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Probleme der Definierbarkeit
ОглавлениеKritik am Religionsbegriff
Die Einsicht, dass ein römisches Wort, welches erst im Kontext ganz spezifischer, historischer Konstellationen Westeuropas jene Bedeutung angenommen hat, die ihm heute zukommt, nicht alle Phänomene außerhalb seiner Entstehungszeit und seiner geschichtlichen Verortung adäquat beschreiben kann, nährte im Verlauf des 20. Jahrhunderts immer mehr Zweifel an einer universalen Anwendbarkeit des Religionsbegriffs. „Die Ausweitung des Radius des Religionsverständnisses über die Grenzen Europas hinaus bleibt insofern von den eurozentrischen Denkkategorien geprägt, als sie eben das als Religion identifiziert, was mit bestimmten Klassifikationen und Implikationen (etwa ethischer Art) innerhalb der eigenen Kultur als Religion in Erscheinung tritt. In vielen außereuropäischen Kulturen gibt es kein Äquivalent zum allgemeinen Religionsbegriff. […] Die von den westlichen Wissenschaftlern bisher in Anspruch genommene Definitionshoheit impliziert die Gefahr, die Unterschiedlichkeit der Phänomene zu nivellieren, indem sie diese durch Kategorisierungen in eine problematische Vergleichbarkeit versetzt, die zumindest implizit von den jeweiligen Prägungen des eigenen Kontextes orientiert und somit dominiert wird“ (Weinrich 2012, 21f.) – ein Umstand, auf den vor allem sogenannte postkoloniale Ansätze der Wissenschaftskritik aufmerksam machen.
Ausweitungen und Engführungen
Die religionsbezogene Forschung hat in unterschiedlicher Weise auf diese Einwände reagiert. Manche versuchen, den Religionsbegriff so zu weiten, dass seine substanzielle Definierbarkeit durch die Integration weiterer Phänomene sichergestellt werden sollte, indem etwa Begriffe wie „Gott“ durch den allgemeineren Terminus „Transzendenz“ ausgetauscht wurden. Andere schlagen vor, ganz auf eine Definition von Religion zu verzichten, was für religionsbezogene Studien jedoch einen „Verlust ihres Gegenstandes“ (Stolz 2000), zumindest als präzise beschreibbaren, mit sich brächte. Wieder andere machen aus der Not eine Tugend und verarbeiten die Einsicht in die grundsätzlich unübertragbare Partikularität des Religionsbegriffs dergestalt, dass sie erst gar nicht versuchen, ihn aus seiner eurozentristischen Perspektive zu befreien. So gibt es in der Gegenwartsdiskussion auch noch (oder wieder) sehr klassisch anmutende Definitionen des Religionsbegriffs, wie sie der Philosoph Ernst Tugendhat vorlegt. „Man kann, wenn man will, solche Bewegungen wie den Buddhismus, den Taoismus oder die Stoa als Religionen bezeichnen – ich tue es nicht, weil es in unserem Zusammenhang darauf ankommt, Haltungen, in denen Glauben an ein übernatürliches personales Wesen impliziert ist, von Haltungen zu unterscheiden, bei denen das nicht der Fall ist. Ich verwende das Wort ‚Religion‘ deswegen nur für Auffassungen bzw. Haltungen, in denen ein solches Glauben-an impliziert ist“ (Tugendhat 2010, 195).