Читать книгу Die Pferdelords 04 - Das verborgene Haus der Elfen - Michael Schenk - Страница 4
Kapitel 2
ОглавлениеIn der Gegenwart…
Sommer in der Hochmark: Das bedeutete brütende Hitze, die am Tag über
den Tälern lag und die kaum gelindert wurde, wenn ein sanfter Wind durch
die Täler strich. Die Felsen hatten sich aufgeheizt und strahlten selbst in der
Nacht noch lange ihre Wärme ab, die sich erst gegen Morgen verlor. Nur
wenige Stunden der Kühle, bis die Sonne sich erneut über das Land erhob und
es mit Licht und Wärme übergoss. So unerbittlich schroff die Wintermonde
sein konnten, in denen ein Herdenwächter auf seiner einsamen Wache gegen
Kälte und Müdigkeit ankämpfte, so schonungslos gleißend konnten die
Sommermonde sein. Die Menschen und Tiere drängten sich an jenen Stellen,
an denen es ausreichend Wasser gab, um den Durst zu stillen und den Leib,
wenigstens vorübergehend, zu kühlen.
Auch die beiden Reiter, die im leichten Trab auf den Horngrundweiler
zuhielten, litten unter der Hitze. Sie trugen keine Helme, und ihre
unbedeckten Haare klebten verschwitzt an ihren Schädeln. Dennoch hätten sie
niemals darauf verzichtet, ihre bodenlangen grünen Umhänge zu tragen, die
Zeichen ihrer Ehre als Pferdelords. Der eine der beiden war ein schlanker
junger Mann, der Jagdbogen und Köcher führte. Der Reiter neben ihm war
ungewöhnlich klein gewachsen für einen Mann des Pferdevolkes, und die
Falten und Narben seines Gesichts verrieten sein Alter, noch bevor man die
Augen des Mannes erblickte. Obwohl beide Männer nicht gerüstet waren und
keine Schilde hatten, hing eine ungewöhnlich langstielige Axt am Sattelknauf
des kleinen Reiters. Dieser ritt einen grobknochigen Wallach, der Größere
hingegen einen braunen Hengst mit einer weißen Blesse an der Stirn. Hinter
den Reitern wölbten sich lederne Tragetaschen an den Sätteln, deren bauchige
Formen verrieten, dass sie prall gefüllt waren.
»Vielleicht sollten wir es uns doch noch einmal überlegen, Nedeam, mein
Freund«, brummte der kleinwüchsige Reiter und blickte nachdenklich zu dem
Weiler hinüber, den sie bald erreichen würden.
Nedeam schüttelte den Kopf und sah seinen älteren Freund und Mentor
Dorkemunt kurz an. »Wir haben es schon oft besprochen, Dorkemunt, mein
Freund. Mit den Schafen allein kommen wir nur gerade eben über die
Runden. Wenn wir zwei oder drei der Tiere verlieren, wird es bereits
schwierig, die Wintervorräte einzuhandeln, und es gibt nicht genug Wild, das
wir stattdessen jagen könnten.« Nedeam schüttelte erneut den Kopf und strich
sich eine Strähne seines verschwitzten Haares aus der Stirn. »Nein, wir
müssen zusehen, dass wir außer den Schafen auch ein paar Hornviecher
aufziehen. Das gibt zusätzliches Fleisch, Milch und Leder.«
Dorkemunt stieß ein leises Brummen aus. »Du hast ja recht. Aber glaube
mir, der Umgang mit Hornvieh ist nicht so einfach, wie du es dir vorstellst.
Ich war früher Herdenwächter einer Hornviehherde, und ich weiß, wovon ich
spreche.«
Nedeam drang nicht weiter auf seinen Freund ein, denn er wusste, dass er
damit einen wunden Punkt in Dorkemunts Vergangenheit berührt hätte. Vor
etlichen Jahreswenden war der kleine Pferdelord Herdenwächter in einem
Weiler der unteren Marken gewesen und hatte bei einem Überfall der Orks
seinen Sohn, die Schwiegertochter und seine geliebte Frau verloren. Die Orks
hatten den Weiler niedergebrannt und alles Leben ausgelöscht, und
Dorkemunt war nichts geblieben als der Hass. Doch dann war er dem 12-
jährigen Knaben Nedeam begegnet und hatte ihn unter seinen Schutz
genommen. Inzwischen waren sie beide älter an Jahren und einander in fester
Freundschaft verbunden. Sie bewirtschafteten gemeinsam das kleine Gehöft,
das Nedeam nach dem Tod seines Vaters Balwin von seiner Mutter Meowyn
übernommen hatte. Sie nannten es noch immer Balwins Gehöft, obwohl es
nun eigentlich Nedeams Namen hätte tragen müssen.
Keiner der beiden ungleichen Pferdelords hätte sich vorstellen können,
ohne den anderen in den Kampf zu ziehen. Sie waren ein ebenso
unzertrennliches wie unverwechselbares Gespann, und als nun einige
Bewohner des Weilers den schlanken, hochgewachsenen Reiter neben dem
Kleinwüchsigen sahen, wussten sie sofort, dass es sich um Nedeam und
Dorkemunt von Balwins Gehöft handelte.
Es war Mittag, und die hoch stehende Sonne brannte unbarmherzig vom
Himmel herab. Selbst die zahlreichen Kratzläufer, die sonst emsig zwischen
den Häusern des Horngrundweilers umherliefen und nach Körnern und
Würmern pickten, wirkten von der Hitze erschöpft. Nedeam und Dorkemunt
rann der Schweiß übers Gesicht, und die Kleidung klebte ihnen am Leib, als
sie zwischen den Häusern hindurchritten und die Pferde zum größten Haus
hinüberlenkten.
»Sitzt ab und seid uns willkommen, Ihr guten Herren«, grüßte eine ältere
Frau und gab ihrem Sohn einen Wink, damit er sich der Pferde annahm.
»Nehmt es uns nicht übel, gute Frau«, lehnte Dorkemunt das Angebot ab.
»Es sind unsere Pferde, und wir kümmern uns selbst um sie.«
»Wahre Pferdelords«, erwiderte die Alte. »Erst das Pferd und dann der
Mann.«
»So ist es Brauch.«
Sie ließen die Pferde trinken und steckten anschließend selbst die Köpfe in
die Tränke, die vor dem Haus stand. Nedeam prustete erleichtert und ließ das
kühle Wasser lächelnd aus seinen Haaren fließen. »Ah, das tut gut. Eine
verfluchte Hitze ist das heute.«
Die Frau nickte. »Es wird einen schweren Regensturm geben, Ihr Herren.
Es ist nicht die Hitze, die uns zu schaffen macht, sondern die Schwüle des
aufziehenden Sturms.«
Nedeam blickte forschend zum makellos blauen Himmel empor. Sein
Freund Dorkemunt nickte. »Ihr habt womöglich recht, gute Frau. Ich kann es
in den Knochen spüren.«
Die Frau lachte auf. »Ja, in unserem Alter spürt man so manches in den
Knochen, guter Herr Dorkemunt. Kommt, tretet in den Schatten des Hauses,
Ihr wollt ja sicher zu meinem Mann.«
»Ist der Älteste denn da?«
»Natürlich ist er da.« Die Frau führte sie in den unteren Raum des Hauses.
Schatten umfing sie, der die Hitze jedoch nur wenig linderte.
Das Haus des Weilerältesten war weitaus größer als die anderen Häuser
des Horngrundweilers. Denn hier wurden die Versammlungen der Bewohner
abgehalten, wenn die Witterung dergleichen auf dem Weilerplatz nicht zuließ.
Entsprechend geräumig war das Haus gebaut worden. Fast fünf Längen breit
und fünfzehn lang war das Untergeschoss, ein einziger großer Raum, der nur
von den gemauerten Säulen unterbrochen wurde, welche Obergeschoss und
Dach stützten. Alle Wände wiesen kleine Fenster auf. Normalerweise waren
die Öffnungen mit Rahmen versehen und durch gespannte Darmhaut
verschlossen, aber bei der herrschenden Hitze waren sie entfernt worden und
standen nun neben den metallenen Blenden, mit denen man die Fenster bei
schwerem Wetter oder einem Angriff abdecken und in schmale
Schießscharten verwandeln konnte.
In einem Teil des Raumes saß eine Gruppe Kinder um einen älteren Mann
herum. Ein greises Paar vermittelte ihnen bestimmte Tätigkeiten, mit denen
die einzelnen Bewohner des Weilers zum Gemeinwohl beitrugen. Alle Kinder
des Pferdevolkes wurden auf solche Weise in die Traditionen eingeführt und
in den Zusammenhängen des Lebens unterwiesen. Ihre Eltern oder ältere
Bewohner führten sie durch die Handwerksbetriebe und zeigten ihnen die
Vielfalt der Aufgaben, die das künftige Leben für sie bereithielt. Auch
Maßeinheiten und die Kenntnis der Zahlen gehörten dazu, Letztere aus den
praktischen Erfordernissen des Handels und der Waffenkunst. Alles Wissen
wurde mündlich vermittelt, denn kaum ein Mensch des Pferdevolkes
vermochte die Zeichen der Schrift zu setzen oder zu deuten.
An der Stirnseite des Raumes standen ein langer Tisch und eine Reihe von
Schemeln, dahinter eine große Truhe. Eine gemauerte Treppe führte ins
Obergeschoss, wo der Älteste mit seiner Familie wohnte. Hinter dem Tisch
hing über der Truhe ein Rundschild an der Wand. Er hatte die grüne Farbe des
Pferdevolkes und den blauen Rand der Hochmark. In Weiß war auf seine
Mitte ein gewundenes Horn aufgemalt, das Wahrzeichen des Weilers.
Pontim, der Älteste, stand über die geöffnete Truhe gebeugt und richtete
sich mit leisem Ächzen auf, als er die Stimmen hinter sich hörte. Sein Gesicht
verzog sich zu einem erfreuten Lächeln. »Ah, die Herren Dorkemunt und
Nedeam. Was führt Euch bei dieser Hitze zu uns in den Horngrund?«
Es war nicht selten, dass die Menschen der Gehöfte in die Weiler kamen,
doch hatte es stets einen besonderen Anlass. Auf den Gehöften lebten
einzelne Personen oder Familien. Meist war es ein Paar mit seinen Kindern.
Da dort kein Anbau, sondern Viehzucht betrieben wurde, bedeutete der
Besuch eines Weilers durch den einen Partner stets, dass sich der
Zurückbleibende allein um Kinder und Vieh kümmern und sie schützen
musste. Doch kein Reiter des Pferdevolkes ließ seine Angehörigen gerne ohne
seinen Schild und Waffenarm zurück, wenn auch die Frauen der Gehöfte sich
im Umgang mit den Waffen übten und zumindest Pfeil und Bogen
beherrschten.
Die Menschen der Gehöfte handelten mit der geschorenen Wolle der
Schafe, dem Leder des Hornviehs und mit dem Fleisch der Tiere. Gegen diese
Waren tauschten sie ein, was sie auf ihrem Gut nicht erzeugten: Metall- und
Holzwaren, Bekleidung, Brennstein für die Lampen und jene Lebensmittel
und Gewürze, die der eigene Boden nicht hervorbrachte. Manchmal konnte
ein Gehöft etwas Gewinn erwirtschaften und ermöglichte Rücklagen für
kargere Zeiten. Manchmal jedoch mussten die notwendigen Waren im Weiler
gegen Arbeitskraft getauscht werden, und der Mann vom Gehöft arbeitete
dort eine Weile, bis die Schuld beglichen war. In selteneren Fällen tauschten
die Bewohner der Gehöfte auch Schafe oder Hornvieh, aber dann mussten
sich die Herden schon gut vermehrt haben, denn die Tiere waren die
Lebensgrundlage der Einsiedler.
Ein solcher Tausch war der Grund für den Besuch von Nedeam und
Dorkemunt. »Wir wollen Waren gegen ein paar Hornträger zur Zucht
eintauschen, guter Herr Pontim.«
»Oh.« Pontim grinste breit. »Da habt Ihr Glück, Ihr Herren. Dieses Jahr
schenkte uns etliche neue Kälber, und es wird Euch sicher möglich sein, ein
paar Kühe und einen Bullen zu erstehen. Ihr wollt Euch nun also als
Hornviehzüchter versuchen?«
Nedeam wies auf seinen Freund. »Dorkemunt hat einige Erfahrungen
damit.«
Pontim sah den kleinwüchsigen Pferdelord freundlich an. »Die wird er
brauchen, der gute Herr Dorkemunt. Unser Hornvieh ist noch nicht mit dem
der anderen Marken gekreuzt. Es sind echte, unverfälschte Rinder der
Hochmark. Mit kraftvollem Fleisch, gewürzt von den Kräutern unserer
Landschaft, aber auch mit einem kraftvollen Temperament.« Er nickte zu
seinen Worten. »Doch das werdet Ihr sicherlich zu beherrschen lernen.«
Pontims Frau zuckte bedauernd die Schultern. »Ihr hättet in drei
Tageswenden kommen sollen. Dann gibt es im Weiler eine Verbindung und
zu Ehren des Paares ein schönes Fest mit Musik und Tanz.«
»Und mit unserem starken Gerstensaft«, fügte Pontim hinzu. »Nicht dieses
gepanschte Zeug, das man Euch in Eternas geben würde. Vielleicht wollt Ihr
über die Tageswenden bleiben?«
Das war ein verlockendes Angebot. Es gab nicht oft die Gelegenheit, in der
Gemeinschaft eines größeren Weilers zu feiern, und eigentlich nutzten die
Menschen des Pferdevolkes jede Möglichkeit zu geselligem Beisammensein.
Viermal, zwischen den einzelnen Jahreszeiten, traf man sich in den Weilern
oder in der Stadt Eternas zum Handel, und dann gab es immer Musik und
Tanz, Wein und Gerstensaft. Viele der Familien trieben zu diesen Anlässen
sogar ihre Herden mit sich, um sie nicht schutzlos zurückzulassen. Der
Pferdefürst unterstützte dies, denn er hielt es für eine gute Übung für den Fall,
dass die Hochmark bedroht wurde und die Menschen mit ihrer Habe nach
Eternas flüchten mussten.
Nedeam schüttelte bedauernd den Kopf. »Habt Dank für dieses Angebot,
guter Herr Pontim, aber wir wollen das Gehöft und unsere Schafe nicht so
lange sich selbst überlassen. Zumal unser Zuchtbock im Augenblick
unberechenbar ist.«
Dorkemunt nickte. »Es ist das Alter oder die Brunft. Bei ihm lässt sich das
nicht genau sagen.«
Nedeam wies auf die offene Truhe. »Verzeiht, guter Herr Ältester, aber
würdet Ihr es mir zeigen?«
Pontim blickte unwillkürlich zur geöffneten Truhe hinüber. »Das Horn des
Weilers?« Als Nedeam nickte, lächelte der Alte. »Natürlich zeige ich es Euch.
Kommt um den Tisch herum, ich will es nicht aus der Truhe heben. Es ist
schon alt und brüchig.«
Auch Dorkemunt trat an die Truhe heran, obwohl er das Horn zuvor schon
einmal gesehen hatte. Noch immer übte es eine Faszination auf ihn aus.
Pontim schlug in der Truhe ein dickes Tuch auseinander, das man zum
Schutz vor der Witterung geölt hatte. Zwischen den Falten des Stoffes wurde
das Wahrzeichen des Horngrundweilers sichtbar.
Es war ein sehr ungewöhnliches Horn. Rund eine halbe Länge lang, war es
an seinem einen Ende so dick wie ein Handgelenk und verjüngte sich nach
vorne bis auf Daumenbreite. Möglicherweise war es einmal spitz wie ein Pfeil
gewesen, aber das ließ sich nun nicht mehr mit Bestimmtheit sagen. Es war
ganz offensichtlich aus dem Material aller übrigen Tierhörner und sehr alt,
denn Risse und Bruchstellen waren zu sehen. Die Männer des Horngrundes
hatten es im Boden entdeckt, als sie den Weiler errichteten, und den Ort
danach benannt. Sie hielten es in Ehren, und Pontims Aufgabe war es, das
Horn aufzubewahren und vor Schaden zu behüten.
»Ob es wirklich ein Horn ist?« Nedeam wollte mit den Fingern sanft über
das Material streichen, aber Pontim hielt seine Hand fest und schüttelte den
Kopf.
»Nicht, guter Herr Nedeam. Es ist wahrlich alt und könnte unter der
Berührung leiden. Ja, ich denke schon, dass es ein Horn ist, auch wenn es eine
ungewöhnliche Form hat.«
»Ein merkwürdiges Tier muss das gewesen sein«, brummte Dorkemunt.
Das Horn war vollkommen gerade, dabei jedoch viele Male in sich
verwunden, wie bei dem Gehäuse einer Schnecke. »Ein Hornviech mit zwei
solchen Hörnern würde jedenfalls kaum durch die Talenge passen.«
Nedeam lachte bei der Übertreibung seines Freundes auf, doch Pontim
knurrte leise. »Redet keinen Unsinn, guter Herr. Es wird sie nach vorne
gerichtet getragen haben. Wie jene Waldtiere aus den unteren Marken.«
»Habt Ihr denn das zweite gefunden?«
»Leider nicht.« Pontim schlug das Tuch wieder behutsam über dem
Symbol zusammen. »Nicht einmal den zugehörigen Schädel. Aber beides
muss es gegeben haben. Jedenfalls wüsste ich kein Tier zu nennen, das nur
ein Horn am Schädel trägt.«
Nedeam kratzte sich unsicher im Nacken. »Vielleicht war es eine Waffe,
die jemand verloren hat. Eine Lanze möglicherweise.«
»Wir werden es wohl nie erfahren.« Pontim schloss den Deckel der Truhe
und richtete sich auf. »Sein Träger ist in jedem Fall schon lange tot. Vielleicht
wissen die Herren Elfen, welches Wesen es einst trug.«
Nedeam nickte. »Wir sollten den Hohen Herrn Lotaras aus dem Hause
Elodarion einmal fragen, ob er ein solches Horn kennt.«
»Wenn sich unsere Wege jemals wieder kreuzen sollten.« Dorkemunt
seufzte. »Doch wer vermag schon die verschlungenen Pfade des Schicksals
vorherzusagen?«
»In jedem Fall vermag ich zu sagen, dass Ihr Hunger habt, Ihr guten
Herren«, meldete sich die Frau des Ältesten zu Wort. »Ich kann das Knurren
Eurer Mägen bis hierher hören. Nein, widersprecht mir nicht, Ihr Herren. Erst
wird gegessen, dann könnt Ihr Euren Handel machen.«
»Sie hat recht.« Pontim wandte sich zur Tür, wo nun ein Knabe erschien.
»Geh zu Rufus und sage ihm, die guten Herren Nedeam und Dorkemunt
wollen einen Handel mit ihm schließen. Und Ihr«, er wandte sich zu den
beiden Pferdelords um, »werdet jetzt erst einmal ordentlich zulangen. Wir
haben heute Morgen frisches Brot gebacken und ein Rind geschlachtet.«
Sie saßen im Obergeschoss des Hauses in der Wohnstube der Familie, als
unter ihnen schwere Schritte ertönten und eine kräftige Stimme nach ihnen
rief. »Wo sind sie? Wo sind die Pferdelords, die einen Handel machen
wollen?«
»Sie sind hier oben, guter Herr Rufus«, rief die Frau des Ältesten. »Und
wenn Ihr sie nicht in Ruhe essen lasst, werden sie so vom Fleisch fallen, dass
sie nie wieder einen Handel machen können.«
Die Schritte polterten die Treppen herauf, und das breite Gesicht eines
stämmigen Mannes erschien. »Ah«, rief er erfreut, als er Nedeam und
Dorkemunt erkannte. »Die guten Herren von Balwins Gehöft. Seid gegrüßt,
Pferdelords.«
»Setzt Euch zu uns, Rufus«, lud ihn der Weilerälteste ein. »Es ist genug für
alle da, und Ihr seht hungrig aus.«
»Der gute Herr Rufus ist immer hungrig«, lachte seine Frau und füllte eine
weitere Schale.
»Und durstig«, bekannte der Hornviehzüchter. »Wenn Ihr noch einen Krug
Wasser hättet, gute Frau?«
Auch Rufus trug trotz der Hitze einen Umhang. Er war aus schwerer
brauner Wolle und wurde von zwei Lederriemen verschlossen. Die Menschen
des Pferdevolkes färbten ihre Umhänge je nach Vorliebe mit den geeigneten
Kräutern, Wurzeln oder Pilzen. Alle möglichen Farben waren vertreten, doch
Grün blieb allein den Pferdelords vorbehalten. Rufus hatte nie den Eid als
Kämpfer abgelegt und widmete sich lieber seinem Hornvieh als den
Wehrübungen. Dennoch verstand er es, mit Axt, Pfeil und Bogen umzugehen,
was schon so manches Raubtier schmerzhaft hatte feststellen müssen.
»Ihr wollt Hornvieh erstehen?«, fragte Rufus mit vollem Mund und zog
hastig die Schüssel mit Fleisch zu sich heran, als die Frau des Ältesten sie
fortstellen wollte. »Ihr tut gut daran, zu mir zu kommen. Ich habe erstklassige
Kälber, und es ist gutes Hochmarkvieh, nicht diese verwöhnten Rassen aus
den unteren Marken. Meine Tiere tragen noch Temperament in sich und ein
dichtes Fell gegen die Eisstürme des Winters. Ich kann Euch ein paar
überlassen, wenn wir uns einig werden. Wolle und Leder im Tausch, meintet
Ihr?«
Nedeam nickte. Da Balwins Gehöft offiziell in seinen Besitz übergegangen
war, lag es an ihm, den Handel abzuschließen. »Wolle und Leder. Vom
Besten.«
»Nun, das will ich glauben. Eure Schafe tragen gute und dichte Wolle. Wir
werden schon übereinkommen.« Rufus schmatzte behaglich, ließ seine Zunge
durch die geleerte Schale gleiten und lehnte sich dann mit einem
vernehmlichen Aufstoßen zurück. »Warum wollt Ihr Hornvieh züchten? Es
wird Euch viel Arbeit machen, Ihr guten Herren. Im Weiler sind genug
Männer, um sich bei der Herdenwache abzuwechseln, aber Ihr seid nur zu
zweit, und die Hornviecher müsst Ihr gut im Auge behalten.«
»Wir haben einen Pferch vorbereitet«, erwiderte Nedeam.
»Einen … was?«
»Wir haben ein Stück des Tals umzäunt. Wie man es für Pferde macht, die
noch nicht zugeritten sind«, erklärte Dorkemunt. »Da hinein werden wir das
Hornvieh sperren.«
Rufus lachte gutmütig. »Das mag das Hornvieh aus den unteren Marken
zusammenhalten, aber nicht unseres. Meine Tiere verfügen über
Temperament, erwähnte ich das nicht?«
»Ihr tatet es«, brummte der kleinwüchsige Pferdelord. »Aber glaubt mir,
auch die Rinder der unteren Marken können kräftig mit den Hörnern stoßen.
Doch keine Sorge, ich weiß einen festen Zaun zu errichten.«
Rufus wirkte verwirrt. »Eine merkwürdige Vorstellung, Hornvieh hinter
einen Zaun zu sperren. Wozu wollt Ihr einen Zaun, guter Herr Dorkemunt?
Die Felswände der Mark sind hoch und steil, auch der stärkste Bulle vermag
sie nicht zu ersteigen. Zudem braucht das Vieh viel Bewegung und gutes Gras
und Kraut. Das macht sein Fleisch fest und schmackhaft und lässt es nicht so
wabbelig und fettig werden wie das der Hornviecher aus den unteren
Marken.«
Der Viehzüchter zuckte seine breiten Schultern. »Aber nun, ich will Euch
da nicht hineinreden, Ihr guten Herren. Lasst uns sehen, welche Ware Ihr
gebracht habt.«
Im Haus war es immer noch heiß genug gewesen, aber als sie nun wieder
hinaus in die pralle Sonne traten, trieb es ihnen sofort den Schweiß aus allen
Poren. Rufus blickte zum Himmel hinauf. »Wird einen schweren Regensturm
geben. Man kann es riechen. Wir sollten uns beeilen. Bei einem solchen
Sturm wird es schwer für Euch, das Hornvieh nach Hause zu treiben. Es ist
zwar temperamentvoll, aber auch ein wenig schreckhaft.«
Nedeam und Dorkemunt hoben die Packtaschen von den Pferden, und
Rufus begutachtete ihre Waren mit kundigen Augen und Händen. »Es ist gute
und dichte Wolle«, stellte er fest. »Schade nur, dass Ihr sie nicht zu Fäden
spinnen könnt, dann würdet Ihr einen weitaus besseren Preis erzielen. Aber
nun wird meine Frau dies tun und die Wollfäden dann in Eternas feilbieten.
Auch das Leder gefällt mir. Sehr fein und doch fest. Daraus lassen sich gute
Handschuhe fertigen. Nun, ich denke, ich kann Euch dafür einen Jungbullen
und zwei etwa gleichaltrige Kühe geben.«
Dorkemunt runzelte die Stirn, aber Nedeam blickte über die Schulter
seines Freundes hinweg auf den Ältesten, der zu Rufus’ Worten nickte. Er
schien den Handel als fair zu empfinden. Dennoch war es nicht das Geschäft,
das Nedeam vorschwebte. »Legt noch einen Bullen und eine Kuh drauf, guter
Herr Rufus.«
Der Züchter schüttelte den Kopf. »Auch wenn dies erstklassige Ware ist,
mehr kann ich Euch dafür nicht geben. Aber ich versichere Euch, ich werde
gute Tiere aussuchen.«
Rufus würde die beiden nicht über den Tisch ziehen. Das Miteinander des
Pferdevolkes basierte auf einem fairen und ausgewogenen Handel. Nedeam
seufzte leise. »Das will ich gerne glauben. Aber wenn dem Bullen oder einer
der Kühe etwas geschieht …«
»Das Risiko trägt jeder Züchter«, brummte Rufus. Er strich sich
nachdenklich über das Kinn. »Mehr zu geben, wäre nicht richtig, Ihr guten
Herren, nehmt mir das nicht übel. Aber ich will Euch einen Vorschlag
machen. Sollte einem der Tiere ein Unglück geschehen, so will ich Euch
Ersatz geben. Aber dafür müsst Ihr mir zusichern, dass Ihr mir in dem Fall
das dritte und vierte Kalb überlasst.«
Nedeam nickte. »So soll es sein.«
Der Handel war geschlossen, und selbst wenn es keinen Zeugen gegeben
hätte und die Bedingungen nur zwischen Nedeam und Rufus ausgehandelt
worden wären, so hätte keiner von ihnen jemals die Vereinbarung verletzt.
Das gesprochene Wort galt viel im Pferdevolk, und wer es verletzte, verlor
seine Ehre. Ehre war jedoch ein Teil des Lebens. Einem Menschen mochte
durch das Schicksal alles genommen werden, doch die Ehre konnte ihm
niemand nehmen, außer, er tat es selbst.
»Kommt, ich zeige Euch die Tiere, die ich Euch geben will.« Rufus winkte
den Sohn des Ältesten heran. »Trage Wolle und Leder zu meinem Haus. Die
Frauen des Horngrunds sollen sich darum kümmern.« Er sah die beiden
Pferdelords an. »Ihr habt Riemen dabei? Nein? Gut, der Junge soll welche
bringen, Ihr müsst die Viecher ja irgendwie nach Hause bekommen.«
Das Hornvieh des Weilers weidete unweit der Häuser. Es war eine große
Herde von etlichen Hundert Tieren, die von zwei Herdenwächtern
beaufsichtigt wurde. Einige Kinder spielten unbefangen zwischen Kühen und
Bullen, wobei die älteren darauf achteten, dass keiner ihrer jüngeren
Spielgenossen in Gefahr geriet. Rufus und die beiden Pferdelords schritten
zwischen den Gruppen der Tiere hindurch, und der Viehzüchter wählte einen
Bullen und zwei Kühe aus, die gerade im zeugungsfähigen Alter waren.
»Ein prachtvolles Exemplar. Nicht mehr lange, und er würde dem
Leitbullen der Herde den Rang streitig machen.«
Es gab keine Markierungen an den Tieren, man konnte sie allenfalls an den
unterschiedlichen Färbungen und Schattierungen des Fells unterscheiden. Sie
waren das Gemeinschaftseigentum des Weilers und gehörten allen
Bewohnern gleichermaßen. Auch Leder und Wolle, die Nedeam und
Dorkemunt eingetauscht hatten, würden in den Besitz des Weilers übergehen.
Dorkemunt betrachtete den jungen Bullen und nickte bedächtig. »Wir
werden die Kühe vorauslaufen lassen. Er ist jung und stark und wird ihnen
bereitwillig folgen.«
Dorkemunt und Rufus tauschten noch eine Weile ihre Erfahrungen mit
Hornvieh aus, doch dann war es an der Zeit, sich auf den Heimweg zu
machen.
Bullen waren ausgesprochen eigensinnige Tiere und schwer beherrschbar,
vor allem, wenn sie ihrem Trieb folgten. Nedeam und Dorkemunt machten
sich aber genau dies zunutze. Sie trieben die beiden gutmütigen Kühe vor sich
her, und der junge Bulle folgte ihnen. Die beiden Pferdelords waren
erleichtert, als sie wieder das Gehöft erreichten und die Hornviecher endlich
in die vorbereitete Koppel treiben konnten.
Dorkemunt ritt auf seinem Wallach am Zaun entlang, beugte sich
gelegentlich zur Seite und prüfte die Bindungen, mit denen die Stangen des
Pferches an den Pfosten befestigt waren. »Vielleicht hätten wir besser Seile
besorgen sollen«, meinte er zögernd. »Die Lederriemen werden rasch
verwittern. Wir müssen ein Auge darauf haben.«
»Meinst du, der Bulle würde sich davonmachen, wenn der Zaun
nachgibt?«
Dorkemunt nickte. »Er liebt die Freiheit, wie alle denkenden Wesen.« Der
kleinwüchsige Pferdelord lachte belustigt auf. »Und wie bei so vielen
denkenden Wesen lässt sein Verstand nach, wenn es um die Brunft geht. Ich
denke, die beiden Kühe werden ihn eher im Pferch halten als das Holz und
Leder des Zauns.«
Nedeam zuckte die Achseln. »Ich verstehe mich eher auf Schafe.«
Sein Freund lächelte und lenkte seinen Wallach auf das Haus zu. »Wir
sollten uns jetzt erst einmal stärken und dann nach den Schafen sehen.« Er
saß ab und lockerte die Gurte, um das Pferd abzusatteln. »Zudem sollten wir
heute ein wenig ausruhen, Nedeam. Übermorgen ist die Zusammenkunft der
Pferdelords.«
»Ah, ja.« Nedeam lächelte erfreut. »Die jährliche Wehrübung.«
»Und der jährliche Ritt.« Dorkemunt reckte sich und trat mit dem Wallach
an die Tränke, und während sein Reittier soff, schöpfte er Wasser, trank selbst
ein wenig und sah Nedeam treuherzig an. »Ich denke, es wird ein gutes
Rennen werden.«
Nedeam nickte. »Ein gutes Rennen, Dorkemunt, mein Freund, und ich
werde dich schlagen.«