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Religion und Funktion
ОглавлениеEin Mittelweg zwischen einem zu substanziellen und einem gänzlich gegenstandslosen Religionsbegriff könnte es sein, bei der Funktionalität von Religion anhand der Leitfrage anzusetzen: Was leistet Religion in Gestalt religiöser Überzeugungen? Eine häufig genannte und breit anerkannte Antwort auf diese Frage lautet, dass Religion einen Versuch darstellt, mit dem Problem der Kontingenz oder – genauer gesagt – mit dem Bewusstsein umzugehen, dass Kontingenz ein Problem darstellt.
Stichwort
Kontingenz
Ein Sachverhalt wird kontingent genannt, wenn er – obwohl er ist, wie er ist – auch anders sein könnte, wenn er also möglich, und damit nicht unmöglich, dennoch aber nicht notwendig ist. Das Bewusstsein von Kontingenz ist daher die Einsicht in den Sachverhalt, dass die Welt ist, wie sie ist, obwohl sie anders sein könnte – oder umgekehrt, dass die Welt nicht so ist, wie sie auch sein könnte.
Religion als Möglichkeit der Kontingenzbewältigung
Religion stellt eine, aber eben nur eine Möglichkeit dar, um mit Kontingenz umzugehen. Sie unterscheidet sich, so der Soziologe Detlef Pollack, in ihrer Form von anderen Arten der Kontingenzbewältigung durch zwei Merkmale: „zum einen durch den Akt der Überschreitung der verfügbaren Lebenswelt des Menschen“, und „zum anderen durch die gleichzeitige Bezugnahme auf eben diese Lebenswelt“ (Pollack 2003, 48). Religion zeigt sich dort, wo die alltäglich verfügbare, durch Kontingenz gekennzeichnete Lebenswelt des Menschen überschritten wird hin zu einer Ordnung, die als nicht der menschlichen Kontrolle unterliegend angesehen wird, weshalb sie der menschlichen Kontrolle auch nicht entgleiten kann. Dadurch kann die Transzendenz der Immanenz wiederum Sinn verleihen.
Stichwort
Sinn
Sinn ist „die Einheit der Differenz von Wirklichkeit und Möglichkeit“ (Luhmann 2000, 20). Wer den Sinn eines Sachverhaltes versteht, sieht ein, warum er ist, wie er ist, obwohl er auch anders sein könnte, und kann dieser Wirklichkeit eine Bedeutung entnehmen, die sie als Wirklichkeit gegenüber zahlreichen anderen Möglichkeiten bejaht.
Religion und Sinnstiftung
Im Begriff des Sinns zeigt sich, dass Religion nicht nur in der Transzendierung der verfügbaren Lebenswelt besteht, sondern sich diese Überschreitung auch in der zugleich kontingenten und als sinnvoll angenommenen Welt rekonkretisiert, so dass die Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz sich redupliziert: Durch den Akt der Überschreitung wird die Immanenz samt der ihr eigenen Kontingenz in die Transzendenz hineingetragen und dort gleichsam verankert, durch den Akt der Rekonkretisierung wird jedoch auch die Transzendenz in die Immanenz eingeführt. Niklas Luhmann bezeichnet dies als „‚re-entry‘ der Unterscheidung in das durch sie Unterschiedene“, wodurch „auf beiden Seiten immer beide Seiten“ stehen (Luhmann 2000, 84), also sowohl die Immanenz in der Transzendenz vorkommt als auch die Transzendenz in der Immanenz präsent wird (vgl. Seewald 2016b, 161–165). Diese Präsenz der Transzendenz kann unterschiedliche Gestalten annehmen: Rituale und Kulthandlungen, ethische Normen oder religiöse Lehrsätze.