Читать книгу Mit mir die Nacht - Michaela Kastel - Страница 10
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Оглавление»Donnerkuppel« – so heißt der neue, derzeit angesagteste Club der Stadt, in dem Viktor sich nach Feierabend gerne herumtreibt. Interessanterweise steht der Club gleich dort, wo sich früher das legendäre Funkhaus befand. Von diesem Ort muss eine dunkle Anziehungskraft ausgehen. Denn egal, wohin ich flüchte, mein Weg führt mich immer wieder dorthin zurück. Zu dem Haus mit der roten Tür.
Es ist eine milde, klare Winternacht. Viele Menschen sind auf den Straßen und genießen das Leben. Auch ich bin unterwegs, jedoch nicht zum Spaß. Ich liege auf der Lauer. Nachdem ich Tage und Nächte damit verbracht hatte, im Netz mehr über diesen Kerl herauszufinden, blieb mir keine andere Wahl, als mich vor seinem Wohnhaus zu postieren und abzuwarten. Seine Adresse habe ich aus dem Handy meines Polizisten geklaut, als der mit Moonlight beschäftigt und ich kurz ungestört war. Dreimal habe ich das heruntergekommene Gebäude im Fleischviertel untertags aufgesucht, um herauszufinden, wann er kommt und wohin er geht. Jedes Mal fuhr er, nachdem er um vier Uhr nachmittags nach Hause gekommen war, gegen zwanzig Uhr in die Donnerkuppel. Ja, ich habe tatsächlich vier Stunden in der Kälte ausgeharrt, um ihn zu beschatten. Heute ändere ich meine Strategie. Ich werde hier auf ihn warten. Direkt vor dem Club.
Eintritt habe ich bereits bezahlt, daher muss ich nicht mehr Schlange stehen. Gegen halb neun sehe ich ihn um die Ecke biegen. Wie die Abende zuvor trägt er eine Haube und eine graue Jacke mit hochgestelltem Kragen, unauffällig wirkt er, ein belangloser Typ ohne Wiedererkennungswert. Er stellt sich kurz in die Schlange und geht dann zum Türsteher nach vorn, der ihn kommentarlos reinlässt. Sobald er drin ist, gehe ich ihm nach.
Erinnerungen. An jeder Ecke, fast schon schamlos. Sie haben das Funkhaus wieder aufgebaut und ihm einen anderen Namen verpasst. Unter neuem Management versprüht es seinen alten Charme und blickt nach all den Skandalen einer glorreichen Zukunft entgegen.
Bloß in einer Sache scheint sich das neue Funkhaus vom alten zu unterscheiden – es gibt keine Prostitution. Wer hierherkommt, tut es für die Musik, den Alkohol und womöglich die eine oder andere Droge, aber kein einziger Schlüssel wird in diesem Haus je wieder ausgegeben werden. Das wundert mich nicht. Vermutlich hat Beck Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um zu verhindern, dass sein kleiner »Venushügel« Konkurrenz bekommt. Womöglich ist er sogar der Inhaber dieses Clubs, denn die Ähnlichkeit des Designs ist erstaunlich. Nur wer das alte Funkhaus wie seine Westentasche kennt, kann eine derart gute Kopie erstellen.
Rasch bewege ich mich durch den Club. Ich muss vorsichtig sein und mich möglichst unauffällig verhalten. Wenn mein Polizist wüsste, was ich hier treibe, würde er ausrasten. Es ist voll, Lichter blitzen, der Lärmpegel steigt. Ich gehe an die Bar, wo Viktor sich mit einer Flasche Bier auf einem Hocker niedergelassen hat. Die Drinks sind teuer, ich bestelle mir Wasser. Der Barkeeper erinnert mich an Star. Ich starre ihn etwas zu lange an, aber er beachtet es nicht.
Auf der anderen Seite des Raumes befindet sich eine Bühne für Liveacts, dazwischen liegt die Tanzfläche. Viktor trinkt gemächlich sein Bier. Kein einziges Mal sieht er sich um oder redet mit jemandem. Er scheint auch nicht auf jemanden zu warten. Es vergeht eine halbe Stunde. Schließlich wird der Platz neben ihm frei. Ich gehe zu ihm rüber, dabei scanne ich ausgiebig den Raum. Suche nach bekannten Gesichtern, nach Hörnern, nach Gefahr, aber da ist nichts. Langsam lasse ich mich auf dem freien Hocker nieder. Viktors Blick streift mich aus dem Augenwinkel, dann starrt er zurück an die Barwand.
»Du bist die Kleine, nicht wahr?«, sagt er. »Die, die sie überall suchen.«
Ich nicke. Ich wusste es. Mein Instinkt täuscht sich nicht.
»Du solltest nicht hier sein«, fährt er fort. »Dass du dich überhaupt nach draußen wagst. Alle Achtung.«
»Wer bist du?«
»Mein Name ist Viktor.«
»Was weißt du über sie? Kennst du ihren Aufenthaltsort? Kannst du mir was über sie sagen?«
»Als ob du nicht viel mehr über sie wüsstest als ich. Hast doch jahrelang dort gewohnt. Keine Angst, du warst vor meiner Zeit. Aber dein Geist schwirrt noch unbeirrt durch die Gänge. Du bist dort Thema Nummer eins.«
»Was hast du mit ihnen zu schaffen? Arbeitest du für sie?«
»Ich putze ihre Klos. Besser gesagt, ich habe ihre Klos geputzt.«
»Und sonst?«
»Nichts sonst. Ich habe die Polizei nicht belogen.«
»Aber du hast auch nicht die Wahrheit gesagt.«
»Du und ich, wir wissen, was diese Leute sind. Wir kennen die Welt, aus der sie stammen, weil wir sie mit unseren eigenen Augen gesehen haben. Wir haben Dinge gesehen, die sich die Polizei nicht einmal in ihren schlimmsten Träumen ausmalen kann. Deswegen haben sie nicht die richtigen Fragen gestellt, und deswegen habe ich auch nicht gelogen. Es ist ganz logisch.«
Diese Kälte. Sie durchläuft mich von oben bis unten, ein Zittern in allen Gliedmaßen, als reagiere mein Körper auf einen plötzlichen Schmerz. Jener Schmerz, der aus dem tiefsten Inneren kommt, so alt und vertraut, dass ich ihn nicht einmal mehr spüre.
Er hat recht. Logisch. Es ist wie eine Sprache, die außer uns niemand spricht. Wie das Malen mit einer unsichtbaren Farbe. Diese Welt, die Hölle, unsichtbar für die meisten, doch für all diejenigen, die schon dort waren, die einzig vorstellbare Realität.
»Du bist keiner von ihnen«, stelle ich fest, und er nickt. »Aber du warst auch nicht dort eingesperrt wie ich. Welche Verbindung hast du also zu ihnen? Hast du tatsächlich nur dort gearbeitet?«
»Ja. Ob du es glaubst oder nicht. Nicht alle, die dort ein- und ausgehen, sind eingeweiht. Es gibt viele wie mich. Elektriker, Reinigungspersonal, Kuriere. Für die wird dann eine richtige kleine Show aufgeführt. Damit niemand Verdacht schöpft.«
»Aber du hast Verdacht geschöpft. Sonst wärst du nicht hier. So weit von deiner Heimat entfernt.«
Er nickt erneut. »Hab früher sogar ganz in der Nähe gewohnt. Mit dem Firmenbus war es nicht weit. Irgendwann hieß es, sie würden mich in einer anderen Niederlassung brauchen. Die war etwas weiter entfernt. Ich bin extra umgezogen, um den Job zu behalten. Die haben mir dort eine nette kleine Wohnung in der Gegend besorgt. Es war ihnen sehr wichtig, ihr Stammpersonal zu behalten.«
»Und das hat dich gar nicht stutzig gemacht? Dass die sich so um dich bemühen?«
»Anfangs vielleicht, aber dann dachte ich mir, das ist ein zwielichtiges Bordell am Arsch der Welt. Die werden froh sein, wenn sie jemanden haben, auf den Verlass ist und dem sie vertrauen können. Also bin ich auf ihr Angebot eingegangen und habe in der zweiten Niederlassung zu arbeiten begonnen.«
»Eine zweite Niederlassung. Wo liegt die?«
Er starrt wortlos auf den Bartresen.
»Du musst es mir sagen. Wo liegt das zweite Schlachthaus?«
»Es war angenehm.« Er spricht weiter, als hätte ich nichts gesagt. »So mitten in der Natur zu arbeiten. Sie machen es schlau, das weißt du bestimmt. Wer nicht hinsieht, bemerkt es nicht. Aber ich habe hingesehen. Welcher Idiot macht so etwas? Wer ist dumm genug und schaut direkt in die Dunkelheit?«
»Gute Menschen«, antworte ich. »Menschen, die das Licht suchen.«
Er schweigt für einen Moment.
»Ich bin tot«, sagt er dann. »Ich hab mein eigenes Schicksal besiegelt. Weil ich meine Nase in Dinge gesteckt habe, die mich nichts angehen. Deswegen musste ich verschwinden und bin vor zwei Monaten hierhergekommen. Und deswegen habe ich der Polizei nichts erzählt. Es ist meine einzige Chance. Wenn ich mich so weit wie möglich von ihnen entferne und den Mund halte, vergessen sie mich vielleicht. Wenn ich einfach nur untertauche. Aber wenn ich etwas erzähle, dann …«
»Wir können dich beschützen. Es gibt noch Hoffnung da draußen, sie haben nicht überall Verbündete.«
Er nippt wortlos an seinem Bier.
»Komm mit mir«, sage ich und greife nach seiner Hand. »Komm mit aufs Präsidium und erzähle der Polizei, was du gesehen hast.«
»Ich kann nicht«, antwortet er mit erstickter Stimme.
»Du weißt, wo dieses Höllenloch liegt. Bitte sag es mir. Auch im Osten? Hilf mir, um Gottes willen! Hilf mir, das alles zu beenden. Geht es der alten blinden Frau gut? Lebt Fairy noch?«
Er schließt die Augen, schüttelt den Kopf. Nach einem letzten Schluck aus seiner Flasche steht er auf. »Sie sind tot.«
»Was?«
»Sie alle sind tot, genau wie wir. Die werden dich finden. Du hast ja keine Ahnung, was dort deinetwegen los ist.«
»Doch, ich weiß es, ich weiß, warum die mich wollen, und ich stelle mich ihnen mit Freuden! Ich will nicht länger weglaufen und mich verstecken. Sag mir, wo ich sie finde!«
»Ich muss jetzt gehen.«
»Bitte!« Ich packe seinen Arm, als er sich an mir vorbeidrängen will. »Ich muss das alles beenden, verstehst du? Nur ich kann es beenden, ich bin es, die er will, und du hast recht, es wird nicht aufhören, ehe er mich wieder bei sich hat. Deswegen muss ich zu ihm!«
»Und wenn es so weit ist? Angenommen, ich verrate dir, wo sie zu finden sind. Angenommen, du hast die Möglichkeit, zu ihnen zu gelangen. Was würdest du dann tun? Wieso um alles in der Welt willst du zu ihm zurück?«
»Um ihn umzubringen«, antworte ich. »Ihn und alle, die zu ihm stehen.«
Kein Lachen, kein ungläubiger Blick. Er löst bloß meine Hand von seinem Arm und hält sie fest. »Das kannst du nicht allein.«
»Ich muss.«
»Es braucht zumindest einen Gotteskrieger, um den Herrn der Finsternis vom Thron zu stoßen. Vielleicht sogar einen Teufel.«
»Dann werde ich mir eben einen Teufel suchen. Es gibt sie da draußen ja zum Glück in Massen.«
Er weicht zurück und zieht den Zipp seiner Jacke hoch.
»Viel Glück, Kleine. Es tut mir leid, dass ich dir nicht helfen kann.«
»Nein, warte!«
Er geht. Ich bleibe. Sehe meiner einzigen Spur hilflos dabei zu, wie sie sich zwischen den Massen an Tanzenden in Luft auflöst. Und doch habe ich in diesem Moment nicht das Gefühl, als Verliererin aus dieser Begegnung zurückgeblieben zu sein. Er ist da draußen. Viktor. Der Mann, der weiß, wo Fairy ist. Wo mein Vater ist. Der mich zu ihnen führen kann, hinein in den Abgrund, der schon so lange nach mir ruft. Alles, was ich tun muss, ist, sein Vertrauen zu gewinnen.