Читать книгу Unter Piraten - Miriam Lanz - Страница 11
Оглавление26. Mai im Jahre des Herrn 1713:
Dr. Steward saß hinter dem schweren Eichenschreibtisch in seiner neuen Praxis und sah einige belanglose Berichte und Dokumente durch, die er aus Bristol mitgebracht hatte.
In dem hellen, großen Raum herrschte noch immer ein heilloses Durcheinander - ein untypisches Verhalten für Dr. Steward, der sehr viel Wert auf Ordnung legte.
Im Moment aber konnte er keinen Gedanken an seine Praxis aufwenden. Nur die Medizinflaschen und Dosen hatte er in den großen gläsernen Schrank gereiht- allerdings ohne irgendeine erdenkliche Logik- und auch das hatte er nur getan, damit sie nicht im Weg herumlagen oder womöglich zu Bruch gingen.
Neun Tage war er nun schon in Kingston. Dreizehn Tage waren seit Gwyns Tod vergangen. Und er konnte es immer noch nicht glauben. Er konnte einfach nicht glauben, dass er diesen Albtraum ein weiteres Mal durchleben musste…
Lord Hamilton schlug am Tag nach seiner Ankunft vor, ein Requiem für Gwyn abzuhalten, „um ihr die letzte Ehre zu erweisen“ doch Steward lehnte ab.
Wieso sollte er für Gwyns Seele zu einem Gott beten - einem „liebenden Gott“, wie ihn alle Welt nannte - wenn genau dieser Gott ihm innerhalb eines Jahrzehnts alle Menschen nahm, die er geliebt hatte.
Dr. Steward zweifelte im Grunde schon seit dem Tod seiner Frau an der Existenz eines Gottes, aber seit dreizehn Tagen war er sicher, dass es diesen Gott so nicht gab, oder Gott mit dem Schicksal der Menschen nichts zu tun haben wollte.
Plötzlich flog die Tür auf. Als sie laut gegen die Wand schlug, sah Dr. Steward etwas überrascht auf. Tom Hadfield - er war Zimmererlehrling- kam aufgeregt hereingestürmt. Der Arzt musterte ihn fragend.
„Jack Thayor…er is´ vom Dach gefallen…musste ´was am ´nem Balken richten…“ Der Junge stand atemlos vor dem Schreibtisch; seine Worte verschluckte er fast, in dem Versuch, wieder ausreichend Luft zu bekommen.
Dennoch glaubte Steward verstanden zu haben, was Tom ihm mitzuteilen versuchte. Er erhob sich und griff nach seiner Tasche, die mit den wichtigsten Utensilien versehen, neben seinem Schreibtisch stand.
Vor der Praxis wartete bereits ein Stalljunge mit dem gesattelten Pferd. Der Arzt warf ihm einen überraschten Blick zu.
„Hab´ den da“, dabei deutete er auf Tom, „in Eure Praxis laufen seh´n und dachte, ich mach´ schon mal alles klar.“
Steward nickte nur und stieg auf.
Die Praxis lag in einer der vielen schattigen, engen Gassen nahe der Hauptstraße.
Tom rannte zu der belebten Hauptstraße. Der Arzt gab der braunen Stute die Sporen, um den Zimmererlehrling nicht zu verlieren. Er hatte den Jungen unter den vielen Menschen, die bei seinem Anblick schnell aus dem Weg gingen, in dem Moment wieder erkannt, als er in eine breite Seitenstraße einbog.
Schon von weitem konnte der Arzt das unfertige Fachwerkhaus erkennen. Die hellen Holzbalken bildeten einen deutlichen Kontrast zu den dunklen, alten Häusern ringsumher. Steward trabte an Tom vorbei zu einer Gruppe Männer, die bei dem Klappern der Hufe auf dem Kopfsteinpflaster überrascht aufsahen.
Zwei Männer griffen nach den Zügeln der Stute, um sie zu beruhigen, während Dr. Steward schwungvoll vom Rücken des Tieres stieg. Im Vorbeigehen drückte er einem Mann seine Tasche in die Hand. Dann sah er Jack Thayor.
Der Junge lag auf dem Asphalt, das linke Bein war in einem unnatürlichen Winkel von seinem Körper gestreckt und darunter hatte sich sein Hosenbein tief rot gefärbt. Dr. Steward beugte sich zu dem bewusstlosen Körper des Jungen hinunter und suchte an seinem Hals den Pulsschlag. Als er ihn unter seinen Fingerspitzen fühlte, nickte er - mehr zu sich selbst, als auf die ihm gestellte Frage, ob Jack noch lebte.
Mit größter Vorsicht richtete er Jacks Bein wieder in eine normale Position und griff nach seiner Tasche, um das Bein mit einem Lederband oberhalb des offenen Bruchs abzubinden. Dann richtete er sich an die herumstehenden Männer.
„Bringt ihn in meine Praxis. Ich werde vorausreiten.“
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Einige Zeit später öffnete Steward die Tür seiner Praxis um Max Randoll, der Jack trug, eintreten zu lassen.
„Leg´ ihn dahin!“ Der Arzt deutet auf eine schmale Liege an der Wand, rechts neben dem Glasschrank.
Steward schnitt Jack das linke Hosenbein auf und zog ihm Schuh und Strumpf aus. Mit sicheren, sorgfältigen und geübten Griffen, die er bereits seit über zwanzig Jahren vollzog, richtete er Jacks Knie und seinen gebrochenen Oberschenkel in die richtige Position ein und wusch die offene Wunde gründlich mit heißem Kamillenwasser aus, ehe er sie schließlich nähte. Anschließend bandagierte er das ganze Bein und schiente es.
Max Randoll, der hinter dem Arzt stand, war blass geworden.
„Auf meinem Schreibtisch stehen eine Flasche Wein und einige Gläser. Bedient Euch! Und dann solltet Ihr an die frische Luft gehen“, erklärte er ohne von Jack aufzusehen.
Als er das vertraute Klirren der Gläser hinter sich hörte, begann er das Hemd seines Patienten aufzuknüpfen. Mit je zwei Fingern fuhr er sorgfältig und gleichmäßig über den Brustkorb des Jungen, um seine Rippen zu prüfen. Wie er vermutet hatte, waren die zwei untersten auf der rechten Seite gebrochen.
Die Tür flog auf und eine blasse, Hände ringende Frau kam in die Praxis gestürmt, dicht gefolgt von einem großen stämmigen Mann, dessen Besorgnis nicht zu übersehen war.
„Mein armes Kind!“, stieß die Frau aus und beugte sich über Jack.
Steward musterte sie mit hochgezogenen Augenbrauen und trat einen Schritt zurück.
„Harold und Millecent Thayor”, stellte sich Jacks Vater mit einer knappen Verbeugung vor.
„Sir, wie geht es meinem Sohn?“ Mrs. Thayor fuhr ihrem Sohn durch die Haare; Tränen ob seines Anblicks standen ihr in den Augen.
„Vom jetzigen Stand aus kann ich sagen, dass Euer Sohn eine Oberschenkelfraktur und zwei Rippenbrüche erlitten hat. Allerdings ist meine Diagnose unvollständig, da meine Untersuchung noch nicht abgeschlossen ist“, berichtete der Arzt ruhig. Mr. und Mrs. Thayor waren noch blasser geworden.
„Na was is´?”, fragte Harold Thayor gereizt. „Warum fahrt Ihr mit Eurer Arbeit nich´ fort? Nur weil Ihr Eure Nichte verloren habt, heißt das ja nich´, dass wir unseren Sohn auch verlieren müssen!“
Steward sah ihn für einen Moment aus kalten Augen an.
„Ihr könnt froh sein, dass ich einen Eid gegenüber meinen Patienten geschworen habe, denn sonst wäre ich versucht, Euch mitsamt Eurem Sohn auf die Straße zu schicken!“
Doch noch während er sprach, wandte er sich wieder Jack zu.
„Ich kann keinen Schädelbruch erkennen“, sagte Dr. Steward, nach einer gründlichen Untersuchung von Jacks Kopf.
„Ihr könnt Euren Sohn nach Hause bringen. Ich werde Euch einige Arzneien geben. Damit könnt Ihr seine Schmerzen lindern. Wenn er aufwacht, versucht mit ihm zu sprechen und gebt ihm zu trinken - vielleicht eine lauwarme Brühe. Ich werde morgen wieder nach ihm sehen. Sollte sich allerdings irgendetwas während der Nacht ereignen, lasst nach mir schicken.“
Mr. Thayor nickte nur kurz und ging zu seinem Sohn.
„Die Arzneien und die kommenden Hausbesuche eingeschlossen wären das ein Pfund und zehn Schillinge“, fuhr der Arzt tonlos fort.
„Ich weiß nicht, wie ich Euch danken kann, Sir. Ihr habt meinem Sohn das Leben gerettet. Ohne Euch wäre er jetzt tot“, bedankte sich Mrs. Thayor überschwänglich, während sie den Arzt bezahlte.
Steward nickte nur. Im Moment wünschte der sich nichts mehr, als endlich in Ruhe gelassen zu werden.
„Millecent, komm wir geh´n! Wir haben hier schon genug Zeit verbracht“, rief Harold Thayor, der mit seinem Sohn auf den Armen in Richtung Tür ging, forsch.
„Auf Wiedersehen Sir, und nochmals tausend Dank!“, verabschiedete sich Mrs. Thayor mit einem Knicks, ehe sie zur Tür eilte, um sie ihrem Mann aufzuhalten.
Als die Tür ins Schloss fiel, amtete Steward erleichtert auf.
‚Endlich!’
Er ließ sich auf dem gepolsterten Schreibtischstuhl nieder und rieb sich mit den Händen über das Gesicht. Seine Gedanken kreisten um Thayors Bemerkung. Gwyn… der Arzt seufzte schwer. Der Gedanke an seine Nichte trieb ihm Tränen in die Augen.
‚Warum? Warum meine Gwyn?’
Nach einem kurzen Moment, in dem sich Stille über die Praxis gelegt hatte, die nur von dem regelmäßigen Ticken der Standuhr durchbrochen wurde, erhob er sich ruckartig und ging zum Medizinschrank.
Neben dem Schmerz, dem unsagbaren Schmerz, der mit Thayors unbedachter Bemerkung wiederkam, kehrte auch sein Pflichtgefühl zurück - die Verantwortung, die Steward gegenüber seinen Patienten trug. Zudem kam ihm jede Ablenkung gelegen.
Der Arzt überflog die Etiketten der Fläschchen und Dosen, um sie -nach Wichtigkeit und Wirkung sortiert- in verschiedene Fächer des Schranks zu stellen.
Plötzlich rollte eine kleine, runde Flasche über den Rand des obersten Faches. Beinahe wäre sie auf den Boden gefallen, doch einem sicheren Reflex folgend fing sie der Arzt auf.
Interessiert betrachtete er das Fläschchen von allen Seiten. Der milchig trübe Inhalt leuchtete verheißungsvoll in dem rot-goldenen Licht, das die untergehende Sonne durch die großen Fenster der Praxis warf.
Dr. Steward war diese Flüssigkeit keineswegs unbekannt. Er konnte sich tatsächlich noch sehr gut daran erinnern. Allerdings hätte er es nicht für möglich gehalten, je wieder Verwendung dafür zu haben.
Dieses Fläschchen war vollkommen aus seinem Leben verschwunden - und nun hielt er es in seiner Hand, genau wie vor dreizehn Jahren, so als hätte die dazwischenliegende Zeit nie stattgefunden.
Damals -es war ein regnerischer Herbstnachmittag- kam ein Reisender aus der Türkei unangekündigt in seine Villa. In seinem Gepäck hatte er verschiedene Kräutermischungen, von denen Steward bis dahin nur gehört oder gelesen hatte.
Der Arzt hatte ihm all seine Arzneien abgekauft - zu einem sehr günstigen Preis. Unter ihnen war auch ein Fläschchen gleichen Inhalts gewesen.
Auf dem Etikett stand in sehr geschwungener, dünner Schrift ‚Papaver Somniferum’ - Schlafmohn!
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Andrew Wilde betrat voll gespannter Erwartung, wie er sie das letzte Mal bei seiner Beförderung zum Kapitän empfunden hatte, sein neues Amtszimmer in der Festung der Royal Navy.
Der gewaltige Schreibtisch zog Wildes Aufmerksamkeit sofort auf sich. Zweifelsohne war er das Schmuckstück des großen Raumes. Er war mit üppigen Schnitzereien verziert - stellenweise war sogar Blattgold eingearbeitet worden.
Neben dem Schreibtisch stand ein großer Globus in einem Messingständer, durch dessen Hilfe sich die Längen- und Breitengrade verschiedener Standorte ablesen ließen.
In der dahinter liegenden Wand waren mehrere große Fenster eingelassen, von denen - so nahm Wilde es jedenfalls an - man einen herrlichen Ausblick auf das Meer haben musste. An den übrigen Wänden standen hohe Regale und Wandschränke. Die meisten trugen Bücher. Aber auf einigen Regalen standen Modellschiffe und Navigationsinstrumente.
Der Raum besaß einen rechteckigen Grundriss. Er war daher nach rechts erheblich länger und bot so Platz für einen kleinen gläsernen Tisch und vier bequeme Sessel auf einem breiten Teppich. Ein weiterer kleiner Holztisch, auf dem mehrere Gläser und zwei volle Karaffen angerichtet waren - eine mit Rotwein die andere mit Brandy gefüllt –, stand an der Wand hinter der Sitzgarnitur. Wilde lächelte stolz.
‚Dieses Amtszimmer ist einfach herrlich.'
Zufrieden ließ er sich auf den gepolsterten Schreibtischstuhl nieder.
Vor ihm lag ein versiegelter Umschlag, der die Aufschrift ‚Kapitän Andrew D. Wilde’ trug. Der Empfänger öffnete den Brief:
Donnerstag, den 25. Mai im Jahre des Herrn 1713
Sehr geehrter Kapitän A.D. Wilde,
Wir freuen uns, Euch in der Königlichen Kolonie Jamaika begrüßen zu dürfen.
Wir möchten Euch mitteilen, dass wir in der glücklichen Lage sind, einen kleinen Verbund von drei Schiffen in Eure Obhut geben zu können. Der Name des Flagschiffes lautet ‚Princeps’.
In Erwartung auf kommende Erfolge wünschen wir Euch Glück und Gottes Segen mit diesem Schiff.
Hochachtungsvoll
George Cartwell, Commodore der Royal Navy Ihrer Majestät Königin Anne
Mit einem stolzen Lächeln faltete Wilde den Brief wieder und schenkte sich ein Glas Brandy ein.
„Zum Wohl“, murmelte er und erhob das Glas zu seinem Trinkspruch.
Dann trat der Kapitän an eines der Fenster.
'Der Ausblick ist atemberaubend!'
Die Nachmittagssonne färbte das sich bis weit über den Horizont erstreckende Meer golden. In der Ferne erkannte Wilde einige kleine Inseln. Möwen flogen dicht über der Meeresoberfläche. Immer wieder stürzten die Vögel kreischend hinunter, um ihre Beute zu fangen. Schiffe hielten Kurs auf die Bucht der Stadt. Je weiter sie entfernt waren, desto mehr ähnelten sie Modellbauten. Es klopfte.
„Herein“, rief Wilde in seinem üblichen Befehlston und wandte sich mit einem leichten Widerwillen vom Fenster ab.
Ein Leutnant öffnete die Tür. Lord Hamilton rauschte an ihm vorbei, dicht gefolgt von einem älteren, uniformierten Mann, dessen Gesicht einer steinernen Maske glich. Als letztes trat auch der Leutnant ein und schloss die Tür.
„Recht schönen Tag wünsche ich“, begrüßte der Gouverneur Wilde gut gelaunt.
Der junge Mann nickte. “Was verschafft mir die Ehre Eures Besuches, Lord Hamilton?“ Noch bevor der Gouverneur antworten konnte, ergriff der ältere Herr das Wort.
„Lord Hamilton hat bezüglich Eures Pflichtgefühls nicht gelogen. Ich bin Commodore George Cartwell. Habt Ihr meinen Brief erhalten?“
„Ich las ihn soeben, Sir. Ich möchte mich für Eure Freundlichkeit und das Vertrauen, welches Ihr in mich setzt, bedanken und hoffe, meine künftige Order zu Eurer Zufriedenheit auszuführen.“ Wilde verbeugte sich in einer flüchtigen Bewegung.
„Gewiss! Etwas anderes lässt sich von Admiral Wildes Sohn nicht erwarten!“
Cartwells Maske ließ keine Emotion passieren, doch seine kalten Augen schienen den jungen Mann zu durchbohren. Dem Kapitän war dieser Blick nicht unbekannt. Es war der Blick jener Männer, die sich um ihren Lohn betrogen sahen. Der Blick derer, die sich all das, was Wilde zuzufliegen schien, über Jahre hinweg hart erarbeiten mussten. Für einen kurzen Augenblick erwiderte der Kapitän den harten Blick des Commodore, bevor er zu dem kleinen Tisch mit den Karaffen ging.
Andrew Wilde hatte das unbestimmte Gefühl, sich vor diesem Commodore Cartwell in Acht nehmen zu müssen. In seinen blassen Augen spiegelte sich eine deutliche Abscheu und erweckte den Eindruck eines Mannes, der nur auf den geeigneten Augenblick wartete, um seinen Kontrahenten zu erledigen. Da Wilde dieses Gefühl aber nicht weiter erklären konnte, entschied er sich, Cartwell mit seiner distanzierten Höflichkeit zu begegnen.
Wilde reichte Lord Hamilton, der in einem der Sessel Platz genommen hatte, und Cartwell ein Glas Brandy und schenkte sich selbst ein weiteres ein, bevor auch er sich setzte.
„Sir, gehe ich recht in der Annahme, dass Euer Besuch nicht nur eine formelle Begrüßung ist?“, fragte er an den Gouverneur gewandt.
„Ganz recht, Kapitän! Wir sind hier, um Euch Euren ersten Auftrag zu erteilen.“
„Wie Euch zweifelsohne bekannt sein wird, nahm die Zahl der agierenden Piraten in diesen Gewässern binnen weniger Jahre signifikant zu. Die Royal Navy der Kolonie Ihrer Majestät überträgt Euch nun die Aufgabe, innerhalb der nächsten Dekade die Piraterie in diesen Gewässern auf mindestens ein Viertel zu reduzieren. Alles andere wäre eine schamvolle Niederlage der Royal Navy." Cartwell verstummte. Für einen flüchtigen Augenblick glaubte Wilde ein süffisantes Lächeln über seine dünnen Lippen huschen zu sehen.
'Das kann nur ein Scherz sein! Es ist unmöglich, die Piraterie so weit einzudämmen! Absolut unmöglich!'
Es bedurfte Wildes ganzer Selbstbeherrschung, seine Überraschung zu verbergen. So als hätte der Commodore die Gedanken des jungen Mannes gelesen, fuhr er fort, wobei Hohn und Verachtung in seiner Stimme nicht zu überhören waren.
"Seht es als eine Art Herausforderung. Solltet Ihr es schaffen, werdet Ihr der Pompeius der modernen Welt! Und sicher liegt es auch in Eurem Interesse, dem Namen, der Euch vorauseilt, gerecht zu werden.“
Bei seinen Worten leerte Wilde sein Glas, das er bisher nur in einer abgehakten Bewegung geschwenkt hatte, in einem Zug.
'Widerwärtiger Drecksack!'
„Die ‚Princeps’ ist das beste Schiff für ein solches Unterfangen und selbstverständlich werdet Ihr auch noch über zwei weitere Schiffe, die 'Pride' und die 'Emperor', verfügen“, erklärte Lord Hamilton. Ihm schien Cartwells Verachtung offensichtlich entgangen zu sein.
„William Hard, Leutnant der 'Princeps', wird Euch Eure Fregatte zeigen und Euch mit den Offizieren bekannt machen, die unter Eurem Kommando segeln werden.” Wilde sah zu dem Leutnant, der vorgetreten war und sich tief vor dem Kapitän verbeugte.
„Stehe zu Euren Diensten, Sir!“
„Wann beginnt der Auftrag?“, fragte Wilde und ging nicht weiter auf den Leutnant ein.
„Er begann mit diesem Gespräch, Kapitän Wilde."
Der junge Mann nickte nur und erhob sich, um sich flüchtig vor Hamilton zu verbeugen, bevor der Commodore und der Gouverneur das Amtszimmer verließen.
Wilde seufzte innerlich vor Erleichterung auf und schenkte sich ein neues Glas Brandy ein. Noch immer stand Hard an der Tür.
„Darf ich Euch ein Glas Brandy anbieten, Leutnant Hard?“, fragte der junge Mann, wobei er bereits die goldfarbene Flüssigkeit in ein zweites Glas goss.
Hard wirkte überrascht, nickte aber.
“Sehr gerne, Sir!“ Er nahm das Glas von Wilde entgegen.
Der Kapitän setzte sich wieder und wies mit einer knappen Handbewegung zu einem zweiten Sessel. "Nehmt Platz, Leutnant!“ Hard gehorchte.
Wilde senkte seinen Blick, wobei die Belustigung ob des Verhaltens des Mannes seine Mundwinkel kurz zucken ließ.
‚Dieser Leutnant hat verblüffende Ähnlichkeiten mit einer Marionette.’
Nach einer kurzen Weile, in der sich Schweigen über das große Amtszimmer gelegt hatte, ergriff der junge Mann schließlich wieder das Wort.
"Wäre es wohl möglich, noch heute die 'Princeps' zu besichtigen und die übrigen Offiziere kennenzulernen, damit wir am Ende dieser Woche auslaufen können."
"Selbstverständlich, Sir!" William Hard leerte sein Glas, an dem er bisher beinahe zögerlich genippt hatte, und erhob sich, wobei er Wilde einen fast unsicheren Blick zuwarf.
Nachdem der junge Kapitän sein Glas auf die verglaste Tischplatte gestellt hatte, verließen die beiden Herren das Amtszimmer.
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Dr. Steward saß in der Bibliothek seiner neuen Villa. Ein Feuer prasselte im Kamin.
Neben ihm stand ein Glas Brandy auf einem kleinen Tisch.
Nur das Knacken des Feuerholzes durchbrach die Stille, die sich wie ein Vorhang über das Haus gelegt hatte.
Der Arzt saß in einem bequemen Sessel; die Wärme des Feuers umhüllte ihn und doch befiel ihn ein sonderbares Unbehagen. Die Stille schien ihn langsam zu erdrücken.
Dr. Steward fürchtete die Einsamkeit mehr als alles andere. Sie war die unabwendbarste Bestätigung dafür, dass ihm alle Menschen genommen worden waren, die er liebte...
Der Blick des Mannes war auf das rotglühende Holz hinter dem eisernen Gitter gerichtet, als die Stille plötzlich durchbrochen wurde.
Steward sah zur Tür in der Erwartung seine Nichte in den Raum stürmen zu sehen. In Erwartung, dass ihr fröhliches Lachen den ganzen Raum erfüllte. Dass sie auf seinen Schoß klettern würde und ihn darum bat, ihr etwas zu erzählen oder vorzulesen.
„Verzeiht Sir, ich wollte mich nur vergewissern, ob Ihr einen Wunsch habt.“ Das jamaikanische Hausmädchen- sie hieß Cara- stand im Schatten neben der Tür.
„Nein! Nein ich brauche nichts!“, sagte der Arzt matt. Seine Stimme klang erstickt und er wandte sich von der Jamaikanerin ab. Cara verbeugte sich tief. „Eine angenehme Nacht wünsche ich“, sagte sie und verließ leise das Zimmer.
Dr. Steward hatte seinen Blick wieder starr auf das Feuer gerichtet. Er seufzte und kämpfte vergeblich gegen die Tränen, die ihm in die Augen getreten waren.
Als er seinen Kopf gegen die hohe Lehne des Sessels lehnte und die Augen für einen Moment schloss, drängte sich ihm mit einem Mal der unförmige Gegenstand in der Tasche seines Justaucorps auf. Langsam griff er in die Rocktasche. Seine Finger umschlossen das kleine Fläschchen und zogen es heraus. Der Arzt strich mit dem Daumen vorsichtig über das Etikett. Er wollte dieser Einsamkeit entfliehen und in seiner Hand hielt er den Schlüssel dazu.
Er wusste, es wäre keine dauerhafte Flucht, doch ihm genügten auch schon einige Stunden. Aber sollte er den Schlafmohn wirklich nehmen? Hatte er nicht damals, kurz nachdem Gwyn zu ihm gekommen war, diesem Mittel abgeschworen?
'Es hat mir stets die schönsten Träume bereitet.'
Es war ein traumhaft schöner Zufluchtsort gewesen, so schön, dass er ihn jeden Tag besuchte, ja schließlich besuchen musste. Doch als Gwyn zu ihm kam, ihm zeigte, dass das Leben weiterging, dass es im Leben auch wunderbare Orte gab, hatte er sich nicht auf ewig der teuflisch schönen Wirkung dieses Mittels entsagt?
Allerdings war Gwyn nicht mehr hier. Es gab niemanden mehr, der ihm noch wichtig war. Sie alle waren fort und der Arzt war vollkommen allein.
Die Flüssigkeit leuchtete verführerisch im Schein des Feuers. Was sprach dagegen den Mohn einzunehmen, nur um ein paar Stunden vergessen zu können?
Entschlossen griff er nach dem Glas Brandy. Mit ruhiger Hand träufelte er ein paar Tropfen des milchigen Saftes in sein Glas.
Die trübe Flüssigkeit barst bei jedem Tropfen, der mit dem goldbraunen Brandy in Berührung kam, auseinander, wirbelte auf der ruhigen Oberfläche des Alkohols herum und verschwand schließlich, um dem nächsten Platz zu machen.
Dr. Steward verkorkte die Flasche wieder und schwenkte das Brandyglas in seiner Hand, wobei dessen Inhalt gegen die dünne Glaswand schlug. Dann leerte er es in zwei Zügen.
Obgleich der Geschmack des Brandys deutlich überwog, lag Steward der vertraute bittere Nachgeschmack auf der Zunge.
Er starrte wieder in das prasselnde Feuer, während er auf die wohlbekannte Wirkung des Schlafmohns wartete.
Die Feuerzungen umhüllten ihn wie eine warme Decke. Plötzlich verwandelten sie sich zu langen Fingern, die ihn heranwinkten und schließlich nach ihm griffen. Sie trugen ihn in das Feuer.
Im nächsten Moment stand er auf einer durch und durch goldenen Brücke. Die Geländer waren mit funkelnden Diamanten versehen. Steward sah über das Geländer. Ein Fluss durchzog die goldene Landschaft. An seinen Ufern standen unzählig viele Linden, deren Blätter durch die Luft wirbelten.
Steward lief über die Brücke. Vor seinen Augen erhob sich eine Stadt aus dem Erdboden, wie Knospen, die sich aus unendlichen Stängeln entfalteten, ganz in Gold und Weiß.
Auch an diesem Ort herrschte Stille; aber sie war nicht bedrückend, sondern strahlte Harmonie und Frieden aus.
Auf einmal wurde die Stille dieses friedlichen Ortes durch eine helle Kinderstimme unterbrochen. Gwyn rannte ihm, in einem ganz und gar weißen Kleid, entgegen und fiel ihm in die Arme. Sie lachte, wobei sie sich ihre Haare aus dem Gesicht strich, und ihre grünen Augen leuchteten.
„Komm, Onkel“, rief sie und ergriff seine Hand. „Komm mit, ich möchte dir etwas zeigen!“ Gwyn führte Steward zu dem goldenen Fluss. Ein zarter Rosenduft strömte ihnen entgegen. Den Duft, den er so lange nur noch in seinen Träumen wahrgenommen hatte…
Gwyn blieb stehen. Am Flussufer saß eine Frau. Auch sie trug ein weißes Kleid. Sie war von Steward abgewandt, ihre dunklen Haare fielen in weichen Wellen über ihre Schultern; dennoch erkannte Steward sie sofort.
„Jane!“
Die Frau drehte sich um und lächelte. Als sie sich langsam erhob, fiel ein Regen aus goldenen Lindenblättern auf sie herab. Wo sie auf den Boden trafen, zerstoben sie und stiegen als Noten wieder in die Luft. Eine leise Melodie, gespielt von Violinen, ertönte.
„James!“ Die Frau schloss ihren Ehemann in die Arme.
Mit einem Mal wuchs die leise Melodie heran, erst langsam und dann immer schneller. Bis der Boden von dem ohrenbetäubenden Lärm zu erzittern schien. Dr. Steward sah sich um. Die Landschaft verlor ihre klaren Konturen. Die Brücke wurde immer undeutlicher bis sie schließlich vollständig verschwunden war. Auch die wunderbare Stadt war nicht mehr zu sehen. Steward wandte sich zu seiner Frau und Gwyn um, doch auch sie waren fort. Plötzlich riss der Boden vor seinen Füßen auf. Der Arzt verlor das Gleichgewicht und stürzte in unendliche Schwärze.
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Laut kündigten die Kirchenglocken einen neuen Tag an. Dr. Steward riss erschrocken die Augen auf. Er saß wieder in seinem Sessel.