Читать книгу Einführung in die allgemeine Ethik - Michael Quante - Страница 15
1. Die Unverzichtbarkeit der Metaethik
ОглавлениеNeben den drei Grundfragen der Ethik haben wir im ersten Kapitel zwei wichtige Unterscheidungen eingeführt, von denen die erste, das ist die Ebenenunterscheidung, jetzt im Zentrum steht. Die Aufgabe dieses Kapitels besteht in der Analyse der Grundbegriffe der Ethik. Diese Fragestellung ist metaethischer Natur, weil nicht-normative Aussagen über die Bedeutung, die logische Struktur und die Verwendung zentraler ethischer Grundbegriffe gemacht werden sollen (mit der ebenfalls metaethisch ausgerichteten Analyse der logischen Struktur und der Verwendung von ethischen Äußerungen werden wir uns in Kapitel III auseinandersetzen). Wir werden daher im Folgenden eine Art Vogelperspektive auf die Ethik im Sinne einer sprachlichen Praxis einnehmen und die vielfältigen Verwendungen einiger zentraler ethischer Grundbegriffe analysieren.
a) Der Status metaethischer Aussagen
Erinnern möchte ich zu Beginn dieses Kapitels an zwei Aussagen des ersten Kapitels.
Überlegungsgleichgewicht zwischen Ethik und Metaethik
Erstens sollte die Tatsache, dass metaethische Überlegungen selbst keine normativen ethischen Aussagen sind, nicht zu der Annahme verleiten, metaethische Prämissen oder Analyseergebnisse seien vollständig neutral gegenüber materialen ethischen Aussagen. Dies ist in zweifacher Hinsicht falsch: Zum einen sind bestimmte metaethische Annahmen, auch wenn sie uns nicht auf eine bestimmte ethische Position festlegen, doch mit einigen dieser Positionen nicht verträglich. Man könnte dies so ausdrücken, dass die Metaethik eine limitierende Funktion für die Ethik hat. Das Verhältnis von Ethik und Metaethik sollte man dabei zum anderen nicht als ein einseitiges Abhängigkeitsverhältnis begreifen. Zumindest einige metaethische Annahmen, nämlich solche, die inhaltliche Konsequenzen für die Ethik haben, müssen sich an unserem ethischen Vorverständnis messen lassen. Ihnen kommt keine von ethischen Annahmen unabhängige Funktion zu; die philosophische Aufgabe ist es vielmehr, metaethische und ethische Annahmen in ein Verhältnis zu bringen, welches man Überlegungsgleich-gewicht nennt. Damit ist gemeint, dass die wechselseitige Korrektur und Anpassung der diversen Annahmen sich danach ausrichten muss, einen maximal positiven Gesamteffekt auf unsere Überzeugungen bzw. deren Kohärenz und Nützlichkeit zu erzielen. Eine metaethische Annahme, die mit den meisten unserer basalen ethischen Annahmen nicht verträglich ist, benötigt daher zum Beispiel außerordentlich starke Rechtfertigungsgründe, damit der Revisionseffekt, der durch sie erzeugt wird, gerechtfertigt werden kann. Man kann dies so zusammenfassen: Ethische Annahmen haben eine plausibilisierende Funktion und legen das Maß an notwendigem Rechtfertigungsbedarf fest, welches einer metaethischen Annahme zukommt (siehe [II-1], Kapitel 1).
Metaethik und alltägliches Vorverständnis
Die zweite Bemerkung aus dem letzten Kapitel, an die ich erinnern möchte, bestand in dem Hinweis darauf, dass die metaethischen Analysen nicht nur mit unseren ethischen, sondern auch mit unseren alltäglichen sprachlichen Intuitionen verwoben sind. Eine metaethische Analyse ethischer Grundbegriffe ist daher zum einen zwar der Versuch einer Klärung und Systematisierung, sollte sich zum anderen jedoch nicht, zumindest nicht ohne schwer wiegende Gründe, von unserem alltäglichen sprachlichen Vorverständnis zu weit entfernen. Der Nachweis einer logischen Inkonsistenz wie z.B. einer Äquivokation (Doppeldeutigkeit) stellt sicherlich einen solchen schwer wiegenden Grund dar. Aber auch hier sind die Grenzen zwischen logischen und inhaltlichen Aspekten fließend. Es ist sicher keine Frage der Logik oder der Bedeutungsanalyse allein, wenn man darum streitet, ob man z.B. den Begriff der Person auf erwachsene rationale Menschen, menschliche Embryonen und Menschenaffen oder Delphine gleichermaßen im identischen Sinne anwenden kann oder nicht. Auch hier gilt, dass es keine einseitigen Abhängigkeitsbeziehungen gibt und das Modell des Überlegungsgleichgewichts angewendet werden sollte.
b) Drei Arten von Definitionen
Das Verhältnis von philosophischer Analyse und alltäglichen Intuitionen spielt auch in den folgenden Problembereich hinein. George E. Moore (1873–1958) hat auf eine Mehrdeutigkeit des Unterfangens, Begriffe zu definieren, aufmerksam gemacht, die für das Verständnis der philosophischen Analyse der Bedeutung und Verwendung von Begriffen insgesamt relevant ist (vgl. [II-2], S. 37ff.). Er unterscheidet drei Arten von Definitionen:
– Die nominale Definition im Sinne der willkürlichen Verbaldefinition.
– Die Standarddefinition im Sinne der normalen alltäglichen Verwendung.
– Die Realdefinition im Sinne der Analyse oder Reduktion der Gegenstände, die von dem fraglichen Begriff bezeichnet werden.
Nominale Definition
Unter einer nominalen Definition versteht man eine Konvention, bei der z.B. ein Autor, eine Diskussionsgruppe oder auch die Mitglieder einer wissenschaftlichen Disziplin festlegen, dass sie einen Begriff in einer bestimmten Bedeutung verwenden wollen. Wenn ich beispielsweise die sprachliche Konvention einführte, in diesem Kapitel den Terminus „Bär“ in der Bedeutung „schwergewichtigster Philosoph Münsters“ zu verwenden, dann gilt für dieses Kapitel, dass mit meiner Verwendung von „Bär“ genau dies gemeint ist. Solche nominalen Definitionen können zweckdienlich oder für bestimmte theoretische Aufgaben nützlich und bei einer hoffnungslosen Mehrdeutigkeit von Begriffen sogar unverzichtbar sein. Als Strategie im Rahmen des philosophischen Projekts einer Begriffs- oder Verwendungsanalyse ist die nominale Definition aber offensichtlich uninteressant.
Standarddefinition
Die Standarddefinition im Sinne der alltäglichen normalen Verwendung ist das, was wir gewöhnlich im Wörterbuch finden. Wenn dort die Bedeutung eines Begriffs bzw. die wichtigsten Arten seiner Verwendung aufgeführt werden, dann heißt dies nicht, dass faktisch jeder Sprecher dieser Sprache den Begriff solchermaßen verwendet. Aber es bedeutet, dass abweichende Verwendungen eben Abweichungen vom Standard- und Normalgebrauch sind. Eine philosophische Bedeutungsanalyse tut gut daran, mit dieser Standarddefinition in Kontakt zu bleiben (vergleiche [II-3], S. 2). Die von William D. Ross (1877–1971) gewählte Formulierung „keep in touch“ drückt das flexible Verhältnis zwischen alltäglichem Sprachgebrauch und philosophischer Analyse sehr gut aus. Weder kann das Ziel philosophischer Analyse nur die Nachzeichnung des faktischen Sprachgebrauchs sein. Ein solches, letztlich empirisch-statistisches Unterfangen wäre Aufgabe der Linguisten. Noch sollte die philosophische Analyse sich ohne Not von der Standardverwendung zu weit entfernen oder diese gar gänzlich ignorieren. Eine allgemeingültige Theorie oder einen generellen Maßstab für das Verhältnis von philosophischer Analyse zu Standardbedeutung kann es aber wegen der vielfältigen zu berücksichtigenden Größen nicht geben.
Realdefinition
Philosophisch am relevantesten und anspruchvollsten ist die dritte von Moore angeführte Definitionsart: die Realdefinition. Wichtig ist hierbei zuerst einmal, dass man dabei nicht mehr auf die Analyse der Bedeutung oder Verwendung von sprachlichen Ausdrücken abzielt, sondern auf eine Analyse der mit diesen Ausdrücken bezeichneten bzw. von ihnen gemeinten Gegenstände (im weitesten Sinne des Wortes als „Gegenstände der Rede“ verstanden). Die Unterscheidung dieser Ebene von der Ebene der Bedeutungs- und Verwendungsanalyse ist eminent wichtig: Mit Moore und Ross bin ich der Meinung, dass sich der sprachanalytische Zugang zu philosophischen Problemen nicht dahingehend missverstehen darf, als gehe es um die Analyse der Sprache als Selbstzweck. Vielmehr ist diese Analyse zu verstehen als methodologischer und epistemologischer Ansatz in dem Sinne, dass man (nur) über eine Analyse der Sprache an die Sachprobleme herankommt. Aber letztlich geht es immer um Sachprobleme, und diese sind nur in einem kleinen Bereich die Sprache und ihre Bestandteile.
Offen lassen können wir zum einen, ob die Moore‘sche Dreiteilung vollständig ist oder ob man sich weitere Arten von Definitionen im Sinne der philosophischen Analyse vorstellen kann. Wir müssen an dieser Stelle auch nicht entscheiden, ob man eine Realdefinition immer im Sinne Moores als Reduktion eines Ganzen auf seine Bestandteile zu begreifen hat. Wichtig ist jedoch, auf den Unterschied zwischen Begriffs- und Gegenstandsanalyse sowie auf das Verhältnis von Standardbedeutung und philosophischer Bedeutung zu achten.
c) Die Zweiteilung der Grundbegriffe als heuristische Strategie
Damit komme ich nun zu dem eigentlichen Thema dieses Kapitels: die Grundbegriffe der Ethik. Als weitgehend unumstrittener Konsens kann gelten, dass eine Zweiteilung ethisch normativer Aussagen in deontische und Wertaussagen als heuristische Strategie sinnvoll ist. Daher werden wir die deontischen Grundbegriffe und den zentralen Grundbegriff von Wertaussagen getrennt untersuchen.
Es sei noch kurz vorweggeschickt, dass der philosophische Konsens jenseits der These, dass die soeben genannte Zweiteilung sinnvoll ist, auch bereits schon wieder zu Ende ist. Mit der Reihenfolge, in der im Folgenden beide Bereiche behandelt werden, soll keine sachliche Gewichtung zum Ausdruck gebracht werden. In der philosophischen Debatte werden diesbezüglich die unterschiedlichsten Positionen vertreten. Manche behaupten, dass Wertaussagen abhängig sind von deontischen Aussagen. Einige vertreten sogar die Auffassung, dass eine moderne philosophische Ethik auf Wertbegriffe und -aussagen ganz verzichten und sich rein auf deontische Aussagen beschränken sollte. Natürlich gibt es auch die umgekehrten Positionen. Unter den Philosophen, die beide Bereiche für gleichberechtigt und unverzichtbar halten, gibt es keinen Konsens darüber, wie der Zusammenhang beider Bereiche systematisch zu rekonstruieren und der Sache nach beschaffen ist.