Читать книгу Unter Piraten - Miriam Lanz - Страница 7
Оглавление13. Mai im Jahre des Herrn 1713:
Gwyn blinzelte verschlafen, bevor sie nur langsam die Augen öffnete. Sie wusste nicht, wie spät es war oder was sie geweckt hatte, aber ihr Versuch sofort wieder in die Welt ihrer Träume zu sinken blieb erfolglos.
Das Mädchen blieb dennoch regungslos im Bett liegen. Sie fühlte sich müde, beinahe erschöpft, doch ihre wachen Augen fixierten die kleine Laterne an der Decke. Die Kerze war halb hinunter gebrannt; die Wachstropfen waren getrocknet und verliehen der dünnen Kerze ein seltsam anmutendes Aussehen. Doch das war es nicht, was Gwyn mit jedem Augenblick wacher werden ließ. Die Laterne schaukelte heftig hin und her. Fast schein es, als könnte sie jeden Augenblick aus der Ankerung heraus reißen und scheppernd auf den Boden fallen.
'Die Laterne sollte nicht so schwanken. Was ist hier los?'
Die grünen Augen wanderten suchend durch das kleine Zimmer.
Plötzlich erzitterte das ganze Schiff. Gwyn prallte gegen die raue Holzwand.
Ihr Buch auf dem kleinen Tischchen neben dem Bett rutsche von der Platte, bevor der Tisch selbst krachend umkippte.
Gwyn zuckte zusammen.
'Großer Gott!'
Eine zweite Erschütterung jagte durch den Schiffsrumpf. Die Laterne schlug heftig gegen die Decke und zerbarst in unendlich viele Scherben. Gwyn krallte sich an den Laken fest, um nicht aus dem Bett geworfen zu werden.
Die Scherben regneten auf sie herab.
Mit aufgerissenen Augen und kaum zu atmen wagend, schlüpfte sie aus dem Bett. Als sie vorsichtig - beinahe benommen - nach ihren Stoffpantoffeln tatstete, bemerkte sie, dass ihre Hände zitterten. Sie schlüpfte in den üppig bestickten, schweren Morgenmantel und verließ eiligst ihre Kajüte.
Ihrem ersten Impuls folgend, riss sie die Tür neben ihrer Kajüte auf.
"Onkel,…" Gwyn hielt sich am Türrahmen fast, um unter einer weiteren Erschütterung nicht den Halt zu verlieren, als sie sich in dem Raum umsah. Auch hier war das Mobiliar umgekippt; Bücher und Scherben säumten den Boden.
'Wo bist du, Onkel?'
Das Mädchen hatte gerade die Tür hinter sich ins Schloss gezogen, als eine erneute Erschütterung sie gegen das dunkle Holz warf. Beide Arme gegen den Türrahmen gepresst, warf sie den Kopf panisch von einer Seite auf die andere. Stöhnend rutschten die Stühle durch die große Kabine; scheppernd prallte der große Eichentisch gegen die Außenwand.
Unter dem Türspalt der Heckkabine quoll Wasser hindurch. An den Milchgläsern der Tür und an den Fenstern rann Wasser hinab.
'Ein Sturm!'
Erst vor wenigen Tagen hatte sie ein Gespräch zwischen Kapitän Wilde und Offizier Alester mitverfolgt. Die beiden Männer hatten über das in diesen Breitengraden typische Wetter gesprochen und wie ungewöhnlich es wäre, dass ihre bisherige Fahrt so überaus ruhig verlaufen war, obgleich diese Jahreszeit bekannt für ihre vielen heftigen Wetter und Stürme war.
Eng an die Wand gedrückt tatstete sich Gwyn Schritt um Schritt zum Ausgang der Heckkabine vor. Je näher sie dem Deck kam, desto häufiger drangen vereinzelte Schreie der Männer durch das Tosen des Sturmes bis an ihre Ohren.
'Wo bist du, Onkel?'
Gwyn lehnte schwer an dem in die Wand eingelassenem Regal. Trotz der dünnen Messingstange, die vor den einzelnen Fächern angebracht war, damit die Bücher nicht hinausfielen, war es inzwischen leer.
Das Mädchen glaubte, durch die trüben Gläser die unscharfen Umrisse des Kapitäns zu erkennen. Er stand sicher am Steuerrad, überragte mit seiner Größe alle anderen Männer um ihn herum und tatsächlich war sich Gwyn sicher, den Klang seiner tiefen, lauten Stimme zu hören.
Plötzlich schwang die Tür zur Heckkabine auf.
Ihr Onkel stand im Türrahmen. Er war völlig durchnässt. Er trug keine Perücke; sein eigenes dunkelblondes Haar hing ihm ins Gesicht.
Für einen kurzen Augenblick sah er Gwyn direkt in die Augen. Sorge spiegelte sich deutlich darin.
Plötzlich erbebte das Schiff erneut. Gwyn bohrte ihre Nägel tief in das Holz, um nicht zu stürzen. Wasser schwappte durch die offne Tür, riss ihren Onkel mit sich.
Doch dem Mädchen blieb keine Zeit zu reagieren. Unter ohrenbetäubenden Lärm zersprang die hintere Glasfassade der Heckkabine. Meerwasser flutete den großen Raum. Es trug Stühle und den Tisch fort und zog Gwyn erbarmungslos mit sich.
Sie spürte das Holz unter ihren Händen nicht mehr. Für einen Moment war sie vollständig unter Wasser. Als sie wieder auftauchte, weiteten sich ihre Augen. Vor ihr rutschte der große Tisch über den Rand der Heckkabine ins Meer.
'Großer Gott!'
Doch noch bevor sie reagieren konnte, stürzte auch sie hinab und wurde erneut unter Wasser gezogen. Hustend tauchte sie wieder auf. Das Schiff trieb langsam davon.
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Gwyn lag auf der Tischplatte. Offenbar waren die Tischbeine abgerissen worden. Die schwere Platte ragte nur unwesentlich über die Wasseroberfläche, doch sie war so groß, dass Gwyn darauf vollständig Platz gefunden hatte.
Die See war noch immer unruhig. Immer wieder wurde sie von Wellen überspült und unter Wasser gedrückt, doch ihre Finger hatten sich um die Tischplatte gekrampft und gaben nicht nach - zumindest noch nicht. Die Erschöpfung nagte zunehmend an ihr.
'Großer Gott, ich kann nicht mehr!'
Ihre Augen brannten ob des Salzwassers; jeder ihrer Muskeln schmerzte. Ihre Finger waren taub. Ihr Nacken war steif - Gwyn hatte verzweifelt versucht, den Kopf so weit wie möglich über das Wasser zu recken.
Längst hatte das Mädchen jedes Zeitgefühl verloren. Sie vermochte nicht mehr zu sagen, wie lange sie bereits auf der Holzplatte ausharrte, doch ihre Kräfte verließen sie, bis sie schließlich völlig erschöpft den Kopf auf ihre Arme legte und die tränenden Augen schloss.
Auch die Angst, die sie bereits den ganzen Tag fest im Griff gehalten und ihr gleichzeitig als eine schier unerschöpfliche Quelle neue Kraft gespendet hatte, schien langsam zu verebben.
Sie hatte nicht mehr die Kraft, einen klaren Gedanken zu fassen.
Nur noch eine einzige Erkenntnis kreiste in ihrem Bewusstsein.
‚Ich werde sterben!'
Erst als erneut Salzwasser über sie schwappte, sah sie hustend auf. In weiter Ferne, zwischen den Wellenbergen kaum erkennbar, erschien ein weißer, beinahe leuchtender Fleck. Schon Augenblicke später war der Fleck zu einem großen, geblähten Segel herangewachsen, das in der Abendsonne, die stellenweise durch die Wolkendecke brach, gelb-orange leuchtete.
Beim Anblick des Schiffes, dessen Bug sich unermüdlich durch das aufgewühlte Meer schob, war ihre Müdigkeit verschwunden. Aufregung überkam sie.
Das Schiff kam immer schneller auf sie zu. Ohne einen weiteren Gedanken an ihr Handeln zu verschwenden, begann Gwyn zu schreien; verzweifelt versuchte sie mit all ihrer verbliebenen Kraft das Rauschen des Meeres zu übertönen: „Hilfe! Bitte! Hilfe!“
Allmählich wurde das Mädchen in den gewaltigen Schatten des Schiffes getaucht. Der Anblick, der sich Gwyn bot, war das Gigantischste was sie je gesehen hatte.
Beinahe ehrfürchtig verstummte sie einen kurzen Augenblick, ehe sie ihre Hilfeschreie wiederholte.
Plötzlich blickten zwei Männer über die Reling. Als Gwyn sie bemerkte, hob sie langsam den Kopf und löste ihre verkrampfte Hand von der Tischplatte. Doch ihr Arm war so schwer, dass sie ihn kaum noch anheben konnte. Sie starrte nur kraftlos auf die verschwommenen Umrisse der Männer. Für einen kurzen Augenblick waren sie verschwunden, doch dann erschienen weitere Gestalten an der Reling.
Zwei von ihnen sprangen ins Wasser und schwammen zu ihr.
Gwyn bemerkte kaum noch, wie die Männer sich an der Holzplatte festhielten. Einer zog sie in seine Arme. Die Erschöpfung übermannte sie und ihr wurde schwarz vor Augen.
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Kapitän Wilde zitterte und stützte sich auf einen noch bestehenden Teil der Reling. Seine weißgepuderte Perücke hatte er verloren. Sein eigenes dunkelbraunes Haar hing ihm wirr ins Gesicht. Das inzwischen eingetrocknete dunkelrote Blut einer Wunde hob sich deutlich von seinem blassen Gesicht ab. Auch auf seiner Uniform war Blut.
Seine dunklen Augen schweiften über Deck.
Die ‚Ventus’, eines der Schmuckstücke der Royal Navy, sah aus, wie nach einer verlorenen Schlacht: der hintere Mast, der Besanmast, war zersplittert und lag quer über Deck. Große Teile der Reling waren verschwunden oder standen in alle Richtungen ab. Alle Beiboote waren zerstört. Es grenzte an ein Wunder, dass sich das Steuerrad – stark beschädigt- noch auf seinem Platz befand. Das Bemerkenswerte aber war, dass der Kompass offensichtlich keinen Schaden genommen hatte.
Überall an Deck lagen die Leichen der tapferen Männer, die den Sturm nicht überlebt hatten und die Körper derer, die noch um das Überleben kämpften.
„Käpt´n, schnell Sir, Mr. Alester!“, rief Thunder plötzlich. Der Matrose war einer der wenigen, die noch einmal glimpflich davon gekommen waren. Außer einer leicht blutenden Wunde am Hinterkopf schien er unversehrt.
Julian Alester wurde aus den Trümmern der Reling und mehrerer Kisten befreit. Der erste Offizier der 'Ventus' blutete aus Nase, Mund und Ohren; seine Augen waren geöffnet, starrten den jungen Kapitän an und doch in weite Ferne.
Wilde unterdrückte nur mit Mühe ein Seufzen, bevor er sich zu seinem Offizier hinabbeugte, um seine Lider zu schließen, dann wandte er sich ab. Die meisten Leichen waren vor das Achterdeck gebracht worden. Wildes Blick schweifte kurz zu den toten Besatzungsmitgliedern. Auch Gray hatte den Sturm nicht überlebt.
Dann hob er den Blick hinauf zur Großen Kabine. Die Tür war aus ihren Angeln gerissen worden und hing verkeilt im Türrahmen.
Rechts neben der Tür war das Milchglas mehrmals gesprungen, das linke fehlte gänzlich.
'Oh großer Gott!'
Der junge Kapitän hastete zwei Stufen auf einmal nehmend die kurze Treppe hinauf zum Achterdeck. Erst jetzt waren ihm seine Passagiere wieder in den Sinn gekommen.
Vor dem Türrahmen blieb er wie angewurzelt stehen. Sein Blick war starr geradeaus gerichtet. Die verglaste Heckwand fehlte. Auch die Zierbalustrade war fort. Nur langsam senkte er den Blick. In der Heckkabine stand knöchelhoch das Wasser. Nur an den Außenwänden der einzelnen Kajüten, die in den Raum hineinragte, hatten sich einige Stühle, Bücher und Navigationsinstrumente gesammelt. Der Großteil des Mobiliars, einschließlich des schweren Eichentisches, fehlte.
'Das darf doch nicht wahr sein!'
Plötzlich blieb sein Blick an der linken Wand der Kajüte haften und seine Augen weiteten sich.
Dr. Steward lag bewusstlos zwischen mehreren Stühlen und losem Holz.
'Verdammt!'
Wilde rief drei Männer zu sich, bevor er über die verkeilte Tür in die Achterkabine stieg und den Arzt vorsichtig befreite.
Er war sehr blass; Blut lief ihm, von einer Verletzung über seinem Haaransatz, über das Gesicht.
Im ersten Moment hielt der junge Kapitän ihn für tot, aber dann sah er, wie sich Dr. Stewards Brustkorb leicht hob und senkte.
„Bringt ihn vorsichtig in seine Kabine“, befahl Wilde mit heiserer Stimme.
Erst als sich die Männer daran machten, den verletzten Arzt vorsichtig anzuheben, dachte Wilde an Gwyneth.
Mit ungewohntem Unbehagen, sah er sich suchend um. Doch das Mädchen war nirgends zu entdecken. Er stieg über die Stühle bis vor die Tür zu ihrer Kabine. Energisch klopfte er gegen die Tür.
"Miss Steward?", fragte er, bevor er die Tür zu öffnen versuchte. Als sie nicht nachgab, stemmte er sich gegen das raue Holz. Langsam öffnete sich die Tür einen Spalt breit. Die Kabine war verwüstet, doch von dem Mädchen war nichts zu sehen.
Langsam trat Wilde wieder hinaus aufs Achterdeck.
Einige leicht verletzte Männer- unter ihnen Larsen und Moody- hievten gerade den umgefallenen Mast von ihren Kameraden, um denen zu helfen, denen man noch helfen konnte.
Nach einem letzten prüfenden Blick über Deck, rief Wilde schließlich Moody zu sich, der das Unterdeck nach dem Mädchen absuchen sollte.
Wilde beaufsichtigte die weiteren Maßnahmen, bis der Matrose neben ihm salutierte. „Sir, keine Spur von der kleinen Miss. Sie is' wie vom Erdboden verschluckt!“
Der Kapitän nickte knapp und schloss seufzend die Augen.
'Gott sei ihrer Seele gnädig…'
Mit einem beklemmenden Gefühl in der Brust trat Wilde wieder in die Heckkabine.
Während der Lärm der Mannschaft immer leiser wurde und schließlich nur noch das Rauschen des Wasser, durch das er schritt, zu hören war, überlegte Wilde fieberhaft, wie er dem Arzt gegenübertreten sollte.
Vor der Tür der Kajüte atmete er noch einmal tief durch und nahm Haltung an. Dann öffnete er langsam die Tür.
Auch seine Kabine war verwüstet. Glasscherben lagen auf dem Boden, der Tisch und die beiden Stühle waren umgefallen. Die Bücher waren aufgeschwemmt. Auch in diesem Raum stand das Wasser.
Dr. Steward lag im Bett. Man hatte sich bereits um seine Verletzungen gekümmert.
Der Arzt drehte seinen Kopf und stöhnte. Wilde beugte sich zu ihm nach unten, wandte sich aber schon nach einem kurzen Moment wieder seufzend ab.
'Wie soll ich ihm sagen, dass das Mädchen weg ist. Gott steh mir bei!'
Langsam öffnete Steward die Augen. Er sah sich verwirrt um. Seine Augen blieben schließlich an Wilde haften.
„Wo…Wo ist Gwyn!“, ächzte er, das Gesicht schmerzverzerrt.
Der Kapitän fühlte sich, als hätte man ihm einen Schlag in die Magengrube versetzt. Er schluckte trocken; sein Blick war starr auf den Boden gerichtet.
„Nun…Sir…es ist…“, begann Wilde unschlüssig und widerstand nur mit Mühe dem Wunsch, die Kabine fluchtartig zu verlassen.
„Wo ist meine Nichte?“, fragte Steward, immer noch heiser, aber mit deutlich mehr Nachdruck in der Stimme.
„Nun, Sir…“, Wilde suchte fieberhaft nach den richtigen Worten.
“Es ist… Nun ich…“ Wilde hob kurz den Kopf. Als er Stewards Gesichtsausdruck bemerkte, senkte er seinen Blick wieder und holte tief Luft: “Sir, ich…ich befürchte, nun….Eure Nichte ist unauffindbar und…ich….befürchte - es tut mir wirklich sehr Leid - sie ist nicht…mehr…auf dem Schiff und…“, der junge Mann verstummte und sah seufzend auf.
Der Arzt hatte seinen Blick in unbestimmte Ferne gerichtet. Kaum merklich schüttelte er den Kopf.
“Nein,…“, Dr. Stewards Lippen bewegten sich, aber kein Laut entrang sich seiner Kehle. Tränen waren ihm in die Augen getreten und verschleierten seine Sicht. Wilde sah ihn für einen Augenblick mitfühlend an, ehe er leise das Zimmer verließ.
‚Gwyn, oh Gott, mein armes, liebes Kind!’
Dem Arzt rannen ungehemmt Tränen über die Wangen. Sein Körper bebte unter lautlosem Schluchzen. Gwyn konnte, durfte einfach nicht tot sein…