Читать книгу Unter Piraten - Miriam Lanz - Страница 12
Оглавление02. Juni im Jahre des Herrn 1713:
Gwyn rollte sich müde aus der Hängematte, die man ihr inzwischen zugestanden hatte, und zog ihre Schuhe zu sich heran.
Seit sie auf der 'Adventure' war, fand sie kaum noch Schlaf. Neben der ständigen Angst, entdeckt zu werden, die sie nicht mehr zur Ruhe kommen ließ, waren die Nachtstunden die einzige Zeit des Tages, in der Gwyn nicht vor ihren Gedanken fliehen konnte. Jede Nacht lag sie in dem großen Leinenstoff und rekonstruierte das letzte Gespräch mit ihrem Onkel.
'Was für eine grausame Ironie. Wie konnte ich die Piraterie nur spannend finden?'
Doch es war nicht der Inhalt dieses Gesprächs, sondern vielmehr die letzten Worte, die ihr Onkel an sie gerichtet hatte, die sie nicht schlafen ließen.
‚Gute Nacht, mein Schatz’ - Gwyn konnte nicht sagen, wie sehr sie ihren Onkel vermisste...
Ben kroch auf allen Vieren zu ihr; seine Strümpfe und Schuhe schob er vor sich her.
„Morgen“, meinte Gwyn, noch verschlafen.
„Wünsch ich auch.“ Ben ließ sich neben ihr nieder und zog sich die Strümpfe über die Füße. „Gut geschlafen?“, fragte er nach einer Weile. Gwyn warf ihm einen vielsagenden Blick zu.
„Nicht wirklich.“ Sie erhob sich mühevoll und streckte sich. Ein brennender Schmerz flutete durch ihren Körper.
Ben sah sie besorgt an.
„Grad´ wollt´ ich fragen, wie´ s dir geht mit deinem Rücken, aber ich glaub´ ich lass´ es lieber.“ Gwyn nickte und hielt ihm die Hand entgegen.
„Gute Entscheidung!“, meinte sie, wobei sie Ben auf die Beine zog.
Als das Mädchen wenige Minuten später in die Kombüse kam, wurde sie bereits von Nick Jordan, einem widerlichen Kerl, der in vielerlei Hinsicht Howard sehr ähnlich war, mit einem grimmigen Gesichtsausdruck erwartet.
„Du faules Schwein!", rief er und schlug dem Mädchen ins Gesicht.
Gwyn schloss die Augen und biss auf die Zunge, um nichts zu erwidern, bevor sie begann, die Kartoffeln, die auf dem wackligen Tisch mit der zerschlissenen Tischplatte lagen, zu schälen. Ihre Begegnung mit der neunschwänzigen Katze hatte sie gelehrt, dass es klüger war, den Piraten nicht zu widersprechen.
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„Käpt´n! Schiff hart auf achtern!“ Der plötzliche Aufschrei des Mastgasts ließ das Mädchen von ihrer Arbeit aufsehen.
„Welche Flagge?“
„Englisch, Sir! Ein englisches Handelsschiff!“
Ein ungutes Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus. Jordan war zur Kombüsentür geschlürft und spähte an Deck.
„Klar machen zum Entern!“, hörte sie den Piratenkapitän rufen und spürte, wie ihr die Farbe aus dem Gesicht wich. Jordan wandte sich ruckartig um; für einen flüchtigen Augenblick schien sich Furcht in seinen kleinen Augen zu spiegeln. Als sein Blick auf das Mädchen fiel, verzerrte sich sein Gesicht, sodass es einer fratzenhaften Maske glich.
„Has´ du den Käpt´n nich´ gehört? An Deck!“ Der Koch packte Gwyn gewaltvoll an den Schultern und stieß sie aus der Kombüse. Die meisten Piraten standen mit Macheten, Entermessern oder Pistolen bewaffnet an der Steuerbordseite der ‚Adventure’. Gwyn sah sich hektisch nach Ben um. Der blonde Junge stand zwischen den Kanonen, die Angst in seinem Gesicht war nicht zu übersehen.
'Oh, großer Gott!'
Das Mädchen wandte sich ab. Weit vor der 'Adventure' erkannte sie die weißen Segel des englischen Handelsschiffs.
Von einem seltsamen Gefühl geleitet, das Gwyn nicht erklären konnte, stieg sie langsam und mit schlaksigen Schritten hinauf zum Bug des Schoners. Das Mädchen beobachtete mit wachsender Aufregung, wie sich der Abstand zwischen der Handelsfregatte und dem Piratenschiff verringerte. Als die 'Adventure' dem Handelsschiff so nahe gekommen war, dass das Mädchen den Namen des Schiffes lesen - sie hieß 'Treaty' - und sie die einzelnen Besatzungsmitglieder erkennen konnte, die hektisch an Deck herum rannten, wurde Gwyn von dem alles verdrängendem Gefühl zu fliehen ergriffen.
„Feuer!“
Gwyn wirbelte schockiert herum; Blackbeards laute Stimme war unmittelbar hinter ihr. Der gefürchtete Pirat hatte eine alte Machete in die Luft gehoben, seine stechenden Augen waren auf die 'Treaty' gerichtet. Gwyn schien er nicht bemerkt zu haben.
Nur wenige Augenblicke nach seinem Befehl legte sich der undurchdringbare Qualm der Kanonen über das Deck des Schoners. Das Schiff erzitterte unter der Wucht des Schusses und beißender Schwefelgeruch durchdrang die 'Adventure'. Als die Kanonenkugel unweit der 'Treaty' ins Wasser schlug, zuckte Gwyn zusammen und stolperte gegen die Reling.
Die Fregatte erwiderte das Feuer mit nur wenigen Schüssen. Dennoch hatte der Qualm der Kanonen binnen kurzer Zeit beide Schiffe erfüllt. Der beißende Schwefel brannte Gwyn in den Augen; sie hustete.
Die dichten Kanonenrauchschwaden verhüllten die 'Treaty', so als versuche er das Unglücksschiff zu schützen.
Das Mädchen wollte fort, runter von diesem Schiff, nach Hause. Sie wollte wieder zu ihrem Onkel. Doch ihre Beine versagten ihr den Dienst. Sie kauerte an der Reling, die Augen fest zusammen gekniffen; die Arme schützend über ihrem Kopf.
Erst eine Kanonenkugel, die pfeifend nur einige Fuß über ihren Kopf sauste und knapp hinter dem Rumpf des Schiffes ins Wasser klatschte, riss sie aus ihrer Starre. Gwyn erhob sich mühevoll und rannte los, erst stolpernd, dann immer schneller.
‚Unter Deck!’
Der schwere Qualm verschluckte beinahe alles um sie herum. Ohne einen Blick auf die übrigen Piraten zu werfen, stolperte sie unter Deck und kauerte sich zitternd auf den oberen Stufen, die hinaus führten, zusammen.
Offenbar hatten die Piraten die 'Treaty' bereits geentert. Nur noch wenige Männer waren an Deck der 'Adventure'. Gwyn senkte den Kopf auf die Stufen und schloss die Augen. Dieselben markerschütternd gellenden Schreie der Unglücklichen, deren Leben ausgelöscht wurden, und das triumphierende Gebrüll der Piraten, wenn ihre Säbel und Pistolen ein weiteres Leben brutal beendeten, drangen zu ihr. Nach einigen Minuten hob das Mädchen wieder den Kopf. Als sie sich an die beinahe verschwommenen Konturen an Deck gewöhnt hatte, glaubte sie ihren Augen nicht zu trauen.
‚Die Piraten sind in der Unterzahl!’
Gwyn erkannte, dass sie von den Seeleuten der ‚Treaty’ zurückgetrieben wurden. Mit jeder Sekunde schienen die Matrosen mit ihren roten Kappen die Piraten ein Stück weiter von ihrem Schiff zu drängen. Ein Mann, der an vorderster Stelle kämpfte und die Matrosen mit patriotischen Parolen, wie ‚Für das Empire und unsere Königin!’, ermutigte, erlangte Gwyns Aufmerksamkeit. Er trug einen einfachen braunen Anzug und eine dunkle Perücke. Für einen flüchtigen Moment glaubte Gwyn, es handelte sich um Kapitän Bradley.
Plötzlich erhob sich Blackbeards laute, tiefe Stimme aus dem allgemeinen Lärm. Zwar konnte Gwyn nicht genau verstehen, was er sagte, doch er stand an der Spitze der Piraten und führte sie zu einem erneuten Angriff auf die Seeleute der ‚Treaty’.
Doch die Besatzung der Handelfregatte war unerwartet stark. Auch Blackbeard schien sie unterschätzt zu haben. Die Besatzung preschte unermüdlich vor. In vorderster Reihe der Kapitän. Von einem seltsamen Gefühl geleitet, dass die Angst und die Anspannung langsam verdrängte, bis es sie vollständig erfüllt hatte, konzentrierte sich das Mädchen auf ihn. Seine Gesten, seine Mimik, all das war Gwyn auf merkwürdige Weise vertraut. Doch sie konnte sie nicht zuordnen. Das alles war so fern. Schon so lange vergessen…
„Vic? Is´ alles in Ordnung?“ Ben huschte die Stufen hinunter und setzte sich neben sie, wobei sich Erleichterung über seine Gesichtszüge ausbreitete.
„Ja,… ja mir geht es gut, aber Blackbeard scheint Schwierigkeiten zu haben.“ Sie nickte in Richtung der Kampfhandlung und legte dann den Kopf auf ihre Hände. Sie wollte das Gefecht nicht weiter verfolgen. Zwar lagen an Deck der 'Adventure' keine Leichen - zumindest sah Gwyn keine -, doch das Mädchen war sich sicher, dass sie die furchtbaren Schreie und das Klirren der Macheten bis an ihr Lebensende verfolgen würden.
Die Piraten wurden immer weiter zurückgedrängt. Als die ersten Enterhaken auf das Piratenschiff flogen, zogen Ben und Gwyn die Köpfe ein.
'Ich will nicht wegen Piraterie hängen!'
„Gentlemen, übernehmt das Schiff!“, hörte Gwyn den Kapitän sagen, als er auf dem Deck der ‚Adventure’ Fuß gefasst hatte. Eine neue Woge unbeschreiblicher Angst ließ sie erzittern.
„Nich´ so schnell, Sir!“ Als das Mädchen Blackbeards triumphierende Stimme hörte, spähte sie überrascht an Deck.
Der Kapitän der ‚Treaty’ musterte ihn skeptisch. Blackbeard machte eine unwirsche Handbewegung, wobei ein bösartiges Lächeln auf seinen Lippen lag. Die Piraten schnitten den Seemännern, die das Deck des Piratenschiffes stürmen wollten den Weg mit Pistolen und auf sie gerichteten Macheten und Entermessern ab.
‚Großer Gott! Wie unglaublich barbarisch!’
Schaudernd schloss Gwyn die Augen und rutschte eine Stufe hinunter. Sie wollte dieses furchtbare Szenario nicht sehen.
Die Seeleute jagten in die Messer, die die Piraten auf sie gerichtet hatten. Obgleich Gwyn sich die Hände auf ihre Ohren drückte, drangen die Schreie zu ihr.
Erst als sie von Ben angetippt wurde, hob sie langsam den Kopf, um den Kapitän zu sehen, dem alle Farbe aus dem Gesicht gewichen war.
„Schiff entern!“, befahl der Piratenkapitän ein weiteres Mal, wobei der Kapitän resigniert die Augen schloss.
Mit siegessicherem Gebrüll stürmten die Piraten an Deck der ‚Treaty’.
„Armer Kerl“, flüsterte Ben. Gwyn nickte mitfühlend. Sie bemerkte, dass sie den Tränen nahe war.
'Wie können sie nur so grausam sein?'
Einige Minuten verstrichen, in denen nur das Gebrüll der Piraten zu hören war, die auf der ‚Treaty’ wüteten. Der Kapitän des Unglücksschiffs stand vollkommen regungslos an Deck. Plötzlich brüllte ein Pirat, der unter Deck gegangen war: „Seht, Käpt´n, was ich gefunden hab´.“ Er zerrte eine Frau hinter sich her.
„Audrey!“, jappste der Kapitän und trat einen Schritt vor.
„Michael, hilf mir!“, flehte die Frau.
„Ein hübsches Frauchen hast du da, Mister!“ höhnte der Pirat.
„Lass sie gehen. Rühr sie nicht an, du Bestie!“ Der Kapitän war außer sich.
Einige Augenblicke später stand die Frau neben dem Kapitän und klammerte sich an den Arm ihres Mannes. Sie hatte Tränen in den Augen und zitterte, während ihr Mann versuchte, sie mit leisen Worten zu beruhigen.
„Wirklich ein schönes Paar, findest du nich´, Howard?“, spottete der Piratenkapitän, „Besonders mit dem Weib könnte man noch etwas anfangen“. Einige Piraten lachten bei Blackbeards Bemerkung auf.
„Rühr´ sie nicht an, Bastard!“, schrie der Kapitän und stellte sich schützend vor seine Frau „Hab keine Angst, Audrey. Ich werde nicht zu lassen, dass sie dir etwas tun, und wenn ich dafür sterbe!“
„Wenn das so ist, ...“
Der Kapitän riss die Augen auf und seine Ehefrau wimmerte.
Zwei Piraten traten hinter das verzweifelte Paar. Der Kapitän schlang seine Arme um seine Frau und zog sie eng an sich.
„Ich liebe dich!“, wisperte er. Dann trennten ihnen die Piraten ihre Kehlen durch und ihre leblosen, immer noch eng umschlungenen Körper sackten dumpf auf den Boden.
Gwyns Kopf ruhte wieder auf ihren Armen. Das unglückliche Paar hatte etwas in ihr wachgerufen, das sie lange vergessen geglaubt hatte. Doch sie konnte diese merkwürdige Empfindung nicht deuten.
Das Mädchen war so in Gedanken versunken, dass sie nicht bemerkte, wie Blackbeard die Besatzung für den Rest des Tages von ihrem Dienst befreite, oder wie das tote Paar ins Meer geschmissen wurde, wie Küchenreste.
Immer wieder rekonstruierte sie den Tod des Paares bis es ihr schließlich dämmerte: Ihre Eltern waren auf genau die gleiche Art zu Grunde gegangen, nach allem, was sie gehört hatte.
Ihr Vater, Charles Steward, war Kapitän der Royal Navy gewesen. Bei der Überfahrt von Bristol nach Kingston hatte er Gwyns Mutter Josefine mitgenommen. Keiner der beiden kehrte je von dieser Überfahrt zurück.
Damals hatte Gwyn in Dartford, in der Nähe von London in einem schönen, großen Landhaus gelebt. Es war ein Nachmittag im Juni gewesen. Sie hatte im Garten gespielt, als sie eine Kutsche vorfahren sah. In Erwartung ihre Eltern nach Monaten endlich wiederzusehen, sprang sie von ihrer Schaukel und lief zur Auffahrt. Ein älterer, uniformierter Mann stieg aus der Kutsche. Er sah freundlich aus.
„Gute Tag, junge Dame?“, begrüßte er Gwyn.
„Guten Tag, Sir!“, sagte Gwyn verlegen und strahlte den Fremden an. Die vergangenen Monate waren so eintönig verlaufen, dass sie alles, was von ihrem Tagesablauf abwich, freudig aufnahm.
„Sag mal, ist das hier, das Anwesen von Charles Steward?“, fragte der Mann.
„Ja, das ist mein Daddy!“, erklärte Gwyn stolz, wobei sie zu dem großen Mann hinauf sah. „Er ist Kapitän, weißt du. Aber er ist nicht da. Daddy ist mit Mami nach …nach…Kington gefahren, glaube ich. Aber Daddy und Mami kommen bald wieder zurück. Das hat mir Nancy gesagt.“
Der Mann sah sie mitfühlend an.
„Wie heißt du denn?“, fragte er schließlich, wobei er sich zu ihr hinunterbeugte.
„Gwyn!“
„Gwyneth, wo bist du?“ Eine rundliche Frau kam aus dem Haus. Als sie den Mann sah, verbeugte sie sich tief.
„Ich bin Commodore Edward Stevens!“, stellte sich der Besucher vor, während er noch immer neben Gwyn kniete.
„Seid Ihr der Vormund dieser jungen Dame?“ Er deutete zu Gwyn.
„Oh nein, Sir. Ich bin nur die Gouvernante. Der Vormund von Miss Steward ist, nach ihren Eltern, der Bruder des Hausherrn, Dr. James Steward. Er ist in Bristol ansässig. Aber, Sir, verzeiht meine Frage, was ist passiert, dass Ihr uns besucht und nach dem Vormund von Miss Steward fragt?“ Nancy klang sehr beunruhigt.
Gwyn sah verständnislos von ihr zu Stevens, der sich wieder aufgerichtet hatte, und wieder zurück.
"Nancy, was ist ein Vormund? Ich kann doch alleine essen!", fragte sie schließlich. Ein kurzes Lächeln huschte über die Lippen ihrer Gouvernante.
"Das erkläre ich dir später, Liebes. Geh´ jetzt in den Garten spielen. Ich werde mich kurz mit Commodore Stevens unterhalten.“ Gwyn sah sie beleidigt an.
„Das ist aber so langweilig“, entgegnete sie, “Mr. Stevens? Sag mir doch bitte, wann kommen Mami und Daddy wieder heim?“ Der Angesprochene beugte sich erneut zu der Dreijährigen hinunter und streichelte ihr über die Haare.
„Ich werde mich jetzt ganz kurz mit deiner Gouvernante unterhalten und dann komme ich zu dir, einverstanden?“ Gwyn nickte übermütig und rannte zurück in den Garten.
Die Vorfreude endlich wieder mit jemandem anderen zu spielen als mit Nancy, versüßte Gwyn das lange Warten. Die Neugier brannte in ihr. Wie gerne sie doch wüsste, was der Mann mit Nancy zu besprechen hatte. Aber lauschen war ungezogen, hatte ihr ihre Mami einmal erklärt.
„Pflückst du Blumen?“ Stevens stand hinter ihr. Gwyn strahlte ihn an.
„Die hab ich für dich gepflückt“, erklärte sie und streckte dem Commodore die Blumen entgegen. „Oh, vielen Dank, Gwyneth“
„Bitte nenn mich Gwyn! Ich mag Gwyneth nicht so gerne“, erklärte das kleine Mädchen. Sie bemühte sich so ordentlich wie möglich zu sprechen.
„In Ordnung“, Stevens lächelte. „Was hältst du davon, mit mir eine kleine Reise zu machen? Nancy fährt natürlich auch mit!“, fragte er plötzlich.
„Aber Mami und Daddy kommen bald wieder und dann sind sie da und ich bin weg.“
Wieder hatte der Mann diesen mitfühlenden Gesichtsausdruck.
“Deine Mami und dein Daddy werden noch lange, lange weg sein, glaube mir, mein Kind!“
Gwyn sah ihn ungläubig an. “Aber Nancy hat gesagt, dass sie bald wieder heim kommen. Und Daddy hat mir versprochen, dass er mir eine Überraschung mitbringt.“
„Weißt du, Gwyn, dein Daddy und deine Mami sind aufgehalten worden. Du weißt doch, dass dein Daddy ein sehr, sehr mutiger Mann ist und deshalb hat er einen besonderen Auftrag bekommen. Du wirst deine Eltern sehr lange Zeit nicht mehr sehen.“ Gwyn sah ihn enttäuscht an.
„Dann hat Nancy ja gelogen! Und lügen tut man nicht, dass hat Mami mir gesagt.“
„Nancy hat nicht gelogen, sie wusste es nicht. Möchtest du jetzt mit mir kommen?“ Gwyn nickte. „Wohin fahren wir, Mr. Stevens?“
„Nach Bristol zu deinem Onkel! Warst du schon einmal in Bristol?“ Gwyn schüttelte den Kopf.
Vier Tage später kamen Gwyn, Commodore Stevens und Nancy in Bristol an. Obgleich sich die Dunkelheit der Nacht über die Hafenstadt gelegt hatte und man nur noch auf die Soldaten traf, die über die Straßen partroulierten, war das Mädchen noch immer hellwach.
Sie saß auf Nancys Schoß und blickte auf die dunklen Straßen.
Endlich hielt die Kutsche an. Ein riesiges, schwarzes Gebäude erhob sich gegen die Nacht.
Kein einziges Licht schien durch die Fenster. Stevens stieg aus. Gwyn sah, dass er anklopfte. Ein Hausmädchen öffnete die Tür und Stevens wechselte einige Worte mit ihr, ehe er zurückkam.
„Folgt mir!“, sagte er und half Nancy aus der Kutsche. Gwyn klammerte sich an Nancys Hand und betrat das gespenstisch stille Haus.
Der Commodore wurde von dem Hausmädchen eine große Treppe hinauf geführt.
„Nancy? Was machen wir hier? Ich will nach Hause!" Gwyn drängte sich ängstlich an ihre Gouvernante.
„Mach dir keine Sorgen, Liebes!“ Das Hausmädchen kam mit einer kleinen Lampe in der Hand zurück. Als sie Gwyn sah, lächelte sie.
„Hast du Hunger, Schatz?“ Gwyn nickte langsam, wobei sie näher an Nancy trat.
„Dann komm mit mir in die Küche. Da werden wir bestimmt noch etwas für dich finden!“
Gerade als Gwyn die Gemüsesuppe ausgelöffelt hatte, betrat Stevens die Küche. Das Hausmädchen und Nancy sprangen auf und verbeugten sich.
„Gwyn, ich möchte dir deinen Onkel vorstellen!“ Der Commodore nahm das Mädchen an die Hand und führte sie die große Treppe hinauf und den Gang entlang in die Bibliothek.
Der große Raum wurde von einem Kaminfeuer erhellt. Ein Mann saß in einem Sessel. Als Gwyn mit Stevens das Zimmer betrat, sah sie der Mann aus melancholischen Augen an und erhob sich langsam.
‚Der sieht aber traurig aus’
Der Commodore beugte sich zu dem Mädchen herunter.
„Das ist dein Onkel, Gwyn“, erklärte er. Gwyn musterte den Mann, der vor ihr stand, eindringlich; Stevens Hand ließ sie nicht los.
„Du wirst von jetzt an bei ihm leben“, fuhr der Commodore fort. Gwyn sah ihn ungläubig an.
“Warum? Ich lebe bei Mami und Daddy“, erklärte sie entschieden.
„Gwyneth, du wirst deine Eltern nicht wieder sehen! Sie werden nicht mehr zurückkommen. Sie sind an einen Ort, von dem es keine Wiederkehr gibt“, sagte ihr Onkel. Sein Gesicht war vollkommen emotionslos und seine Stimme klang kalt. Gwyn sah ihn verständnislos an. Nancy und das Hausmädchen waren in das Zimmer gekommen.
„Sir?“, fragte das Hausmädchen “Wenn Ihr es wünscht, werde ich ein Bett für das Kind und ihre Gouvernante fertig machen.“
„Ja, tue das“, sagte Gwyns Onkel und ging wieder zu seinem Sessel.
Gwyn wusste mit dieser Begebenheit nichts anzufangen. Wieso sollte sie bei diesem Mann leben? Wieso sollte sie Mami und Daddy nicht wieder sehen?
Mr. Stevens hatte ihr gesagt, dass ihre Eltern nur etwas später nach Hause kommen würden.
Das Mädchen war Nancy gefolgt. Sie kam in ein Zimmer, in dem außer einem Bett und einem Schrank nichts stand. Gelangweilt sah Gwyn den beiden Frauen zu, wie sie das Bett bezogen.
„Du kannst dich hier etwas umsehen, aber mach nichts kaputt, hörst du?“, sagte das Hausmädchen -sie hieß Mary- ohne von ihrer Arbeit aufzusehen.
Gwyn lief den langen, dunklen Flur entlang. Plötzlich hörte sie die gedämpfte Stimme des Commodores. Sie stand wieder vor der Bibliothek.
Eigentlich wollte sie nicht lauschen, aber als der Name ihres Vaters fiel, wurde sie von ihrer Neugier besiegt. Sie schlich ein paar Schritte näher.
„…. Charles Steward war ein sehr fähiger Kapitän, aber gegen diesen Piraten Quelch und seine Horde Wilder hatte er keine Chance. Was sicher auch eine Rolle spielte, war, dass seine Frau mit an Bord war. Ich bedauere, dass Hilfe zu spät kam. Zwar konnten noch einige Besatzungsmitglieder gerettet werden, aber die Piraten entkamen. Für Euren Bruder und seine Frau jedoch kam jegliche Hilfe zu spät. Sie wurden auf unmenschliche, grausame Art hingerichtet….“
„Sir, die ganze Situation ist schrecklich, da stimme ich Euch voll und ganz zu, aber dennoch bin ich der Meinung, dass ich nicht die geeignete Wahl zur Erziehung meines Bruders Tochter bin!“ Gwyn schauderte. Die Stimme ihres Onkels war so kalt....
„Sir, Ihr seid ihr Vormund. …“
„Gwyn? Was machst du denn da?“ Das Mädchen zuckte bei der Stimme ihrer Gouvernante und wirbelte herum, um sich Nancys tadelndem Blick gegenüber zu sehen.
Als das Mädchen in dem fremden Bett lag und an die Zimmerdecke starrte, dachte sie über das Gespräch nach.
'Für Mami und Daddy kam jede Hilfe zu spät? Sind sie verletzt?'
Gwyn liefen Tränen über ihr Gesicht. Sie wollte nach Hause. Zu Mami und Daddy. Sie mochte ihren Onkel nicht...
„Ach hier bis´ du! Hab dich schon überall gesucht. Is´ alles in Ordnung?“ Ben kam zu ihr und setzte sich neben sie an Deck. Inzwischen hatte die Dämmerung eingesetzt.
Gwyn sah aufs Meer hinaus; langsam verschwand die Sonne in den unendlichen Fluten.
'Piraten haben meine Eltern auf dem Gewissen!'
Zwar war ihr dies nicht unbekannt, aber noch nie war ihr das ganze Ausmaß dieser Tatsache so bewusst gewesen, wie in diesem Moment.
Dreckige, wertlose Piraten, die keinerlei Respekt oder Wertschätzung vor dem Leben anderer besaßen, hatten ihre Eltern geschlachtet!
Als sich diese Erkenntnis mit den Bilder der beiden Blutbäder, die sich auf Ewig in ihr Gedächtnis gebrannt hatten, vereinte, loderte glühender Hass in ihr auf, durchflutete jede Faser ihres Körpers und verlieh ihr schließlich wieder neue Kraft.
'Ich werde meine Eltern rächen! Bei Gott, ich werde jeden verdammten Piraten beseitigen, den ich in die Finger bekomme!'