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Sie nennen ihn Jaxx. Ein Name, der Gerüchte schürt. Blick eines Adlers, Kraft eines Bären, Verstand einer Schlange. Assassine, Inquisitor, Kopfgeldjäger. Vom Himmel in die Hölle in nur vier Komma acht Sekunden.

So ist Jaxx. Das ist sein Ruf, und seinem Ruf wird er gerecht. Keine Rolle spielt es, ob es Asche regnet oder Feuerbälle hagelt. Er bleibt sich treu, denn wer treu ist, wird belohnt.

Sie wird von allen bloß Fairy genannt. Ein Name, der ihm nicht gefällt. Er fragte sie, wie sie wirklich heißt, doch sie wollte es ihm zunächst nicht verraten. Also blieb er hartnäckig. Er kam zu ihr, wenn alle anderen schon schliefen. Wenn auch sie selbst dachte, der Tag wäre zu Ende, da hat er sie aus ihrer Zelle geholt und einfach mit ihr zu reden begonnen. Immer wieder. Bis er seine Antwort bekommen hat.

Nie hätte er sich vorstellen können, dass so etwas möglich ist. Sich zu verlieben, bloß durch Worte. So viele Worte, so viele Stunden mit ihr allein. Flora. Das ist ihr Name. Wunderschön, genau wie sie.

Jaxx besitzt nicht viel. Sein Zimmer ist so leer, dass er manchmal Angst hat, dorthin zurückzukehren. Deswegen ist er gerne unterwegs. Es gibt auch immer etwas zu tun, Warentransport, Fleischbeschau, Akquise. Als Auftragskiller hast du viele Aufgaben. Nicht alles dreht sich um Mord und Totschlag. Nun ja, eigentlich schon. Doch er schätzt den psychologischen Teil seines Berufs. Er war schon immer ein schneller Lerner, konnte rasch und genau umsetzen, was man ihm beibrachte, egal, ob Foltermethoden oder neue Sprachen. Man könnte meinen, er sei hierfür geschaffen. Der geborene Krieger.

Jaxx nimmt seinen Job sehr ernst. Deshalb ist er auch so gut darin. Im Institut kennt man ihn. Dort draußen kennt man ihn auch. Sein Ruf eilt ihm voraus, er mag es so, es erspart ihm Zeit und oftmals auch einiges an Kugeln. Wenn die Leute wissen, dass mit dir nicht zu spaßen ist, gehen sie mit einer vollkommen anderen Grundeinstellung an die Verhandlungen heran. Oft genügt schon ein klares Gespräch, um zu bekommen, was er möchte. Und wenn er doch zur Waffe greifen muss, ist er gründlich. Er hinterlässt keine Spuren, und niemand sieht ihn kommen. Zum perfekten Werkzeug des Bösen ist er geworden. Interessante Entwicklung.

Im Institut zu leben hat seine Vorteile. Es ist im Prinzip wie bei der Armee. Du bekommst Verpflegung, Schutz und bist manchmal sogar in guter Gesellschaft. Jolly und Roger oder Grim und Reaper. Zwar leider nicht so schweigsam, wie er es gerne hätte, aber in der Regel gute Kameraden. Sie alle sind im Ostflügel des Gebäudes untergebracht, genau wie das medizinische Personal, während der Direktor und Mistress im Westflügel residieren. Über die vier Stockwerke erstrecken sich Labors, Speisesäle, Turnhallen, ein Spa-Bereich und Zimmer für die Gäste. Die Zellen der Mädchen liegen im Erdgeschoss. Offiziell ist das hier ein Wellness-Hotel. Viele kommen von weit her, um die speziellen Entspannungsangebote des Hauses in Anspruch zu nehmen. Hier einzuchecken ist teuer. Die meisten bleiben bloß einen Tag. Dafür ist das Büfett gratis.

Jaxx’ Zimmer misst acht Quadratmeter. Es beherbergt ein Bett, einen Schrank und einen alten, quietschenden Klapptisch, von dem er sich einfach nicht trennen kann. Jaxx wirft nicht gerne Dinge weg. Eigentum sollte bewahrt werden. Das gilt besonders für Namen. Wen es hierherverschlägt, dem wird sein Name weggenommen. Du bist dann eine Maschine und sollst noch lange funktionieren. Sie warten dich, belohnen dich, stellen dich sogar aus, wenn du einen besonders guten Job gemacht hast. Kein Witz, es gibt dann eine Party. Man steht hier auf Partys. Und wenn du versagst, kommst du auf die Mülldeponie. Du wirst entsorgt und binnen kürzester Zeit durch jemand Neuen ersetzt. Jaxx wusste das nicht, als er hierherkam. Wie so viele vor ihm glaubte er dem Geld mehr als den leeren Gesichtern, die tagtäglich durch dieses Gemäuer geistern. Er hat seine Seele verkauft und ist Teil der Teufelsarmee geworden. Für König, Gott und Vaterland.

Mit der Zeit lernt man, damit umzugehen. Wenn die ersten Sinnkrisen überstanden sind und man merkt, dass man im Grunde genau dort ist, wo man hingehört. Dann erkennt man die bittere Wahrheit: Es muss so sein. Es ist seine Bestimmung. Sonst wäre er nicht so gut darin.

Es gibt Tage, da ist er quasi vom Dienst befreit. Wenn die Zimmer voll sind und das Institut schwarze Zahlen schreibt, wenn niemand aufgestöbert und bedroht werden muss, wenn alles einfach gut läuft im Schlaraffenland. Dann ist Jaxx nervös. Er unternimmt Streifzüge durch das riesige Haus, erkundet Gänge und vertreibt sich die Zeit. Das Institut war einmal ein Herrschaftssitz, vor hundert Jahren hat hier eine Adelsfamilie gelebt. Gut versteckt im Gebirge, ist es nur über eine schmale Passstraße zu erreichen, die sich durch Wälder und Schluchten den Berg hinaufschlängelt. Von der Talseite des Hauses aus kann man die Landschaft betrachten. Verschneite Bergkämme und ein Meer aus dunkelgrünen Nadelbäumen. Voller Tiere und magischer Kräuter, die oftmals hier zum Einsatz kommen. Mistress hält sich für eine äußerst begabte Botanikerin. Sie betreibt einen Garten von der Größe eines Tennisplatzes auf dem Gelände. Jeden Tag frische Blumen an den Fenstern und auf den Treppenaufgängen. Dank des Gewächshauses selbst zur kalten Jahreszeit. Ihr zweites Fachgebiet sind Pflanzen- und Pilzgifte. Sehr zum Leidwesen der Versuchskaninchen, an denen sie ihre tödlichen Tinkturen, Tees und Pasten testet. Alle paar Monate verschwindet eines der Mädchen auf mysteriöse Weise und ward nie wieder gesehen. Jaxx und seine Kollegen müssen dann akut Nachschub besorgen. Aber das macht nichts. Auswahl gibt es genug.

Sie ist trügerisch, diese Idylle. Ein Ort wie aus einem Märchen. Erst bei genauerem Hinsehen offenbart sich, dass all das in Wahrheit frisch einem Alptraum entsprungen ist.

Es war eine der ersten Fragen, die Flora ihm gestellt hat. »Wie sieht es da draußen aus?«

»Nicht besonders. Waldig. Berge.«

»Was für ein Wald? Wie hoch sind die Berge? Beschreib es mir, bitte.«

Bevor er sie kannte, war das alles nur Kulisse. Jetzt versucht er sich jedes Detail einzuprägen, damit er es ihr beschreiben kann, wenn sie danach fragt.

Sie haben gelernt, es geheim zu halten. Sie versteht, warum das so wichtig ist. Es ist verboten, an diesem Ort existiert nur Gewalt, kein Funken Licht hat diesen Boden je berührt. Seine Aufgaben führen ihn oft sehr weit von hier fort, wochenlang ist er unterwegs, liefert Kugeln ab und sammelt Gliedmaßen ein, verbrennt fremdes Leben in nur wenigen Millisekunden. Früher dachte er, es gäbe nichts anderes, doch nun hat er sie. Wenn er zurückkommt, wartet sie bereits auf ihn. Sie sagt ihm, sie habe ihn vermisst, und sie will wissen, wo er so lange gewesen ist. Unterwegs. Manche würden sagen, auf Brautschau. Andere, auf der Jagd.

Doch dieses Thema ist bei ihren Gesprächen tabu. Stattdessen reden sie über andere Dinge. Er erzählt von seiner Kindheit, vom Leben am Limit, vom Minimum an Chancen und dem Maximum an Radikalität. Er war nie stolz auf sich. Ein Junge, der seine Zukunft verspielt hat. Der sehr früh vom rechten Weg abgekommen und seither ein Bürger dritter Klasse ist. Ein Mann, der Menschen tötet, für Geld. Aber Flora verurteilt ihn nicht. Dank ihr weiß er wieder, dass er ein Herz hat.

Auch sie erzählt ihm viele Dinge. Über ihr Leben, wie es früher war, auch sie hatte Träume, sie wollte reisen, aber das Geld war knapp. Also schlug sie sich mit miesen Aushilfsjobs durch. Sehr zum Ärger ihres großen Bruders, der ihr irgendwann auf die Schliche kam.

»Er wollte immer nur das Beste für mich. Als er herausfand, dass ich in einem Stripclub kellnerte, hätte er mich am liebsten an die Leine genommen und für immer zu Hause eingesperrt.«

»Hört sich nach einem guten Bruder an.«

»Ja, das ist er. Er ist Polizist, weißt du. Er wollte schon immer anderen helfen.«

»Du klingst traurig, wenn du von ihm sprichst.«

»Weil ich ihn so vermisse.«

Jaxx vermisst nichts aus seinem alten Leben. Das Pflaster in seiner Heimat war hart. Friss oder stirb, das war der Leitspruch. Er war klein, schwach und verängstigt, und nun ist er groß, stark und ohne Furcht. Es war ein langer, steiniger Weg bis hierher, aber er hat es geschafft. Er hat ein Handwerk gelernt, das schwierigste Handwerk überhaupt. Und nun ist er stolz auf sich.

Dieses Haus ist so groß. So voller Menschen. Es ist schwierig, ein Geheimnis zu bewahren. Manchmal wird sie in den Schauraum gesteckt. Sie ist rebellisch, wild, sie weigert sich zu essen. Jaxx kennt die Methoden hier. Wie auch die anderen ist er ein unabdingbarer Teil dieses komplexen Mechanismus, ein Exekutor von Recht und Ordnung in einem von Krieg und Anarchie geplagten Land. Rebellen müssen niedergewalzt, Unruhestifter bestraft werden. In einen Raum ohne Fenster wird Flora einen Tag lang eingesperrt, mit durchsichtigen Wänden, sodass jeder sieht, welche Angst sie hat, wenn die Scheinwerfer angehen und die Kunden der Reihe nach über sie herfallen.

Der Schauraum ist etwas Besonderes. Nur gelegentlich in Betrieb und nichts für schwache Nerven. Wer darauf abfährt, muss monatelang auf seine Chance warten. Für die Mädchen ist es eine der schlimmsten Bestrafungen. So oft redet Jaxx auf Flora ein, sich zu benehmen. Sie könnte hier ein gutes Leben haben, viele Vorteile genießen, wenn sie nur endlich lernen würde, nach den Regeln zu spielen. Aber sie spuckt auf die Regeln.

Jaxx hasst diesen Raum. Sie alle sind Schweine. Solche wie die schlachtet er für gewöhnlich ab. Einen verabscheut er besonders. Er kennt seinen richtigen Namen nicht, im Institut ist er bloß als »Mr. Frost« bekannt. Anonymität ist Pflicht. Grauenvolle Dinge geschehen in diesem Haus, ohne Diskretion läuft hier gar nichts. Einordnen lassen sich die Kerle dennoch alle in dieselbe Kategorie: gut betucht, pervers und mächtig. Nicht Jaxx’ Revier. Er kommt von ganz unten. Die schiefe Bahn gilt dort als Geburtsrecht. Hier hat er zumindest Karriere gemacht. Auf der Straße weichen ihm die Leute aus. Unter seinen Kollegen gilt er als Ausnahmetalent und Vorbild. Er verbreitet Angst und Schrecken, auch das ist Macht, eine Macht, die Mr. Frost erst durch das Vergewaltigen hilfloser Mädchen zu erlangen glaubt.

Flora ist Frosts Lieblingsspielzeug. Ist sie mal wieder im Schauraum, gibt es für diesen Bastard kein Halten mehr. Alle dürfen zuschauen, alle sind schockiert. Wie hemmungslos dieser Mann ans Werk geht. Mit welcher Leidenschaft er bohrt, peitscht und schlägt. Jaxx versucht dem Mann aus dem Weg zu gehen. Kunden sind tabu. Sofern sie nicht die Regeln brechen, endet hier Jaxx’ Hoheitsgebiet. Und der Wahnsinn nimmt fröhlich seinen Lauf.

Wenn es vorbei ist, lassen sie sie einfach liegen. In diesem quadratischen gläsernen Raum, im blinkenden Licht der Spotlights.

Jaxx geht zu ihr, sobald die Luft rein ist. Er hat keinen Schlüssel, aber er hat Hände. Er berührt das Glas, um ihr zu zeigen, dass er bei ihr ist, er wird sie nicht verlassen, ihr niemals wehtun, ihr niemals verbieten zu weinen. Er liebt sie, und er will, dass sie das weiß. Er würde alles tun, um sie aus dieser Hölle zu befreien.

Er hat bereits darüber nachgedacht. Wie es möglich wäre, was er tun müsste. Fakt ist, er ist ein guter Soldat. Tut stets seine Pflicht. Man ist hier zufrieden mit ihm. Er könnte fragen. Den Direktor einfach um Erlaubnis bitten. Die Erlaubnis, zu gehen. Mit Flora in die Freiheit.

Doch sie würden ihn nicht gehen lassen. Dafür ist sein Beitrag für die Gesellschaft viel zu wichtig. Der treue Knecht ohne Fehl und Tadel. Wer erledigt sonst die Aufträge, wer schürt Angst und Schrecken, wer? Jolly und Roger? Dilettanten. Grim und Reaper? Billige Kopien. Es gibt hier keine Begnadigung. Keine Rente, kein Ende des dunklen Tunnels. Jaxx muss auf Spur bleiben. Nur so kann er Flora beschützen.

Flora erwacht. Auf allen vieren kriecht sie über den Boden ihrer gläsernen Zelle, ihre Augen sind mit einem Tuch verbunden. Sie muss spüren, dass er bei ihr ist, und tastet suchend die Glaswand ab.

»Ich bin hier«, sagt er. »Ich bin bei dir.«

Sie kann ihn nicht hören, aber er spricht weiter. Immer wieder diese Worte, bis sie ihn gefunden hat. Erschöpft sinkt sie zu Boden, aber ihre Hand bleibt auf dem Glas. Als könne sie ihn berühren.

Es muss anders geschehen. Nicht bitten, erpressen. Er muss ihnen einen Grund geben, ihn mit Flora ziehen zu lassen, für immer. Doch was nur, was könnte er ihnen im Austausch bieten? Was ist es, das der Direktor um jeden Preis haben möchte? Wofür er hundert Mädchen freilassen würde, ohne mit der Wimper zu zucken?

Jaxx hat bereits eine Ahnung.

Mit mir die Nacht

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