Читать книгу Mit mir die Nacht - Michaela Kastel - Страница 8
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ОглавлениеEine nette kleine Drei-Zimmer-Wohnung. Mit einer Badewanne und einer hübschen dunkelblauen Einbauküche. In einem Außenbezirk gelegen, aber öffentlich gut zu erreichen. Saubere Fenster, weil ich täglich putze. Mit Blick über die Stadt, weil sie im sechsten Stock liegt. Alles kann man sehen, sogar den nagelneuen Tanzclub, der gleich neben dem abgebrannten Funkhaus eröffnet wurde. Nur die Sterne, die sieht man nicht. Seit jener Nacht im Norden kein einziges Mal.
Vor mir ein gedeckter Tisch. Zwei Teller, zwei Tassen, zwei Löffel, eine geladene Waffe. Es ist die Waffe aus der Hütte. Jene Waffe, mit der sie Star getötet haben. Ich rede mir ein, dass sie stärker ist als andere. Dass ihre Kugeln selbst den härtesten Panzer durchbrechen, weil sie direkt in den Höllenfeuern geschmiedet wurde. Deshalb habe ich sie stets in meiner Nähe.
Es ist angenehm ruhig heute Morgen. Das Sonnenlicht, das durch die Fenster fällt, wirkt beinahe schön. Ich bin allein. Wenn mein Polizist uns besucht, essen wir manchmal zusammen. Er kümmert sich mehr um uns, als wir es verdient haben. Eine kleine Familie, in der niemand seinen Platz kennt. Er steht oft zwischen den Fronten. Als ich zurückkam, hat er mir das Leben gerettet. Als Moonlight mit dem Messer auf mich losging. Als sie nicht aufhören wollte zu brüllen, mit diesem stummen Mund, mit ihren hasserfüllten Augen. Nur ihm habe ich es zu verdanken, dass ich heute hier sitze und allein mein Frühstück esse. Er hat sie festgehalten, so lange, bis sie nicht mehr konnte. Bis sie das Messer fallen ließ und bloß noch weinte.
Es ist verrückt, aber es wäre besser gewesen, wenn er sie einfach gelassen hätte. Vielleicht hätte sie mich nicht umgebracht, aber allein mir Schmerz zuzufügen, hätte womöglich ein paar Wunden geheilt. Aber nun ist es, wie es ist. Ich, der gedeckte Tisch, die Waffe und ein leerer Stuhl neben mir.
Als Moonlight zur Tür hereinkommt, spüle ich gerade mein Geschirr. Ihr Gedeck habe ich stehen lassen, es ist alles da. Falls sie Hunger hat, falls sie reden möchte, falls sie mir vergeben hat. Doch sie möchte nichts von dem, was ich ihr anbiete. Kein Frühstück, keine Worte, am allerwenigsten meine Gesellschaft. Sie streift ihre viel zu große Jacke ab, schlüpft aus ihren Stiefeln und marschiert an mir vorbei, ohne mich eines Blickes zu würdigen.
Ich frage nicht länger, wo sie über Nacht war. Ich gehe ihr nicht länger nach, wenn sie direkt in ihr Zimmer verschwindet und die Tür zusperrt. Sie hat aufgehört, mich anzuschreien. Ich wusste nicht, wie laut sie schreien kann. Mit ihren Augen, mit ihrem Mund, mit ihren kleinen, bleichen Händen, die immer wieder dieselben Worte formen, seit ich ohne ihren Bruder zurückgekehrt bin.
Es ist deine Schuld.
Sie hat aufgehört. Jetzt ist da nur noch Schweigen.
»Möchtest du gar kein Frühstück?«, rufe ich, obwohl ich weiß, dass sie mich nicht hören kann. Kurz darauf knallt die Zimmertür. Ich tippe eine Nachricht an sie auf dem Handy. Es gibt Toast. Und ich habe Tee gemacht. Nimm dir einfach, wenn du Hunger hast, ich lasse es noch ein bisschen stehen.
Es wird keine Antwort kommen. Wo auch immer sie sich letzte Nacht herumgetrieben hat, sie bekommt dort Essen und zweifellos auch ein bisschen Geld. Ich vermute, dass sie ihr altes Handwerk wieder aufgenommen hat. Nacht für Nacht streift sie durch die Straßen, völlig auf sich allein gestellt, verschenkt ihr Lächeln an Fremde und kehrt mit versteinertem Herzen nach Hause zurück. Ein Mädchen, das nicht spricht, in einer Welt, wo selbst die lautesten Schreie oftmals ungehört bleiben. Ein Todesurteil, das ich unterschrieben habe. Und ich Idiotin dachte, ich hätte sie gerettet.
Er besucht uns am Abend. Er kommt direkt aus dem Präsidium, er wirkt müde, aber für Moonlight reißt er sich zusammen. Während die beiden sich auf der Couch in Gebärdensprache unterhalten, google ich die Reinigungsfirma, für die Viktor angeblich gearbeitet hat.
Es will mir nicht in den Kopf. Dass er tatsächlich ein unnützer Niemand sein soll, dass sich eine weitere Spur im Nichts verläuft. Unmöglich kann er von den Gräueltäten im Schlachthaus nichts gewusst haben. Diese Leute lassen keine Unschuldigen in ihr blutiges Reich. Und wenn er bloß etwas geahnt hat und nun zu vertuschen versucht, dass er trotz aller Hinweise untätig geblieben ist. Irgendetwas verschweigt er.
Viktor Juskowiak. Über ihn finde ich nichts im Netz. Ein Geist. Womöglich sogar ein Schlächter, der nun wieder frei herumläuft auf den Straßen dieser verkommenen Stadt.
»Was machst du da?«
Rasch klappe ich den Laptop zu und stehe vom Küchentisch auf. »Wollte nur was nachschauen. Magst du was trinken?«
»Nur Wasser bitte. Aber Moonlight hätte gern einen Kakao.«
Ich fülle ein Glas mit Wasser und hole Milch und Kakaopulver hervor.
»Wie geht es dir mit ihr?«, fragt er, während ich die Milch erhitze.
»Unverändert.«
»Sie sieht müde aus. Schläft sie schlecht?«
»Weiß nicht, sie sagt mir nichts.«
Er stiert zur Couch hinüber, nimmt einen Schluck und schweigt.
»Was ist mit Viktor?«, will ich wissen. »Habt ihr ihn wenigstens verwanzt?«
»Es gab keinen Grund dafür.«
»Also behaltet ihr ihn nicht im Auge?«
»Anja, was erwartest du von mir? Sollen wir jedem hinterherschnüffeln, bei dem du ein komisches Gefühl hast?«
»Das wäre zumindest ein Anfang.«
»Du musst dich endlich auf andere Dinge konzentrieren. Auf dich, auf Moonlight. Du hast dein Leben wieder. Aber du benimmst dich, als wäre das nichts wert.«
»Glaub mir, ich weiß sehr gut, wie viel das Leben eines Einzelnen wert ist. Und genau deswegen kann und werde ich nicht ruhen, bis diese Monster in der Hölle schmoren.«
Er belässt es dabei, nimmt das Wasserglas und den fertigen Kakao und setzt sich zu Moonlight auf die Couch zurück.
Wenn er da ist, ist meine Gesellschaft akzeptabel. Sie blendet mich dann einfach aus. Ich weiß nicht, worüber sie mit ihm spricht. Ihr Gesicht verrät nicht viel. Da ich immer noch keine Gebärdensprache beherrsche, habe ich sie gebeten, schriftlich mit mir zu kommunizieren, aber sie weigert sich. Stattdessen spricht sie mit verschlossenem Gesicht und verschlossenen Türen.
Als er gehen will, bittet sie ihn, noch ein bisschen zu bleiben. Diesen Teil der Unterhaltung verstehe ich trotz mangelnder Kenntnis jedes Mal sehr gut. Auch ich hoffe insgeheim, dass er hierbleiben wird, denn solange er da ist, wird Moonlight sich nicht in die Stadt schleichen. Aber er bleibt nicht. Zum Abschied küsst er sie auf die Stirn. Mir wirft er einen langen, sehr eindringlichen Blick zu: Vertrau mir. Hab Geduld.
Ich versuche es. Mit aller Kraft.
Die Tür fällt hinter ihm ins Schloss, und schon ist Moonlight auf den Beinen. Sie geht in ihr Zimmer, um sich fertig zu machen. Rucksack, Schuhe, Jacke, ein bisschen Lippenstift und Lidschatten. Gott allein weiß, welche Verzweiflung in ihr toben muss, dass sie sich bewusst für dieses Schicksal entschieden hat. Für ihr Leben, wie es vorher war, nur ohne Star und ohne mich.
Nach nicht einmal fünfzehn Minuten ist sie weg. Dass ich manchmal in ihr Zimmer gehe, sobald ich allein bin, ahnt sie nicht. Wie sollte sie auch? Ich fasse nichts an, ich setze mich bloß auf ihr Bett und blicke aus dem Fenster. Ich tue das sehr gerne. Einfach hier sitzen und nach draußen schauen. Atmen. Ohne Angst, ohne Schmerz, ohne Bedauern. Es ist schwer. Wenn nicht sogar unmöglich.
Doch manchmal öffne ich auch die Kommode neben ihrem Bett und schaue nach, ob der Block noch da ist. Ich hatte ihn im Handschuhfach des Pick-ups gefunden, nachdem ich Shark ausgeblutet auf der Lichtung zurückgelassen hatte. Ich war auf dem Weg zu Sharks Hütte gewesen, um Star zu suchen. Ich konnte ihn nicht mehr finden. Aber sein Block war noch da.
Jede Seite ist ganz geblieben. So viele Worte, aus dem Kontext gerissen, bedeutungslos. Aber nicht bedeutungslos für mich. Es ist eine Geschichte. Eine Liebesgeschichte, die nur ich verstehe. Ich traue mich nicht, den Block durchzublättern, also habe ich ihn Moonlight gegeben, die seither darauf aufpasst.
Ich gehe in die Küche zurück und öffne den Laptop. Viktor. Ich kriege heraus, was du verbirgst. Wer du bist und wieso du lügst. Ich werde dich jagen wie ein verfluchtes Karnickel. Für meinen Seelenfrieden, für Fairy und für jede einzelne Seite in diesem Block, die für immer leer bleiben wird.