Читать книгу Mit mir die Nacht - Michaela Kastel - Страница 11
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ОглавлениеDie Welt ist still. Moonlight kennt es nicht anders. Dennoch fällt es ihr an manchen Tagen besonders auf. Es gibt dann keine Farben, die zu ihr sprechen. Keine freudigen Gesichter, keine redseligen Augen. An manchen Tagen scheint das Leben völlig zum Stillstand gekommen zu sein, darum sind es die Nächte, auf die Moonlight vertrauen muss.
Sie hat ihren Platz inzwischen gefunden. Unter Bahnhofstreppen, auf Parkplätzen oder in Parks. In dieser Stadt gibt es viele Möglichkeiten, sich zu verkriechen. Man muss nur fleißig suchen. Früher haben sie und ihr Bruder auf der Straße gelebt. Das wurzellose Dasein schreckt sie nicht. In der Gemeinschaft der Ausgestoßenen ist sie dennoch neu. Man fragt sie oft, wo sie vorher gelebt hat. Im Funkhaus, antwortet sie dann. Anjas Wohnung verschweigt sie. Obwohl dort all ihre Sachen sind. Obwohl sie immer wieder dorthin zurückkehrt, um sich aufzuwärmen, zu essen, zu schlafen und manchmal sogar zu weinen. Sie erzählt nicht, dass sie eigentlich ein Zuhause hat und bloß hier ist, weil sie sonst verrückt werden würde. Kein Wort verliert sie darüber.
Ihre neuen Freunde sind nicht gerade vertrauenswürdig. Zwar angenehm wortkarg, aber dreckig und verrucht. Star würde ihr verbieten, mit solchen Leuten abzuhängen.
Aber Star ist nicht mehr hier. Sie muss selbst schauen, wie sie über die Runden kommt. Sie hat bereits einiges versucht. Im Venushügel sucht man derzeit keine neuen Mädchen. In einem anderen Bordell hieß es, sie sei zu jung. Schade, dass Shark nicht mehr da ist. Er hätte ihr geholfen.
Sie erinnert sich noch gut an ihren ersten Tag im Funkhaus. Sie sollte an der Bar aushelfen, aber viele der Kunden warfen ein Auge auf sie. Shark hätte sie an den Nächstbesten verschachern können, aber er war schlau. Er wollte aus ihrer Jungfräulichkeit Profit schlagen. Einen Preis hat er aus ihr gemacht, zum Jahreswechsel, und alle haben mitgespielt. Es war die bestbesuchte Tombola seit Jahren. Damals hat sie gelernt, wie wertvoll man für manche Menschen sein kann. Und gleichzeitig auch, wie ersetzbar.
Moonlight hat es nie verstanden. Was Männer daran finden, was irgendjemand daran findet. Einmal hat sie versucht, mit Star über dieses Thema zu reden. Sie wollte wissen, ob es ihm Spaß macht, was die Kunden mit ihm anstellen. Denn er sei doch ein Mann, und Männern macht alles Spaß.
Doch er zuckte bloß mit den Schultern und meinte, es gehöre eben zum Leben.
So sieht sie es mittlerweile auch. Es gehört zum Leben. Zu stehlen, sich zu prostituieren, zu lügen, zu betrügen. Sie streift umher und wartet ab, was geschieht. Es ist simpel. Und es ist besser so.
Wenn sie morgens nach Hause kommt, schleicht sie sich manchmal in Anjas Zimmer. Sie steht dann an ihrem Bett und sieht ihr beim Schlafen zu. Anja wälzt sich im Schlaf umher. Unruhige Träume müssen das sein. Moonlight will sie packen und gegen die Matratze drücken. Sie will das Kissen heben und so lange auf Anjas Gesicht pressen, bis sie sich nicht mehr rührt. Es grenzt an Wahnsinn, was da in ihr brodelt, und es ist ein Wunder, dass sie es noch nicht getan hat, obwohl jeder Gedanke unweigerlich damit verknüpft ist. Wenn sie isst, wenn sie schläft, wenn sie in die Stadt flüchtet oder sich in ihrem Zimmer verbarrikadiert. Der Schrei nach Vergeltung ist der einzige Klang, der in ihre stille Welt eindringen kann. Und seitdem hallt er in ihrem Kopf wider. Ohne Pause.
Sie will ihr altes Leben zurück. Wo sie einen Platz in der Welt hatte, einen Zweck. Sie hatte ständig Menschen um sich. Im Funkhaus hat man zusammengehalten. Sie waren eine richtige große Familie. Star war ihre Familie.
Nun hat sie nichts mehr. Einfach nichts. Und der Polizist erwartet, dass sie mit dieser Frau unter einem Dach lebt. Dass sie zusammen frühstücken und fernsehen und sich gegenseitig Halt geben. Dass sie ihr vergibt. Der Frau mit dem Zippo in der Hand. Der Frau, die ihren Bruder umgebracht hat.