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Kapitel 10

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Marnalf hätte nicht sagen können, wie alt er eigentlich war: Jünger als ein Elf

und alt genug, um viele Generationen der Menschen durchs Leben begleitet

zu haben. Über so viele Jahreswenden hinweg hatte er die Entwicklung der

Menschenwesen, mal amüsiert, mal besorgt, beobachtet und mit angesehen,

wie ihre Reiche aufgestiegen und zerfallen waren, um neuen Königreichen

Raum zu schaffen.


Wie so viele andere Magier seiner Grauen Zunft hatte er seine

Erkenntnisse sorgsam niedergeschrieben und die Aufzeichnungen den großen

Weißen Zauberern anvertraut. Während die meisten Grauen die Menschen

aus der Ferne beobachteten, hatte Marnalf immer ihre Nähe gesucht.

Natürlich durfte er in ihre Entwicklung nicht eingreifen, sein Wissen nicht

preisgeben, doch war es ihm nicht untersagt, gelegentlich den ein oder

anderen Rat auszusprechen. Ja, Marnalf empfand Sympathie für die

Menschenwesen, und nun, nach den schrecklichen Ereignissen der letzten

Jahre, fühlte er sich ihnen noch tiefer verbunden.


Zu jener Zeit, da der Schwarze Lord seine Legionen gegen die letzten

Reiche der Menschen und die Häuser der Elfen schickte, verlor Marnalf die

Fähigkeit, die anderen Grauen seiner Zunft zu spüren, und er büßte den

geistigen Kontakt zu ihnen ein. Ein Verlust, der ihn erschreckte. Mit einem

Mal schien er das einzige Graue Wesen der Welt zu sein.


Zu dem Schreck hatte sich Entsetzen gesellt, als er erfahren musste, dass

seine Magiergefährten nicht einfach dahingegangen, sondern nun den

Finsteren Mächten verfallen waren. Sie setzten ihre Kräfte auf der Seite des

Schwarzen Lords ein und brachen damit die Grundsätze der Zunft, doch kein

Weißer Magier stellte sich ihnen noch entgegen.


Marnalf fühlte sich müde und erschöpft, denn er kannte die Fähigkeiten

eines Grauen weitaus besser als jedes andere Wesen, und er war in tiefer

Sorge um die Zukunft der Welt und des Menschengeschlechts.


Nur zögernd hatte er sich dem König des Pferdevolks in Enderonas zu

erkennen gegeben und war dessen Berater geworden, wenn nicht gar ein

väterlicher Freund, wenn dies zwischen einem Menschenwesen und einem

Grauen Zauberer denn möglich war. Man kannte Marnalf in Enderonas und

schätzte ihn, aber er wusste auch, dass die meisten Menschenwesen, an

anderen Orten, inzwischen Angst vor den Grauen empfanden. Sie würden ihm

mit Misstrauen begegnen, gäbe er sich zu erkennen. Daher war es für das gute

Graue Wesen selbstverständlich, seine Identität zu verbergen, wenn er die

Stadt des Königs des Pferdevolkes verließ.


Selbst die Mitglieder der Handelskarawane, die von Enderonas nach

Merdonan aufgebrochen war, kannten Marnalfs wahres Wesen nicht, denn er

gesellte sich ihnen als reisender Heiler bei und verzichtete dazu auf das graue

Gewand seiner Zunft. Er wandelte seine Gesichtszüge, indem er sie etwas

älter erscheinen ließ, und veränderte seinen hüftlangen grauen Bart zu einem

kurzen Bartwuchs, wie er bei den Pferdelords beliebt war. Er wählte ein nicht

zu neu wirkendes Gewand, eine Hose mit Wams und einen knöchellangen

Gehrock, der vorne geschnürt wurde und in den einfachen Farben des

Stadtvolkes gehalten war. Um die Hüften trug er den geflochtenen

Ledergürtel mit den zahlreichen kleinen Taschen und Beuteln, die zur

Aufbewahrung des Zubehörs der Heilerzunft dienten.


Seinen geliebten mannshohen Stab musste er verbergen, und dazu schlang

er sich die Trageriemen eines Streckbrettes über die Schultern, durch das der

Stab gerade noch vor fremden Blicken geschützt war. Das Streckbrett diente

dem Richten und Fixieren gebrochener Beine, war also entsprechend lang,

doch ragte der Stab noch immer weit darüber hinaus, und so viele Dinge ein

Graues Wesen auch zu wandeln vermochte, sein Stab gehörte nicht dazu. So

erklärte er ihn den Mitreisenden kurzerhand als Zubehör für eine neue

Methode der Heilerkunst und verlor sich in umständlichen Worten, wenn

nach ihrer Wirkungsweise gefragt wurde, bis die neugierigen Fragen

schließlich versiegten.


Unter anderen Umständen hätte Marnalf die Reise wohl genossen.


Er liebte die weiten Ebenen, in denen das Pferdevolk lebte, die großen

Wälder und die saftigen Weidegründe. Die Vielfalt des Lebens hatte ihn stets

fasziniert, und noch immer, nach all den vielen Jahreswenden, konnte er sich

am Wunder einer Wildblume erfreuen. Die Reise verlief ereignislos, wenn

man von einem vorbeiziehenden Regensturm absah und dem kurzen

Aufenthalt, der verursacht wurde, als eine riesige Hornviehherde den Weg

versperrte. Doch schließlich tauchte in der Ferne die typische Silhouette

Merdonans mit der hohen Nadel der Ostwache auf, lange bevor die Stadt

selbst sichtbar wurde.


Je näher die Karawane der Hauptstadt der Ostmark kam, desto

sorgenvoller wurden Marnalfs Gedanken. Jenseits der Stadt sah er die

gewaltige Kontur des Ostgebirges mit der sich darüber auftürmenden

schwarzen Wolkenwand. Beinahe hätte er seinen Schritt beschleunigt, und er

musste sich zwingen, ebenso langsam und müde wie die anderen

Karawanenteilnehmer zu wirken, die sich gemächlich dem Stadttor näherten.


Er kannte Merdonan aus vergangenen Tagen, und doch musterte er die

runde Mauer mit dem überdachten Wehrgang aufmerksam. Nichts wies

darauf hin, dass die Menschen Merdonans die heraufziehende Gefahr

erahnten. Gemächlich schlenderten ein paar Schwertmänner auf dem

Wehrgang entlang, durch die hölzerne Überdachung vor der grellen Sonne

geschützt. Auch die beiden Wachen am Haupttor wirkten entspannt und

waren sichtlich erfreut über die Abwechslung, die ihnen die Ankunft der

Karawane bot. Kinder tollten auf der Mauerkrone, und eine Gruppe von ihnen

eilte neugierig herbei, um die Neuankömmlinge zu betrachten.


»Seid uns willkommen«, sagte der Wachführer freundlich zu dem

Karawanenführer und musterte die Kolonne der schwer beladenen Gespanne.

»Was bringt Ihr uns für Waren?«


Der Karawanenführer, der in diesem Fall auch der Handelsherr der

Kolonne war, lächelte ebenso freundlich von seinem Pferd herunter. »Vor

allem Eisenplatten, guter Herr.«


»Dann seid Ihr doppelt willkommen«, versicherte der Schwertmann. »Ihr

werdet einen guten Handel abschließen können. Eisen können wir stets

gebrauchen.«


Der Händler lächelte. Die Ostmark hatte nur wenige Stellen, an denen sich

Erze schürfen ließen, und man konnte in Merdonan mit vorgefertigten

Eisenplatten gute Geschäfte machen. Die Schmiede würden um das

Rohmaterial feilschen und es dann hastig zu ihren Werkstätten schleppen, um

es zu Töpfen, Pfannen, Beschlägen, Werkzeugen, Waffen und Rüstungen zu

formen. Es gab so viele Dinge, die aus dem hier kostbaren Eisen gefertigt

werden mussten. Nadeln und Scheren, Messer und Brennsteinbecken,

Schaufeln und Hacken … Ja, es würde wieder ein gutes Geschäft werden. Im

Tausch würde er die hervorragende Wolle der Ostmarkschafe und feinstes

Leder für die Schuhmacher von Enderonas erwerben und Fässer mit jenem

klaren Getränk, das hier in Merdonan aus Gerste gebrannt wurde. Auch

woanders wurde dieses Getränk gebrannt, doch die Menschen aus Merdonan

fertigten es auf eine besondere Weise, wodurch es in den anderen Marken

sehr geschätzt wurde. Die Differenz aus dem Geschäft würde der Händler

sich in gezeichneten und gebrannten Tontäfelchen auszahlen lassen oder, falls

dies in Merdonan vorhanden war, in den aus Gold bestehenden Schüsselchen,

dem Zahlungsmittel des Königreiches von Alnoa.


»Am besten fahrt Ihr die Wagen gleich hier nach rechts und links«, riet der

Wachführer. »Die Schmieden liegen entlang der Stadtmauer, und hier könnt

Ihr auch Euer Eisen in den Lagerhäusern stapeln, bis die Käufer es sich

holen.« Er wandte den Blick zu Marnalf. »Und Ihr, guter Herr? Ihr seht mir

nicht nach einem Handelsgehilfen aus. Was ist Euer Begehr?« Er musterte

den guten Grauen. »Ihr seid ein Heiler, nicht wahr? Ich sehe den Gürtel Eurer

Zunft.«


Marnalf nickte. »Ein Heiler, ja. Ich reise durch die Marken, um meine

Kunst anzubieten und mein Wissen zu mehren.«


Das war nicht ungewöhnlich, denn ein Heiler gab sein Wissen an seinen

Nachfolger weiter, und es gab kaum eine Gelegenheit, zu der die Männer und

Frauen der Heilerzunft sich trafen und untereinander austauschen konnten.

Zudem konnten die wenigsten von ihnen die Schriftzeichen deuten. So war

der Besuch untereinander die einzige Möglichkeit, sein Wissen zu mehren

und weiterzugeben. Aber es geschah nur selten, denn kein Heiler ließ seine

Wirkungsstätte gerne allzu lange ohne seine Heilkunst zurück.


»Ihr werdet Eure Kunst kaum ausüben können, guter Herr Heiler. Der

unsere ist sehr fähig und hat tüchtige Gehilfen. Ihr findet den guten Herrn

Baralf ein Stück die Hauptstraße hinunter. Überquert den Markplatz und geht

weiter auf das Haus unseres Pferdefürsten und die alte Ostwache zu. Ein

Stück davor findet Ihr das Heilerhaus Baralfs. Ihr könnt es nicht verfehlen,

guter Herr. Es ist dort, wo das Jammern am lautesten ist, und außerdem hängt

ein Schild über der Tür, das eine Zange zeigt.«


Das Symbol war nicht selten für die Heilerzunft; oft genug mussten

schadhafte Zähne entfernt werden. Marnalf nickte und verabschiedete sich

von dem Händler und seinen Gehilfen. Während die schweren Frachtwagen

zu den Lagerhäusern rollten, wo sie abgeladen wurden, schlenderte Marnalf

die belebte Hauptstraße entlang, doch musste er sich zwingen, langsam zu

gehen.


Je näher er dem Markplatz und der dahinterliegenden Ostwache kam, desto

stärker wurde seine Unruhe. Eine unsichtbare Bedrohung lag über der Stadt,

und Marnalf hoffte, dass es noch nicht zu spät war, ihr erfolgreich zu

begegnen.


Die Pferdelords 04 - Das verborgene Haus der Elfen

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