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Überprüfungspostulat

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Die Angabe des „Was“ und „Warum“, die die Wissenschaft zu leisten hat, unterliegt, so Mittelstraß, „strengen Überprüfungspostulaten“. Was heißt das?

Quelle

Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 661

Kant, Immanuel (1968), Kritik der reinen Vernunft. 2. Auflage 1787 (Kants Werke. Akademie-Textausgabe 3), Berlin, 421.

„Ich begnüge mich hier, die theoretische Erkenntniß durch eine solche zu erklären, wodurch ich erkenne, was da ist, die praktische aber, durch die ich erkenne, was dasein soll. Diesemnach ist der theoretische Gebrauch der Vernunft derjenige, durch den ich a priori (als nothwendig) erkenne, daß etwas sei; der praktische aber, durch den a priori erkannt wird, was geschehen solle. Wenn nun entweder, daß etwas sei oder geschehen solle, ungezweifelt gewiß, aber doch nur bedingt ist: so kann doch entweder eine gewisse bestimmte Bedingung dazu schlechthin nothwendig sein, oder sie kann nur als beliebig und zufällig vorausgesetzt werden. Im ersteren Falle wird die Bedingung postulirt (per thesin), im zweiten supponirt (per hypothesin).“

Hypothesen und Postulate

Immanuel Kant (1724–1804) unterscheidet zwei Arten des Vernunftgebrauchs und demnach auch zwei Arten von Erkenntnis. Die theoretische Vernunft fragt nach dem Wahren und zielt darauf ab zu erkennen, „was da ist“. Die praktische Vernunft hingegen fragt nach dem Guten und versucht zu ergründen, „was dasein soll“. Eine Erkenntnis des Wahren oder Guten, die vor aller Erfahrung liegt, nennt Kant „apriorisch“. Wenn nun die Vernunft apriorisch unzweifelhaft erkennt, dass etwas „da ist“ oder „dasein soll“, dieses Wahre oder Gute aber nur als Bedingtes erkennt, muss sie mit der Erkenntnis des bedingten Sachverhaltes auch seine Bedingungen bedenken, selbst wenn sie diese nicht im strengen Sinne erkennen kann. Setzt die Vernunft dabei beliebige Bedingungen voraus, formuliert sie eine Hypothese. Gelingt es ihr jedoch, eine bestimmte Bedingung als notwendige Bedingung eines zweifelsfrei erkannten Sachverhaltes auszumachen, dann stellt sie ein Postulat auf.


Abb. 3: Das „kritische“, das heißt auf eine prüfende Unterscheidung ausgerichtete Denken des Philosophen Immanuel Kant prägt die Standards wissenschaftlichen Argumentierens bis in die Gegenwart.

Wissenschaft und Überprüfbarkeit

Damit erschließt sich, was ein „Überprüfungspostulat“ im wissenschaftstheoretischen Sinne bedeutet: Wissenschaftliches Wissen setzt die Nachvollziehbarkeit der ihm zugrunde liegenden Argumentationen und damit die Überprüfbarkeit von Behauptungen voraus. Bei Disziplinen wie der Mathematik, der formalen Logik oder der Chemie ist das womöglich leicht zu bewerkstelligen, indem nachgerechnet, Denkfehler gesucht oder Experimente durch Wiederholung überprüft werden. Aber auch diese Disziplinen haben, wenn etwa eine neue Theorie aufgestellt wird, bisweilen ein Überprüfungsdefizit. Es gibt Annahmen, die plausibel erscheinen und mit denen sich arbeiten lässt, ohne dass sie im strengen Sinne überprüfbar wären oder es jedenfalls mit den zu einer bestimmten Zeit zur Verfügung stehenden Mitteln noch nicht sind. Die Lage scheint paradox: Eine Disziplin, in der nichts Überprüfbares behauptet wird, ist keine Wissenschaft, sondern reine Spekulation. Eine Disziplin aber, in der alles sofort überprüfbar ist und es keine Hypothesen mehr gibt, scheint in ihrer wissenschaftlichen Entwicklung zum Stillstand gelangt zu sein. Es kommt also offenbar auf die richtige Mischung zwischen sicherem Erkenntnisgrund, der durch Überprüfbarkeit gewonnen wird, und unsicherer Spekulation an, die kontrovers ist und eine Disziplin vorantreibt, indem das, was unmittelbar der Überprüfbarkeit entzogen ist, sich mit dem Überprüfbaren nachvollziehbar verbindet und eines Tages womöglich selbst überprüfbar – und damit als wahr oder falsch erwiesen – wird. Anders gesagt: Die Vitalität einer Wissenschaft zeichnet sich dadurch aus, dass positive und spekulative Momente in ihr zusammenkommen. Positiv ist das, was sich eindeutig überprüfen lässt, weil es sich am Gegebenen als Gesetztem (positum) orientiert, spekulativ hingegen das, was sich – vielleicht noch – nicht überprüfen lässt, was aber dennoch hypothetische Erkenntnisse ermöglicht, die sich dann als Wissen erweisen, wenn sie einst überprüfbar werden. Ohne den positiven Aspekt wäre eine Disziplin keine Wissenschaft, ohne den spekulativen Aspekt würde sie erlahmen.

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