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VORWORT
ОглавлениеIch arbeite nun seit über 15 Jahren als Schlagfertigkeitstrainer, und eines haben fast alle meine Kundinnen und Kunden gemeinsam: Sie haben Angst, vor anderen bloßgestellt zu werden. Das Gefühl, ausgelacht zu werden, schwach zu wirken und dann am liebsten im Boden zu versinken, kennen und beschreiben fast alle meine Kundinnen und Kunden, die Schlagfertigkeit erlernen und trainieren wollen. Sie kennen das Gefühl, »sprachlos« und einer demütigenden Situation, sei es privat oder beruflich, scheinbar schutzlos ausgeliefert zu sein. Ausnahmslos alle dieser Menschen beschreiben in unserer Zusammenarbeit ein konkretes Erlebnis, mit dem diese Angst, sozial bloßgestellt zu werden, begann, und diese Erinnerung liegt meist weit zurück: ein misslungener Klaviervorspielabend in der Grundschule, ein Gedicht, das beim Festakt einfach nicht mehr im Gedächtnis abrufbar war, bis hin zu Referaten in der Schule, die im Gelächter der Mitschülerinnen und Mitschüler untergingen.
Nun, ich persönlich habe auch ein derartiges Schlüsselerlebnis, doch bin ich heute davon überzeugt, dass mir damit nicht wissend der Grundstein für meinen Beruf gelegt worden ist. Diese Erinnerung möchte ich am Beginn mit Ihnen teilen, denn sie ist wohl ein wesentlicher Grund, warum ich mich in meinem Leben mit Kommunikation, Rhetorik und Schlagfertigkeit beruflich intensiv beschäftigt habe.
Mein Schlüsselerlebnis: die Lesung in der Kirche
Meine Familie und ich lebten in meiner Kindheit unweit der Kirche. Der Weg zum Ministrantendienst war also in doppelter Hinsicht nicht weit, und so war früh klar, dass ich Ministrant werden würde. Schon damals war ich sehr groß, was mir allerdings zum Verhängnis werden sollte. Es war an einem Freitag, dem ersten Schultag der dritten Klasse an der Volksschule, als mich kurz vor Beginn der Schulmesse der Herr Pfarrer zur Seite nahm und sagte: »Die Uli aus der vierten Klasse hätte heute die Lesung lesen sollen, aber sie ist krank. Michi, du bist groß genug. Heute wirst du die Lesung halten. Ich werde dir dann das Buch auf der richtigen Seite aufschlagen, wenn es so weit ist.« Es mag vielleicht übertrieben klingen, aber ich hatte in diesem Moment mein soziales Todesurteil erhalten. Ich war mit acht Jahren kein guter Leser. Die Kirche meiner Heimatgemeinde, ein kleiner Ort mit damals um die 2000 Einwohnerinnen und Einwohnern, war voll, alle meine Mitschülerinnen und Mitschüler waren da, das gesamte Lehrerteam und auch meine Oma saßen an ihrem Platz, wie jeden Freitag bei der Schulmesse. Dem Herrn Pfarrer zu widersprechen war damals keine Option, davonlaufen kam für mich auch nicht infrage, und so nahm ich das Urteil an. Die Messe begann, sodass ich keine Zeit mehr hatte, mir den Text vorher zumindest einmal durchzulesen. Mit jeder Minute bis zu meiner Hinrichtung am Altar wurde es in meiner Brust enger, und meine Hände waren nass vom kalten Schweiß. Dann war der Zeitpunkt gekommen: Ich trat vor, gefühlt in Zeitlupe. Ich sah meine Oma in der zweiten Reihe nach dem Mittelgang, meine Mitschülerinnen auf der rechten Seite vor mir – in den Achtzigern waren die Mädchen und die Buben noch »brav« getrennt – und meine Mitschüler auf der linken Seite. Ich blickte auf den Text. Die Anordnung der Buchstaben ergab einfach keinen Sinn, alles auf dem Blatt erschien mir verschwommen. Aber es gab kein Entkommen. So hielt ich meine erste Lesung, halb gestottert, halb geraten, was diese Aneinanderreihung von Silben bedeuten könnte. Es herrschte absolute Stille in der Kirche, die nur durch das Auslachen von mir durch einzelne Schüler und das wütende, tiefe Atmen des Herren Pfarrer, der unmittelbar neben mir stand, unterbrochen wurde. Nach einer gefühlten Ewigkeit war es dann vollbracht. Ich hatte es überlebt. Mit knallrotem Kopf ging ich zurück an meinen Platz.
Ich habe dieses Erlebnis, das mir als Achtjähriger widerfahren ist, deswegen erzählt, weil es mich bis heute prägt, oder besser gesagt, lange meinen Umgang mit ähnlichen Situationen geprägt hat. Ab diesem Zeitpunkt in der Kirche hatte ich eine Höllenangst, vor anderen Menschen zu lesen und auch zu sprechen. Diese Urangst, bloßgestellt zu werden, sich zu blamieren und ausgelacht zu werden, war mein ständiger Begleiter. So ging es auch in meinem weiteren Schulleben weiter, und selbst der Satz eines Mitschülers auf dem Gymnasium ist mir bis heute in Erinnerung geblieben: »Herr Professor, heute ist doch Faschingsdienstag, lassen Sie bitte den Michael etwas vorlesen, dann wird es wieder lustig.« Und ich enttäuschte bei spontanen Vorlesungen nur sehr selten: Es war immer lustig – für die anderen. So wurde etwa aus dem Duke of Cambridge »the Duck of Cambridge« – aus dem Großherzog wurde die Ente. Ich wusste eben schon damals, dass es in Cambridge viele Enten gibt, und damit lag ich ja auch nicht falsch.
Eines habe ich mir jedoch bereits als Achtjähriger geschworen: Nie wieder in meinem Leben werde ich in so eine Situation kommen, koste es, was es wolle. Ich hatte zwar noch sehr viele Lesungen zu meistern, weil ich oft »groß genug« oder »der Größte in der Gruppe« war. Dennoch habe ich in meinem ganzen Leben nichts mehr vorgelesen, da ich ab diesem Zeitpunkt immer alle Texte auswendig konnte. Wenn es nicht spontan und unerwartet sein musste – und das kam nur in der Schule vor –, war ich bestens vorbereitet. Selbst bis zur Reifeprüfung konnte ich, wenn irgendwie möglich, bei Lateinprüfungen sowohl den deutschen als auch den lateinischen Text aus dem Gedächtnis. Dafür hatte ich mich in meinem Elternhaus vor den Spiegel gestellt und jeden Text, den ich vorzulesen hatte, wie eine Rede eingeübt, und wenn es mir langweilig wurde, sprach ich die Texte in unterschiedlichen Rollen und Situationen. Gaius Julius Cäsar in »De bello Gallico« – ein Bericht des damaligen römischen Feldherrn über den Gallischen Krieg – verkörperte ich als Tennislehrer. Mit dem Tennisschläger in der Hand und den Linien eines realen Tennisplatzes im Kopf teilte ich Gallien »in seiner Gesamtheit in drei Teile«: Den Teil hinten auf der Grundlinie bewohnten die Belgier, einen anderen – vorne beim Netz – die Aquitanier und den Teil rund um die Aufschlaglinie in der Mitte die dritten, die sich selbst Kelten nennen, in unserer Sprache aber Gallier heißen. Irgendwann ließ ich die Bezüge zum Tennis weg, und fertig war die Vorbereitung auf die nächste Lateinstunde. Der Spiegel und ich, wir hatten eine eigene Welt, und es hat viel Spaß gemacht. Vor allem wurde ich im »Vorlesen« ziemlich gut, weil ich die Texte dadurch auch sehr gut verstand, hatte ich sie doch aus völlig unterschiedlichen Perspektiven gesprochen.
Heute, mit Anfang 40, kann ich mich zwar an das Gefühl in der Kirche noch immer ganz genau erinnern, aber ich habe keine Angst mehr. Oder anders gesagt: Die Angst ist immer noch da, aber das Wissen um den Umgang mit dieser Angst eben zum Glück auch. Ich verlese mich kaum noch, obwohl ich nicht mehr alles auswendig lerne. Und letztlich habe ich diesem Ereignis zwar viel Schmerz, aber auch meinen Beruf zu verdanken.
Rhetorik, Kommunikation, Wirkung und das kreative Herangehen an Worte, Texte sowie Sprachbilder habe ich mir über die Jahre vor dem Spiegel angeeignet. In unzähligen Stunden habe ich jene Fertigkeiten verfeinert, die mir heute in Vorträgen, Seminaren oder Coachings zur Verfügung stehen. Die wichtigste Erfahrung aus heutiger Sicht aber war die Angst: Ich verstehe damit jeden Kunden und jede Kundin, die mir von Lampenfieber, Nervosität oder Angst vor dem Scheitern, vor der Bloßstellung oder sein Gesicht zu verlieren, berichten. Dieser Angst habe ich fast alles, was ich heute an meinem Beruf liebe, zu verdanken. Wenn oft Kunden oder Kundinnen zu mir sagen: »Herr Traindt, Sie sprechen einfach gern vor Menschen und können gar nicht verstehen, wie sich das anfühlt. Ihnen macht das Freude, für mich ist es wie eine Hinrichtung, wie eine Höllenangst«, so ist mir bewusst, was ich meinem achtjährigen Ich zu verdanken habe. Ich kenne das Gefühl sehr gut und aus Angst vor Buchstaben, die für mich oft keinen Sinn ergaben, wurde die Liebe zur Sprache, die Bedeutung und Kraft hat.