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Ich vertrete mir die Beine. Die Bewegung tut gut. Seit Wochen nichts anderes als die Wände meiner Wohnung und dieser tote Himmel ohne Sterne. Dem Kerker entflohen, nur um erneut in einer Zelle zu verrotten. Ich solle loslassen, hat mein Polizist gesagt. Ich wünschte, ich könnte es, aber die Wahrheit ist, ich werde immer eine Gefangene sein, meiner Ängste, meiner Träume, meines unbändigen Dranges nach Vergeltung. Solange die Sterne nicht wieder am Himmel stehen, wird es kein neues Leben für mich geben. Ich habe die Wahl: Entweder friste ich weiter ein Dasein als schutzbedürftige Kronzeugin, oder ich nehme die Dinge selbst in die Hand.

Die U-Bahn bringt mich heim. Am Stadtrand scheint die Welt noch in Ordnung zu sein. Untertags sieht man hier Kinder in den verschneiten Parks spielen. Spaziergänger mit Hund begegnen einem auf der Straße. Nachts ist es zwar finster, aber die aufwallende Kriminalität, von der die Innenstadt seit Jahrzehnten heimgesucht wird, ist hier draußen bloß ein leises Echo. Kein Grund, sich zu fürchten auf dem Weg von der U-Bahn-Station zu meiner Wohnhausanlage. Die Wege sind gut ausgeleuchtet, und die nächste Polizeiwache ist nicht weit entfernt. Dennoch vergeht kein Atemzug, ohne dass ich mich umsehe und mein Herz vor Furcht zu klopfen beginnt. Viktor, dieser Narr. Ob er wie ich überall Dämonen sieht? Ob er deswegen jede Nacht in diesem Club hockt, umgeben von so vielen Menschen? Fühlt er sich dadurch sicher? Als ob Raubtiere die Herde scheuen würden. Im Gegenteil.

Ich hoffe, Moonlight ist zu Hause. Ich muss endlich mit ihr reden, und zwar über alles. Und wenn sie noch mal versucht, mich abzustechen, irgendetwas muss passieren. Ich nehme den Aufzug in den sechsten Stock und betrete die Wohnung am Ende des Ganges.

Sofort merke ich, dass etwas nicht stimmt. Das Licht im Wohnzimmer ist an, aber Moonlights Schuhe und Jacke sind nicht da. Die Angst packt mich hart und eiskalt, ich weiche zurück, taste nach meiner Waffe. Ich trage sie nicht bei mir. Sie muss noch auf dem Küchentisch liegen. Aus dem Wohnzimmer kommen Schritte auf mich zu. Ein großer Schatten breitet sich auf dem Flur aus.

Ich lasse die Wohnungstür zufallen und stoße erleichtert die Luft aus.

»Du hast mich erschreckt«, sage ich.

»Tut mir leid. Ich wollte nur nach dem Rechten sehen, aber niemand war da. Wo ist Moonlight?«

»Keine Ahnung.«

»Du lässt sie allein in der Stadt herumlaufen?«

»Bitte keine Diskussion deswegen. Ich werde mit ihr reden.«

Mein Polizist sieht mir wortlos beim Ausziehen meines Mantels und meiner Schuhe zu. Auf dem Weg in die Küche frage ich ihn, ob er was trinken will. Er schüttelt den Kopf.

»Wo warst du?«, fragt er stattdessen.

»Unterwegs. Musste mir die Beine vertreten.« Ich schenke mir ein Glas Wasser ein und nehme einen gierigen Schluck. Immer noch kribbelt die Kälte in meinen Fingern. Ich hatte völlig vergessen, dass er einen Schlüssel für die Wohnung hat. »Gibt es was Neues bei den Ermittlungen?«

»Sag du es mir. Immerhin hast du selbst mit Viktor geplaudert.«

Das Glas landet knallend auf der Tischplatte. »Du Arschloch.«

»Du kannst nicht einfach durch die Gegend laufen und irgendwelchen Verdächtigen hinterherspionieren. Kapierst du nicht, du bist in Gefahr! Diese Leute suchen überall nach dir!«

»Dann sollen sie kommen!«, brülle ich, und er starrt mich überrumpelt an. »Sollen sie kommen und mich holen, ich warte darauf! Ich habe es satt, ständig wegzulaufen, mich andauernd zu verstecken, andauernd diese Angst zu haben! Ich will endlich frei sein!«

»Dann handle doch bitte wie ein halbwegs intelligenter Mensch und lass uns das regeln! Wir beschützen dich, Selbstjustiz hilft gar nichts.«

»Oh doch, sie hilft. Glaub mir, sie ist sogar das Beste, was es geben kann.«

Er schüttelt abermals den Kopf. »Das ist die Wut, die aus dir spricht. Ich verstehe das, aber –«

»Kein Aber. Du hast behauptet, ihr würdet ihn nicht überwachen. Du hast mir mitten ins Gesicht gelogen.«

»Die Entscheidung fiel erst danach. Du hast ja recht, irgendwas stimmt mit diesem Kerl nicht. Ich habe auf dich gehört, Anja, ich habe dir vertraut, aber womit ich nicht gerechnet habe, ist, dass meine Leute mir als Erstes mitteilen, dass du mit diesem Kerl ein Bierchen trinkst!«

»Ich dachte, du hältst ihn für unwichtig. Ich dachte, du glaubst mir nicht!«

»Natürlich glaube ich dir. Ich glaube dir alles, aber es ist nicht immer so leicht, das meinen Kollegen klarzumachen.« Er kommt näher, spricht nun etwas ruhiger. »Bitte, Anja. Versprich mir, dass du dich nicht mehr mit diesem Typen triffst. Ich werde herausfinden, was er weiß, aber du musst –«

»Was muss ich?«, unterbreche ich ihn. »Dir vertrauen? Ich kann niemandem vertrauen. Niemand steht auf meiner Seite.«

»Das ist nicht wahr. Ich würde alles tun, um dich zu beschützen. Dich und Moonlight.«

Moonlight. Ganz plötzlich schießen mir Tränen in die Augen. Weil ich verloren habe, was Star am wichtigsten war. Ich habe sie verloren, und ich weiß nicht, wie ich das wieder hinbiegen soll.

»Hey. Ist schon gut. Alles wird gut, Anja.«

»Sie ist weg«, rufe ich, und er starrt mich fragend an. »Ich habe sie verloren, verstehst du? Sie spricht nicht mit mir. Sie hält es nicht einmal in einem Raum mit mir aus. Jede Nacht liege ich wach, weil ich nicht weiß, wo sie ist.«

»Das wird schon«, sagt er sanft. »Soll ich mit ihr reden?«

»Nein, das wird nichts bringen. Bitte misch dich nicht ein.«

»Du musst sie verstehen. Sie hat ihren Bruder verloren. Er war die Welt für sie.«

»Und es ist meine Schuld, nicht wahr? Das denkst du doch.«

Harte Worte, zum ersten Mal laut ausgesprochen. Er sagt nichts. Aber sein Gesicht verrät seine Gedanken.

»Ist schon gut«, sage ich leise. »Es stimmt ja auch. Es ist meine Schuld. Wäre ich nicht gewesen, wäre das alles niemals passiert.«

»Anja …«

Ich schiebe mich an ihm vorbei und setze mich auf die Couch. Komplett erstarrt fühle ich mich. Als gäbe es jetzt, nachdem das gesagt ist, nichts anderes mehr zu tun als zu schweigen.

»Anja. Hör mir zu.« Er setzt sich zu mir, und doch klingt seine Stimme weit entfernt. »Die waren es. Die haben ihn erschossen. Und es gibt nichts, was wir daran ändern können. Aber gib dir nicht die Schuld. Wenn es auch nur für kurze Zeit war, du hast die beiden gerettet. Ich bin mir sicher, Star wusste das. Deswegen hat er alles für dich getan. Er war dir so dankbar.«

Richtig, und noch mehr als das. Verrannt hat er sich, verrannt in dieses völlig absurde Gefühl von Liebe, das ihn in den Abgrund gerissen hat. Ich war so blind. Ich hätte sehen müssen, wohin das führt, und doch habe ich nichts getan, um es zu verhindern.

»Ich habe ihn zum Tode verurteilt«, flüstere ich. »In dem Moment, als ich ihn in mein Auto steigen ließ.«

Danach sagen wir nichts mehr. Ich glaube, er hat es verstanden. Wieso loszulassen für mich niemals möglich sein wird. Wieso es keinen anderen Weg gibt als jenen zurück in die Hölle. Wo alles begann und wo auch alles enden muss.

»Ich bin so müde«, murmle ich vor mich hin.

»Ich werde gehen.«

»Nein«, sage ich, als er schon aufstehen will. »Bitte bleib. Lass mich nicht allein.«

Er lehnt sich zurück, und ich lege den Kopf auf seine Schulter. Sofort fallen mir die Augen zu. Ich träume von Moonlight, die zur Tür hereinkommt und uns beide eingenickt auf der Couch vorfindet.

Ein Poltern reißt mich aus dem Schlaf. Ich setze mich auf und sehe mich um. Er blinzelt benommen.

»Bin ich eingeschlafen?«, fragt er verwirrt.

»Scheint so.«

Er wirft einen Blick auf die Uhr und steht auf. »Ich muss jetzt nach Hause. Morgen wird ein langer Tag.«

»Danke, dass du noch geblieben bist.«

»Finger weg von Viktor. Ich meine das ernst, keine Solo-Aktionen mehr. Und bitte sprich mit Moonlight. Ihr müsst das aus der Welt schaffen.«

»Ich werde es versuchen.«

»Wir hören uns morgen.«

Er verlässt die Wohnung, als würde ich bereits wieder schlafen, völlig lautlos. Gähnend schleppe ich meinen erschöpften Körper ins Badezimmer, da bemerke ich plötzlich, dass Moonlights Schuhe im Flur stehen. Ich drehe um und lege ein Ohr an ihre Zimmertür. Alles still. Doch dann bewegt sich ein Schatten unter dem Türschlitz. Wann ist sie zurückgekommen? Ich klopfe, obwohl mir klar ist, dass sie es nicht hören kann. Zu meiner Überraschung öffnet sich daraufhin die Tür.

Da steht sie. Dieses blasse, dürre Mädchen, das sich Nacht für Nacht durchs Leben schlägt, allein. Das man im ersten Moment für schwach halten will, aber sie ist stark. Der Hass macht sie stark.

»Ich habe dich gar nicht nach Hause kommen hören«, sage ich. »Hast du Hunger?«

Sie schüttelt den Kopf.

»Hör zu … Wir müssen endlich reden. Über so viele Dinge. Würdest du das für mich tun?«

Erst jetzt merke ich, dass sie ein Blatt Papier in der Hand hält. Die Worte darauf sind bereits geschrieben. Rot wie Blut.

Das wird dir noch leidtun.

Die Tür kracht mir beinahe ins Gesicht. Sie schließt ab, ich begreife nicht. Verwirrt klopfe ich erneut. Bis es mir klar wird.

»Da war nichts«, rufe ich durch die Tür. »Wir sind nur eingenickt. Was hältst du von mir?«

Keine Reaktion. Natürlich nicht. Sie kann mich nicht hören.

Mit mir die Nacht

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