematik induktiver Schlussfolgerungen

Die erkenntnistheoretisch relevante Frage lautet nun, unter welchen Bedingungen eine Verallgemeinerung oder Abduktion gerechtfertigt ist. Betrachten wir hierzu den Mathematiker-Witz zu den drei Schottlandurlaubern am Anfang des Kapitels. Dieser zeigt anschaulich die Problematik induktiver Schlüsse. Der Biologe liegt mit seiner Schlussfolgerung offenbar nicht richtig. Vermutlich wird er bereits einige Kilometer weiter durch die Sichtung weißer Schafe eines Besseren belehrt. Die Aussage des Physikers scheint vernünftig und daher gerechtfertigt zu sein. Allerdings ergibt sich aus ihr keine neue Erkenntnis, weil der Schluss nicht über die Beobachtungsaussage »Ich sehe ein schwarzes Schaf« hinausgeht. Die exakte Aussage des Mathematikers erscheint auf den ersten Blick zwar spitzfindig und weltfremd, macht aber das Problem klar: Ohne die andere Seite des Schafes geprüft zu haben, besteht tatsächlich die Möglichkeit, dass sich sogar die vermeintliche Tatsachenbeschreibung des Physikers als Irrtum herausstellen könnte.

Ein anderes Beispiel: Wir wissen, dass die Sonne seit Jahrmillionen täglich auf- und untergeht. Und vermutlich sind wir fest davon überzeugt, dass dies auch morgen noch der Fall sein wird. Was genau macht uns hier so sicher? Können wir uns allein auf die bisher beobachtete Regelmäßigkeit verlassen?

Russels Hahn

Betrachten wir in diesem Zusammenhang eine lehrreiche Geschichte, die als »Russels Hahn« bekannt ist. Die Geschichte handelt von einem Hahn, der ein vermeintlich glückliches Leben auf einem Bauernhof führte. Dieser Hahn schien alles zu haben, was er für ein gutes Leben benötigte. Seit er denken konnte, beobachtete er täglich das gleiche Prozedere: Vormittags öffnete sich die Stalltüre und der Bauer trat herein, um die Trink- und Futterbehälter aufzufüllen. Der Hahn fühlte sich stets gut versorgt und zog aus dieser regelmäßigen Beobachtung den induktiven Schluss, dass dies auch künftig so bleiben würde. Eines Tages erlebte er jedoch eine böse Überraschung. Wieder ging die Türe auf und der Bauer kam herein. Diesmal aber nicht, um den Hahn zu füttern, sondern um ihm den Hals umzudrehen. Dies war nicht nur das Ende der induktiven »Hühner-Theorie«, sondern auch das Ende des Hahns. Offenbar lag der Hahn einem induktiven Fehlschluss auf. Worin bestand der Denkfehler?

— Das Induktionsproblem

Sind Erweiterungsschlüsse gerechtfertigt?

Betrachten wir zur genaueren Untersuchung der Problematik induktiver Schlüsse noch einmal deren Struktur anhand unseres »Katzen-Beispiels«:

Mimi hat zwei Augen. UND Mimi ist eine Katze. → Alle Katzen haben zwei Augen.

Aus dem spezifischen Einzelfall der zweiäugigen Katze Mimi wird auf alle existierenden Katzen verallgemeinert. Sollte tatsächlich nur eine Katze bezüglich ihrer Augenzahl überprüft worden sein, so ist dieser Schluss sicherlich gewagt und damit fragwürdig. Wie aber sieht es mit folgender Variante aus?

Alle bisher gesichteten Katzen haben zwei Augen. → Alle Katzen haben zwei Augen.

Angenommen, es wurden eine Vielzahl von Katzen beobachtet und ausnahmslos die Augenanzahl »Zwei« gezählt. Kann die verallgemeinernde Allaussage dann als legitim betrachtet werden?

Das Induktionsprinzip

Das Entscheidungskriterium für die Rechtfertigung eines induktiven Schlusses wird gewöhnlich als Induktionsprinzip bezeichnet. Es existiert in unterschiedlichen Fassungen, eine gängige Formulierung ist die folgende:

Wenn eine große Anzahl von A unter einer großen Vielfalt von Bedingungen beobachtet wird, und wenn alle diese beobachteten A ohne Ausnahme die Eigenschaft B besitzen, dann besitzen alle A die Eigenschaft B.51

Das Induktionsprinzip fußt damit auf drei vorausgesetzten Kriterien:

› Eine große Anzahl an Beobachtungen

› Eine große Vielfalt an Bedingungen

› Die ausnahmslose Erfüllung der betreffenden Eigenschaft

Für unser Beispiel bedeutet dies, dass viele verschiedene Katzen in einer Vielzahl unterschiedlicher Bedingungen beobachtet werden müssen. Das heißt, dass beispielsweise auch Katzen in anderen Ländern unter anderen Lebensbedingungen zu untersuchen sind.

Ebenso könnten die verschiedenen Situationen, in denen sich eine Katze befinden kann, Auswirkungen auf ihre Eigenschaften haben. Daher müssten Katzen auch beim Springen, Lauern, Fressen oder Schlafen beobachtet werden. Gemäß der dritten Bedingung darf keine einzige Beobachtung im Widerspruch zur allgemeinen Behauptung stehen. Sollte auch nur eine einzige Katze gefunden werden, die beispielsweise wegen eines Unfalls nur ein Auge hat, dann ist der Satz »Alle Katzen haben zwei Augen« definitiv falsch. Selbst wenn das Gegenbeispiel einen begründbaren Ausnahmefall darstellt, so müsste die Aussage zumindest etwas anders formuliert werden, in diesem Falle vielleicht: »Alle gesunden Katzen haben zwei Augen.«

Das Induktionsproblem

Auch wenn das Induktionsprinzip auf den ersten Blick vernünftig erscheint, so kann es die mit einem Induktionsschluss verbundenen Schwierigkeiten nicht lösen. Es lassen sich in der Praxis nur endlich viele Prüfungen vornehmen. Ab welcher Anzahl erfolgreicher Beobachtungen kann eine induktive These als gültig angesehen werden? Sind hierzu 100, 1.000, 10.000 oder noch mehr bestätigende Beobachtungen unterschiedlichster Art nötig? Ab wann kann man sich wirklich sicher sein, dass eine induktive These stimmt?

Offensichtlich ist nicht ohne Weiteres klar, welches die tatsächlich relevanten Bedingungen sind, die bei den verschiedenen Beobachtungen zu variieren sind. So ergibt sich nachweislich kein Erkenntnisgewinn, wenn die gleiche Katze mehrfach in wachem sowie schlafendem Zustand auf ihre Augenzahl überprüft wird. Sinnvoll erscheint hingegen, auch Katzen von Eltern mit entsprechenden Unfällen oder Krankheiten zu beobachten.

Darüber hinaus ist immer auch zu erwägen, inwieweit das Ergebnis der Beobachtungen von äußeren Umständen beeinflusst sein könnte. Würde es einen Unterschied machen, wenn ich statt eines schwarzen Anoraks einen gelben Regenmantel trüge? Spielt es eine Rolle, ob ich frisch rasiert bin oder einen Bart trage? In Bezug auf die Katzenbeobachtung sicherlich nicht.

Wichtig ist: Wie auch immer die bisherigen Beobachtungen gewesen sein mögen, bereits ein Gegenbeispiel genügt, um eine Allaussage als falsch zu entlarven. Wer garantiert, dass dieser Gegenbeweis, wie bei den schwarzen Schwänen, nicht eines Tages auftaucht? Sämtliche Schwierigkeiten, die sich im Zusammenhang mit induktiven Schlüssen ergeben, werden unter dem Begriff Induktionsproblem, der auf David Hume zurückgeht, zusammengefasst.

— Mehrdeutigkeit als Prinzip

Die Illusion eines strengen Induktionsverfahrens

Es war ebenfalls Hume, der aufzeigte, dass das Induktionsproblem, unabhängig von den verschiedenen praktischen Schwierigkeiten, grundsätzlich nicht lösbar ist.

Das Induktionsproblem ist nicht lösbar

Gemäß Hume hat menschliches Denken mit zweierlei Gegenstandsbereichen zu tun: Beziehungen von Vorstellungen (»relations of ideas«) und Tatsachen (»matters of fact«). Die erste Kategorie entspricht mathematischem Wissen, also analytischen Sätzen a priori, deren Wahrheit sich, wie bereits erläutert,52 über die Methode des kontradiktorischen Gegenteils belegen lässt. Die zweite Kategorie umfasst inhaltliches Wissen, das sich nur a posteriori durch Rückgriff auf die Erfahrung bewerten lässt. Prüfen wir nun das Induktionsprinzip im Hinblick auf diese beiden Kategorien. Hierzu bilden wir zunächst das kontradiktorische Gegenteil:

Wenn eine große Anzahl von A unter einer großen Vielfalt von Bedingungen beobachtet wird, und wenn alle diese beobachteten A ohne Ausnahme die Eigenschaft B besitzen, dann besitzen (dennoch) nicht alle A die Eigenschaft B.

Wie man sofort sieht, beinhaltet diese Aussage keinen logischen Widerspruch. Das belegt, dass das Induktionsprinzip kein analytischer Satz a priori ist und damit keine logische Wahrheit darstellt. Das Induktionsprinzip ist damit als synthetisches Urteil zu betrachten, welches wahr oder falsch sein kann und daher nach Hume einer empirischen Überprüfung bedarf. Das Induktionsprinzip wäre daher auf sich selbst anzuwenden, indem man prüfen müsste, ob das Induktionsprinzip unter einer Vielzahl unterschiedlicher Bedingungen ausnahmslos gegolten hat.

Die Schlussfolgerung, dass das Induktionsprinzip immer gilt, hat daher selbst einen induktiven Charakter. Hume kam zu dem Ergebnis, dass das Induktionsproblem grundsätzlich nicht lösbar ist. Induktives Schlussfolgern, insbesondere das Erkennen von Kausalzusammenhängen, baut auf dem Glauben an die Gleichförmigkeit der Natur auf. Dieses Vorgehen ist durchaus nützlich, aber die dahinter angenommene »Treue der Natur« ist nicht logisch begründbar. Es gibt daher keine logische Rechtfertigung für induktive Schlussfolgerungen.

Die Mehrdeutigkeit menschlicher Erfahrung

Trotz Humes überzeugender Argumentation versuchten bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch einige Optimisten, ein induktives Verfahren zu finden, mithilfe dessen man zu einer Theorie gelangen könnte, welche die vorliegenden Fakten in eindeutiger Weise erklären würde. Ähnlich dem Gödel’schen Beweis in Bezug auf Hilberts Programm, war es auch in diesem Fall ein mathematisches Theorem, welches diese Hoffnung endgültig zerschlug.

Der kanadische Mathematiker und Philosoph William S. Hatcher (1935-2005) erläutert: »Zu Beginn des Jahrhunderts dachte man, es sei möglich, Regeln für eine sogenannte induktive Logik aufzustellen, die es uns ermöglichen sollte, mit dem selben Grad an Genauigkeit von einer Reihe von Einzelaussagen zu einer allgemeinen Schlussfolgerung zu gelangen wie es die deduktive Logik erlaubt, von allgemeinen Grundsätzen auf Einzelaussagen zu schließen. Heute jedoch weiß man, dass dies nicht möglich ist, und zwar grundsätzlich nicht. Mit einem Theorem der mathematischen Logik ist nachgewiesen, daß es zu jeder endlichen Anzahl von gegebenen Fakten allgemein eine unendliche Zahl von miteinander unverträglichen Theorien gibt.«53 Auch der amerikanische Wissenschaftsphilosoph Thomas S. Kuhn (1922-1996) hält fest, dass ergänzend zu den Überlegungen Humes damit auch mathematisch bewiesen ist, »dass auf eine gegebene Sammlung von Daten immer mehr als eine theoretische Konstruktion passt.«54

Jede Erklärung ist, philosophisch ausgedrückt, durch die endliche Anzahl an beobachtbaren Tatsachen notwendigerweise »unterbestimmt«. Menschliche Erfahrung bleibt damit mehrdeutig. So nützlich induktive Schlüsse im Alltag sind, so haben sie mehr mit Intuition als mit Logik zu tun.

Dass es keine logische Rechtfertigung für induktive Schlussfolgerungen gibt, lässt sich auch grafisch veranschaulichen. Die in Abbildung 10 dargestellten Punkte symbolisieren die bekannten Tatsachen, die aus menschlicher Warte immer von endlicher Anzahl sind. Die durch die Punkte gehenden Kurven stehen für induktiv abgeleitete Aussagen oder Erklärungen, die mit den beobachteten Fakten im Einklang stehen. Offensichtlich lassen sich zu einer gegebenen endlichen Anzahl an Punkten unendlich viele Kurven konstruieren, die allesamt eben diese Punkte beinhalten. In der Abbildung ist dies für den Fall von sechs Punkten angedeutet. Jede der vier eingezeichneten Kurven geht durch alle sechs Punkte und in der Tat lassen sich unendlich viele solcher Kurven finden. Dies zeigt sehr anschaulich, dass sich zu jedem endlichen Bündel an Fakten theoretisch unendlich viele Erklärungen konstruieren lassen.


Abb.10: Die »Unterbestimmtheit« von Erklärungen

Induktion und Deduktion führen nicht zu sicherer Erkenntnis

Aus erkenntnistheoretischer Sicht ist es sehr ernüchternd, dass weder das von den Rationalisten bevorzugte deduktive Verfahren noch die induktive Methode der Empiriker dem philosophischen Anspruch nach absolut sicherer Erkenntnis standhalten können. Beide Verfahren sind kontextabhängig und führen lediglich zu relativer Wahrheit. Absolute Gewissheit kann es nur darüber geben, wie uns die Realität erscheint, nicht aber, wie die Realität tatsächlich ist.

KURZFASSUNG

Der Empirismus umgeht das Kernproblem des Rationalismus, allgemeingültige erste Annahmen finden zu müssen und setzt stattdessen auf die Erfahrung als das Maß aller Dinge. Die Ausgangslage für die Herleitung weiterer Erkenntnisse bilden demnach Tatsachen, die sich durch konkrete Beobachtungen ergeben. Derartige Beobachtungsaussagen sind intersubjektiv prüfbar und scheinen daher ein sehr zuverlässiges Bild der sichtbaren Realität zu liefern.

Bei genauerer Betrachtung ist jedoch Vorsicht geboten. Selbst eine sehr konkrete Erfahrung kann nicht als vollkommen objektiv angesehen werden, da unsere inneren physiologischen Verarbeitungsprozesse nicht perfekt, sondern fehleranfällig sind. Hinzu kommt, dass Beobachtungsaussagen häufig theoriegeladen sind. Dies bedeutet, dass sich hinter den zur Beschreibung der Beobachtung verwendeten Begriffen oft Konzepte (Mini-Theorien) verbergen, deren (Un-) Kenntnis die Interpretation unserer Wahrnehmung beeinflusst. Wer beispielsweise zum ersten Mal einen Koffer erblickt, wird diese Beobachtung anders bewerten, als jemand der das dahinter liegende Konzept »Hohler Innenraum zum Transport von Gegenständen« kennt. Durch hinreichende Präzision bei der Beschreibung und dem intersubjektiven Austausch über das Beobachtungsergebnis kann jedoch erreicht werden, dass Beobachtungsaussagen als quasi-objektiv angesehen werden können.

Wesentlich problematischer als der Objektivitätsgrad von Beobachtungsaussagen stellt sich die Rechtfertigung der darauf aufbauenden Schlussfolgerungen dar. Um aus konkreten Tatsachen (Erfahrung) relevante Erkenntnisse abzuleiten, ist eine verallgemeinernde Schlussfolgerung (Induktion) notwendig. So wichtig derartige induktive Erweiterungsschlüsse sind, so wenig sind sie logisch gerechtfertigt. Man spricht hier vom Induktionsproblem, weil es tatsächlich kein Kriterium gibt, das sicher ausschließt, dass nicht eines Tages eine Beobachtung auftaucht, welche die Schlussfolgerung nachträglich als unzulässig entlarvt. Was anschaulich klar ist, wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts mathematisch untermauert: Demnach gibt es zu einer endlichen Anzahl von Tatsachen immer unendlich viele, sich gegenseitig widersprechende Erklärungsmöglichkeiten. Induktive Schlussfolgerungen sind daher kein geeignetes Mittel, um zu zweifelsfreier Erkenntnis zu gelangen.

Aus erkenntnistheoretischer Sicht ist es sehr ernüchternd, dass weder das von den Rationalisten bevorzugte deduktive Verfahren noch die induktive Methode der Empiriker dem philosophischen Anspruch nach absolut sicherer Erkenntnis standhalten können. Beide Verfahren sind kontextabhängig und führen lediglich zu relativer Wahrheit. Absolute Gewissheit kann es nur darüber geben, wie uns die Realität erscheint, nicht aber, wie die Realität tatsächlich ist.

Teil III »Wie die Wissenschaft Wissen schafft« bietet eine Einführung in die moderne Wissenschaftstheorie. Diese philosophische Disziplin widmet sich systematisch der Frage, wie sich die großen Erfolge der Wissenschaft trotz der von der Erkenntnistheorie aufgezeigten Erkenntnisbarrieren erklären lassen.

Eckpfeiler einer reifen Weltsicht

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