Читать книгу Die Pferdelords 04 - Das verborgene Haus der Elfen - Michael Schenk - Страница 12
Kapitel 10
ОглавлениеMarnalf hätte nicht sagen können, wie alt er eigentlich war: Jünger als ein Elf
und alt genug, um viele Generationen der Menschen durchs Leben begleitet
zu haben. Über so viele Jahreswenden hinweg hatte er die Entwicklung der
Menschenwesen, mal amüsiert, mal besorgt, beobachtet und mit angesehen,
wie ihre Reiche aufgestiegen und zerfallen waren, um neuen Königreichen
Raum zu schaffen.
Wie so viele andere Magier seiner Grauen Zunft hatte er seine
Erkenntnisse sorgsam niedergeschrieben und die Aufzeichnungen den großen
Weißen Zauberern anvertraut. Während die meisten Grauen die Menschen
aus der Ferne beobachteten, hatte Marnalf immer ihre Nähe gesucht.
Natürlich durfte er in ihre Entwicklung nicht eingreifen, sein Wissen nicht
preisgeben, doch war es ihm nicht untersagt, gelegentlich den ein oder
anderen Rat auszusprechen. Ja, Marnalf empfand Sympathie für die
Menschenwesen, und nun, nach den schrecklichen Ereignissen der letzten
Jahre, fühlte er sich ihnen noch tiefer verbunden.
Zu jener Zeit, da der Schwarze Lord seine Legionen gegen die letzten
Reiche der Menschen und die Häuser der Elfen schickte, verlor Marnalf die
Fähigkeit, die anderen Grauen seiner Zunft zu spüren, und er büßte den
geistigen Kontakt zu ihnen ein. Ein Verlust, der ihn erschreckte. Mit einem
Mal schien er das einzige Graue Wesen der Welt zu sein.
Zu dem Schreck hatte sich Entsetzen gesellt, als er erfahren musste, dass
seine Magiergefährten nicht einfach dahingegangen, sondern nun den
Finsteren Mächten verfallen waren. Sie setzten ihre Kräfte auf der Seite des
Schwarzen Lords ein und brachen damit die Grundsätze der Zunft, doch kein
Weißer Magier stellte sich ihnen noch entgegen.
Marnalf fühlte sich müde und erschöpft, denn er kannte die Fähigkeiten
eines Grauen weitaus besser als jedes andere Wesen, und er war in tiefer
Sorge um die Zukunft der Welt und des Menschengeschlechts.
Nur zögernd hatte er sich dem König des Pferdevolks in Enderonas zu
erkennen gegeben und war dessen Berater geworden, wenn nicht gar ein
väterlicher Freund, wenn dies zwischen einem Menschenwesen und einem
Grauen Zauberer denn möglich war. Man kannte Marnalf in Enderonas und
schätzte ihn, aber er wusste auch, dass die meisten Menschenwesen, an
anderen Orten, inzwischen Angst vor den Grauen empfanden. Sie würden ihm
mit Misstrauen begegnen, gäbe er sich zu erkennen. Daher war es für das gute
Graue Wesen selbstverständlich, seine Identität zu verbergen, wenn er die
Stadt des Königs des Pferdevolkes verließ.
Selbst die Mitglieder der Handelskarawane, die von Enderonas nach
Merdonan aufgebrochen war, kannten Marnalfs wahres Wesen nicht, denn er
gesellte sich ihnen als reisender Heiler bei und verzichtete dazu auf das graue
Gewand seiner Zunft. Er wandelte seine Gesichtszüge, indem er sie etwas
älter erscheinen ließ, und veränderte seinen hüftlangen grauen Bart zu einem
kurzen Bartwuchs, wie er bei den Pferdelords beliebt war. Er wählte ein nicht
zu neu wirkendes Gewand, eine Hose mit Wams und einen knöchellangen
Gehrock, der vorne geschnürt wurde und in den einfachen Farben des
Stadtvolkes gehalten war. Um die Hüften trug er den geflochtenen
Ledergürtel mit den zahlreichen kleinen Taschen und Beuteln, die zur
Aufbewahrung des Zubehörs der Heilerzunft dienten.
Seinen geliebten mannshohen Stab musste er verbergen, und dazu schlang
er sich die Trageriemen eines Streckbrettes über die Schultern, durch das der
Stab gerade noch vor fremden Blicken geschützt war. Das Streckbrett diente
dem Richten und Fixieren gebrochener Beine, war also entsprechend lang,
doch ragte der Stab noch immer weit darüber hinaus, und so viele Dinge ein
Graues Wesen auch zu wandeln vermochte, sein Stab gehörte nicht dazu. So
erklärte er ihn den Mitreisenden kurzerhand als Zubehör für eine neue
Methode der Heilerkunst und verlor sich in umständlichen Worten, wenn
nach ihrer Wirkungsweise gefragt wurde, bis die neugierigen Fragen
schließlich versiegten.
Unter anderen Umständen hätte Marnalf die Reise wohl genossen.
Er liebte die weiten Ebenen, in denen das Pferdevolk lebte, die großen
Wälder und die saftigen Weidegründe. Die Vielfalt des Lebens hatte ihn stets
fasziniert, und noch immer, nach all den vielen Jahreswenden, konnte er sich
am Wunder einer Wildblume erfreuen. Die Reise verlief ereignislos, wenn
man von einem vorbeiziehenden Regensturm absah und dem kurzen
Aufenthalt, der verursacht wurde, als eine riesige Hornviehherde den Weg
versperrte. Doch schließlich tauchte in der Ferne die typische Silhouette
Merdonans mit der hohen Nadel der Ostwache auf, lange bevor die Stadt
selbst sichtbar wurde.
Je näher die Karawane der Hauptstadt der Ostmark kam, desto
sorgenvoller wurden Marnalfs Gedanken. Jenseits der Stadt sah er die
gewaltige Kontur des Ostgebirges mit der sich darüber auftürmenden
schwarzen Wolkenwand. Beinahe hätte er seinen Schritt beschleunigt, und er
musste sich zwingen, ebenso langsam und müde wie die anderen
Karawanenteilnehmer zu wirken, die sich gemächlich dem Stadttor näherten.
Er kannte Merdonan aus vergangenen Tagen, und doch musterte er die
runde Mauer mit dem überdachten Wehrgang aufmerksam. Nichts wies
darauf hin, dass die Menschen Merdonans die heraufziehende Gefahr
erahnten. Gemächlich schlenderten ein paar Schwertmänner auf dem
Wehrgang entlang, durch die hölzerne Überdachung vor der grellen Sonne
geschützt. Auch die beiden Wachen am Haupttor wirkten entspannt und
waren sichtlich erfreut über die Abwechslung, die ihnen die Ankunft der
Karawane bot. Kinder tollten auf der Mauerkrone, und eine Gruppe von ihnen
eilte neugierig herbei, um die Neuankömmlinge zu betrachten.
»Seid uns willkommen«, sagte der Wachführer freundlich zu dem
Karawanenführer und musterte die Kolonne der schwer beladenen Gespanne.
»Was bringt Ihr uns für Waren?«
Der Karawanenführer, der in diesem Fall auch der Handelsherr der
Kolonne war, lächelte ebenso freundlich von seinem Pferd herunter. »Vor
allem Eisenplatten, guter Herr.«
»Dann seid Ihr doppelt willkommen«, versicherte der Schwertmann. »Ihr
werdet einen guten Handel abschließen können. Eisen können wir stets
gebrauchen.«
Der Händler lächelte. Die Ostmark hatte nur wenige Stellen, an denen sich
Erze schürfen ließen, und man konnte in Merdonan mit vorgefertigten
Eisenplatten gute Geschäfte machen. Die Schmiede würden um das
Rohmaterial feilschen und es dann hastig zu ihren Werkstätten schleppen, um
es zu Töpfen, Pfannen, Beschlägen, Werkzeugen, Waffen und Rüstungen zu
formen. Es gab so viele Dinge, die aus dem hier kostbaren Eisen gefertigt
werden mussten. Nadeln und Scheren, Messer und Brennsteinbecken,
Schaufeln und Hacken … Ja, es würde wieder ein gutes Geschäft werden. Im
Tausch würde er die hervorragende Wolle der Ostmarkschafe und feinstes
Leder für die Schuhmacher von Enderonas erwerben und Fässer mit jenem
klaren Getränk, das hier in Merdonan aus Gerste gebrannt wurde. Auch
woanders wurde dieses Getränk gebrannt, doch die Menschen aus Merdonan
fertigten es auf eine besondere Weise, wodurch es in den anderen Marken
sehr geschätzt wurde. Die Differenz aus dem Geschäft würde der Händler
sich in gezeichneten und gebrannten Tontäfelchen auszahlen lassen oder, falls
dies in Merdonan vorhanden war, in den aus Gold bestehenden Schüsselchen,
dem Zahlungsmittel des Königreiches von Alnoa.
»Am besten fahrt Ihr die Wagen gleich hier nach rechts und links«, riet der
Wachführer. »Die Schmieden liegen entlang der Stadtmauer, und hier könnt
Ihr auch Euer Eisen in den Lagerhäusern stapeln, bis die Käufer es sich
holen.« Er wandte den Blick zu Marnalf. »Und Ihr, guter Herr? Ihr seht mir
nicht nach einem Handelsgehilfen aus. Was ist Euer Begehr?« Er musterte
den guten Grauen. »Ihr seid ein Heiler, nicht wahr? Ich sehe den Gürtel Eurer
Zunft.«
Marnalf nickte. »Ein Heiler, ja. Ich reise durch die Marken, um meine
Kunst anzubieten und mein Wissen zu mehren.«
Das war nicht ungewöhnlich, denn ein Heiler gab sein Wissen an seinen
Nachfolger weiter, und es gab kaum eine Gelegenheit, zu der die Männer und
Frauen der Heilerzunft sich trafen und untereinander austauschen konnten.
Zudem konnten die wenigsten von ihnen die Schriftzeichen deuten. So war
der Besuch untereinander die einzige Möglichkeit, sein Wissen zu mehren
und weiterzugeben. Aber es geschah nur selten, denn kein Heiler ließ seine
Wirkungsstätte gerne allzu lange ohne seine Heilkunst zurück.
»Ihr werdet Eure Kunst kaum ausüben können, guter Herr Heiler. Der
unsere ist sehr fähig und hat tüchtige Gehilfen. Ihr findet den guten Herrn
Baralf ein Stück die Hauptstraße hinunter. Überquert den Markplatz und geht
weiter auf das Haus unseres Pferdefürsten und die alte Ostwache zu. Ein
Stück davor findet Ihr das Heilerhaus Baralfs. Ihr könnt es nicht verfehlen,
guter Herr. Es ist dort, wo das Jammern am lautesten ist, und außerdem hängt
ein Schild über der Tür, das eine Zange zeigt.«
Das Symbol war nicht selten für die Heilerzunft; oft genug mussten
schadhafte Zähne entfernt werden. Marnalf nickte und verabschiedete sich
von dem Händler und seinen Gehilfen. Während die schweren Frachtwagen
zu den Lagerhäusern rollten, wo sie abgeladen wurden, schlenderte Marnalf
die belebte Hauptstraße entlang, doch musste er sich zwingen, langsam zu
gehen.
Je näher er dem Markplatz und der dahinterliegenden Ostwache kam, desto
stärker wurde seine Unruhe. Eine unsichtbare Bedrohung lag über der Stadt,
und Marnalf hoffte, dass es noch nicht zu spät war, ihr erfolgreich zu
begegnen.