Читать книгу Mit mir die Nacht - Michaela Kastel - Страница 7

1

Оглавление

Zwei Wochen zuvor

Er fragt mich, was ich sehe, wenn ich die Augen schließe. Den Wald. Ich sehe immer bloß den Wald. Wie die Sterne über den verschneiten Baumkronen leuchten. Wie das Feuer die eisige Nacht erhellt. Es ist so wunderschön, dass ich weinen möchte. Nur ich und die Sterne. Vollkommen still.

Hier gibt es keine Sterne. Der Himmel hat sie verschluckt. In der Stadt ist jede Nacht gleich. Eine Reise durch einen unterirdischen Tunnel. Millionen Tonnen Gestein, die ganz plötzlich auf dich einstürzen könnten. Ich fühle mich begraben unter all dieser Last, unter dem Himmel, der keiner ist, bloß eine schwarze Kuppel irgendwo da oben.

Manchmal fragt er mich auch, ob ich vorhabe, von hier wegzugehen.

»Nein«, antworte ich dann. »Wo sollte ich denn hin? Ich habe doch nur euch beide.«

Doch das ist nicht der wahre Grund. Unter einer Kuppel sammelt sich Ungeziefer. Nur wer tief in den Dreck greift, kann das Unkraut an den Wurzeln packen. Und genau das habe ich vor.

Die Straßenlichter füllen alles mit künstlicher Lebendigkeit. Mit diesem goldenen Schimmer, den ich als Kind so faszinierend fand. Es war, als würde die Stadt glühen. Als würde die Hitze, die sie ausstrahlt, alles lebendig machen. Nicht so wie zu Hause. Auf der Lichtung war alles rein und klar. Keine bunten Lichter, die dich in die Irre führen. Es war ein Paradies, und wie bei jedem Paradies lag die Hölle gleich darunter.

Ich habe den Kopf an die Fensterscheibe gelegt und beobachte von hier drinnen die Welt. Wie alles an uns vorbeizieht. Wir sind auf dem Weg ins Polizeipräsidium. Polizist und Kronzeugin. Mittlerweile auch Mörderin. Er kennt die Geschichte. Wie es begann und wie es endete. Irgendjemandem musste ich es erzählen. Er hat mir geschworen, mich zu beschützen.

»Ich halte das für keine gute Idee«, sagt er zum wiederholten Mal.

»Ich will ihn einfach nur sehen.«

»Er weiß nichts.«

»Vielleicht habt ihr die falschen Fragen gestellt.«

»Haben wir nicht. Er wird uns keine Hilfe sein.«

»Werdet ihr ihn gehen lassen?«

»Wahrscheinlich.«

»Dann will ich ihn vorher noch einmal sehen.«

Er sagt nichts mehr. Er weiß, dass Diskutieren sinnlos ist. Ich bin nicht so weit gekommen, um jetzt aufzugeben. Ich habe nicht grundlos alles verloren, was mir etwas bedeutet hat.

Wir erreichen das Präsidium gegen zwanzig Uhr, die Stadt ist gerade am Erwachen. Menschen tummeln sich auf den Straßen, dicht gedrängt schieben sich Autos durch den träge fließenden Verkehr. Es ist laut, die kalte Luft schmeckt scheußlich. Als ich aus dem Wagen steige, werfe ich einen Blick in den Himmel. Immer suche ich die Sterne, aber ich finde sie nicht. Nichts ist da, woran man sich orientieren könnte. Wie machen das die anderen Menschen? Wie erträgt man diese Orientierungslosigkeit? Wenn es nur einen gäbe. Einen einzigen Stern in dieser endlosen schwarzen Leere.

»Anja.« Er wartet beim Eingang auf mich. »Hast du es dir anders überlegt?«

Er nennt mich jetzt so. Ich habe ihm meinen richtigen Namen gesagt, und er hat gefragt, welcher Name mir lieber wäre. Ich konnte ihm keine Antwort geben, also hat er selbst entschieden.

»Nein«, antworte ich. »Ich komme.«

Wir betreten das Gebäude.

Als ich das letzte Mal hier war, herrschte Chaos. Menschen sind von einem Raum in den anderen gehetzt, es wurde gerufen, telefoniert, denn es gab etwas zu tun. Es galt Menschenleben zu retten. Als ich das letzte Mal hier war, war Star noch bei mir.

Jetzt ist es ruhig. Wie nach einer langen Schlacht.

»Hier entlang.« Er führt mich quer durch das großräumige Büro, vorbei an leeren Schreibtischen und müdem Personal.

Seit der Razzia im Schlachthaus sind knapp vier Wochen vergangen. Die Spuren führen in die ganze Welt, Adressen von Kunden, Telefonnummern, mögliche Geschäftspartner. Das meiste wurde von diesen Dreckschweinen vernichtet, bevor sie abgehauen sind, aber nicht alles. Ein paar wenige Hinweise haben sie uns hinterlassen. Die halb verkohlte Festplatte eines Computers, der im Erdgeschoss gefunden wurde. Ein Team ehrgeiziger Fachleute ist seit Tagen dabei, die vorhandenen Daten zu retten, um eine mögliche Fährte ausfindig zu machen. Vier Männer wurden bereits ausgeforscht, deren Namen in einer Gehaltsliste mit der Bezeichnung »Assistenz« aufgetaucht sind. Drei von ihnen musste man wieder gehen lassen. Der vierte sitzt an einem Tisch und starrt mich an.

Zumindest wirkt es so, als würde er das. Als blickten mir diese toten dunklen Augen genau ins Gesicht. Aber er kann unmöglich wissen, dass ich ihn beobachte. Die Kamera im Verhörraum ist hinter einem Spiegel versteckt, und doch stiert er genau hinein, als versuche er mit mir zu kommunizieren. Durch die Wand hindurch, die uns voneinander trennt.

»Was weißt du über ihn?«, frage ich meinen Polizisten.

»Er heißt Viktor Juskowiak, vierunddreißig Jahre alt, rumänischer Abstammung. Er war bis vor Kurzem bei einer Reinigungsfirma angestellt und hat laut eigener Angabe einmal pro Woche die Fenster und Böden im Schlachthaus gereinigt, von den Vorgängen im Haus hat er angeblich nichts gewusst. Wir haben die Reinigungsfirma überprüft, seine Angaben sind korrekt. Auch dort hat man angeblich nichts von all dem gewusst. Wir werden ihn wohl oder übel ebenfalls gehen lassen müssen.«

»Nein. Das dürft ihr nicht, er lügt.«

»Das behauptest du bei jedem Menschen.«

»Weil es die Wahrheit ist.«

»Fakt ist, er hat ein Alibi, und es gibt keine Beweise, die rechtfertigen, ihn länger festzuhalten. Wie auch bei den anderen zuvor.«

»Das Auftauchen ihrer Namen auf diesem PC reicht nicht?«

»Wir wissen nicht, wozu dieser Computer verwendet wurde. Vielleicht hat man ihn auch absichtlich dort gelassen, um uns auf eine falsche Spur zu führen. Das wäre logisch, nachdem sie sonst so gründlich waren.«

Möglich. Dennoch ist es diesmal anders. Man sieht es doch, auf dieser Kamera. Man kann es ganz deutlich sehen. Wie er mich anstarrt, wie leer seine Augen sind. Vielleicht keine Kreatur mit Hörnern und spitzem Schweif, aber das Böse hat viele Gesichter. Das Böse ist Meister der Verkleidung.

»Lass mich mit ihm reden«, sage ich.

»Auf keinen Fall.«

»Ich weiß, wie diese Monster ticken. Ich möchte mit ihm reden, bitte.«

»Okay, hör mir zu.« Er zieht mich vom Bildschirm weg. »Ich weiß, wie es dir geht, auch ich will diese Schweine finden. Ich will diesen Höllentrip beenden, aber das geht nur, wenn wir uns an die Regeln halten. Keine Himmelfahrtkommandos mehr, keine Aktionen unter der Hand, das hat uns allen nur Leid beschert.«

»Was redest du da?«, zische ich und ziehe den Arm zurück. »Niemand macht hier Himmelfahrtkommandos.«

»Ach nein?«, fragt er und sieht mich scharf an. Doch schon im nächsten Moment verändert sich sein Ausdruck, wird weich und verständnisvoll. »Ich will doch nur, dass du in Sicherheit bist. Ich möchte dich aus all dem ab sofort raushalten, und das bedeutet nun einmal auch, dass wir nach den Regeln spielen müssen.«

»Keiner in diesem Gebäude hält sich an Regeln oder ans Gesetz. Die meisten hier pissen auf das Gesetz. Irgendjemand hockt auf den Informationen, die wir brauchen, vielleicht sogar dein ach so korrekter Chief, weil er zu denen gehört, und du willst nach den Regeln spielen? Lass mich mit dem Kerl reden!«

»Du bist wütend und ungeduldig, das bin ich auch. Aber ich lasse dich sicher kein Verhör führen.«

»Ich bin die Einzige, die diese Leute versteht. Ich kann zu ihm durchdringen.«

»Ich sagte Nein.«

Ich trete zurück. Der Mann ist aus dem Kamerabild verschwunden. Der Stuhl am Tisch ist leer.

»Wo ist er?«, frage ich.

Im nächsten Moment taucht er wieder auf. Er dreht Runden um den Tisch. Gemächlich, als würde er spazieren gehen. Das geduldige Raubtier, das schon sehr bald wieder in die Wildnis entlassen wird.

»Ich werde noch einmal mit ihm reden«, sagt mein Polizist. »Sag mir, was ich ihn fragen soll.«

»Du verstehst nicht«, antworte ich kopfschüttelnd. »Du sprichst nicht ihre Sprache. Du kannst nicht sehen, was ich sehe. Ich muss ihm in die Augen blicken.«

»Nein, ich mache das. Aber du kannst zuschauen, wenn du willst.« Er berührt meine Schulter. »Vertrau mir. Wir wollen beide dasselbe.«

Er verlässt den Raum über eine Nebentür und betritt kurz darauf das Verhörzimmer. Ich verfolge alles über den Kamerabildschirm, meine Hände schwitzen vor Anspannung. Der Gefangene nimmt artig auf dem Stuhl Platz, während mein Polizist sich neben ihn setzt. Es folgt ein langes Gespräch. Ruhige Worte anstatt Gebrüll und Drohungen. Fast scheint es, als wären sie sich sympathisch. Fragen werden beantwortet, und eine Geschichte entsteht. Eine Geschichte, die ins Nichts führt.

Ein Mann reinigt mit seinen Kollegen einmal pro Woche ein Gebäude. Dass es so abgeschieden im Wald liegt, verwundert sie nicht, hier draußen ist das nichts Besonderes. Sie kommen mit dem firmeneigenen Kleinbus. Fenster und Böden, vier Stockwerke, den Keller erledigt jemand anderes. Nach drei Stunden ist alles getan. Die Leute dort sind sehr freundlich. Es gibt immer gutes Trinkgeld. In der Gegend heißt es, es sei ein Bordell. Ob er schon mal als Privatperson drin gewesen ist? Nein, so was ist nichts für ihn. Er macht dort nur seine Arbeit.

Ende.

Ich blinzle verzweifelt, aber meine Augen täuschen mich nicht. Keine Hörner, nichts. Da sitzen bloß zwei Männer an einem Tisch.

Mein Polizist steht auf. Als er zurück zu mir in den Beobachtungsraum kommt, steht ihm die Ratlosigkeit ins Gesicht geschrieben.

»Dasselbe Ergebnis wie letztes Mal«, sagt er.

Ich nicke.

»Wir haben ihn komplett überprüft und auch seine Kollegen. Vor zwei Monaten hat er seinen Job bei der Reinigungsfirma gekündigt und ist legal aus Rumänien eingereist. Seitdem ist er hier auf Jobsuche, wobei ich persönlich denke, dass er irgendwo schwarz arbeitet. Aber das ist jetzt nicht das Thema. Er weiß nichts.«

»Und du glaubst ihm das alles? Dass er mehrmals dort war und nie etwas bemerkt hat?«

»Ich glaube vor allem an die Gleichgültigkeit der Menschen. Auf die ist fast immer Verlass.«

Das stimmt. Du kannst mitten auf der Straße mit einem Messer im Bauch zu Boden sinken, und es wird immer jemanden geben, der an dir vorbeiläuft. Der wegsieht, weil der Schrecken der Realität ihn sonst erblinden ließe.

»Anja, hör zu. Vielleicht täuschst du dich ja. Vielleicht … willst du einfach zu viel auf einmal.«

»Ich will bloß Frieden.«

»Nein, du willst was anderes. Aber das ist eine heikle Sache. Und es wird ihn nicht zurückbringen.«

Woher will er das wissen? Aus dem Feuer und der Asche bin ich gekrochen, mit nichts als meinen gebrochenen Flügeln. Ich dachte, es sei die Erlösung, die mich wiederauferstehen lässt, doch am Ende war es Rache. In ihr liegt eine Kraft, die selbst den Tod überdauert, davon bin ich überzeugt.

»Vielleicht ja doch«, sage ich leise.

Er berührt meine Hand. Er lächelt, wenn auch freudlos.

»Wir werden sie finden, Anja. Wir werden sie alle finden, und sie alle werden für ihre Taten bezahlen. Das verspreche ich dir.«

Mit mir die Nacht

Подняться наверх