Читать книгу Unter Piraten - Miriam Lanz - Страница 9
Оглавление17. Mai im Jahre des Herrn 1713:
Langsam wurde die zerstörte Fregatte von zwei kleinen Fischerbooten in die Bucht von Kingston gezogen. Am Kai waren unzählig viele Soldaten und Schaulustige zu erkennen, die das Schiff in Empfang nehmen wollten.
Gedankenverloren und von einer ungewohnten Nervosität ergriffen stand Wilde am Steuerstand der ‚Ventus’, wobei seine linke Hand auf dem Steuerrad ruhte.
'Wi e wird der Gouverneur reagieren, wenn er von dem Sturm hört?'
Vielleicht würde er Wilde seine Stellung als Kapitän entziehen, weil zu viele Seeleute durch ihn den Tod fanden - von dem Schaden an der 'Ventus' ganz zu schweigen. Langsam schweiften seine dunklen Augen über das Deck. Sein Blick blieb an Dr. Steward haften, der an der Reling lehnte und auf das Meer hinaus blickte. Körperlich hatte sich der Arzt gut erholt und seine Verletzung am Kopf wurde durch die weiß gepuderte Perücke vollkommen verdeckt.
Einige Matrosen holten das zerrissene Segel, das nur notdürftig geflickt worden war, ein. „Entschuldigt, Sir!“
Ein Matrose war an Dr. Steward gestoßen. Es schien, als hätte er den Arzt aus seinen Gedanken gerissen. Er zuckte leicht zusammen, trat einen Schritt beiseite und beobachtete die Männer.
Wilde hatte den Arzt in den vergangenen Tagen kaum zu Gesicht bekommen. Um so mehr erschrak er, als er ihn sah. Dr. Steward war blass und sah sehr müde aus. Seine freundlich leuchtenden Augen waren matt. Tiefe Falten zogen sich durch sein Gesicht, die ihn um Jahre altern ließen.
Wilde musste ein Seufzen unterdrücken. Seit dem Tod seiner Nichte hatte Steward kaum gesprochen, nichts mehr gegessen und Wilde hatte ihn nicht einmal mehr rauchen sehen, obwohl der Arzt ein Sklave des Tabaks gewesen war.
Der Kapitän atmete tief durch, ehe er schließlich vor den Arzt trat.
„Verzeiht, Sir…“, begann er und stellte sich in steifer Haltung neben Steward. Wenn er so vor dem Älteren stand, war er über einen halben Kopf größer als der Arzt.
Dr. Steward wandte sich langsam dem Kapitän zu.
„Was gibt es, Kapitän Wilde?“, fragte er und musterte ihn aus traurigen Augen. Als Wilde ihn hörte, zuckte er kaum merklich zusammen. Seine Stimme war kaum wieder zu erkennen - sie klang so niedergeschlagen, so müde.
„Wir laufen in den Hafen ein, Sir!“, antwortete Wilde nach einigen Sekunden des Schweigens.
‚Was für eine Feststellung. Etwas Besseres konnte dir nicht einfallen?’
„Dessen bin ich mir durchaus bewusst, Kapitän. Dennoch danke ich Euch.“ Der Arzt sah wieder aufs Meer, das in der Mittagssonne hell leuchtete. Hinter den felsigen Klippen, weit in der Ferne, konnte man vereinzelt Schiffsmasten und geblähte weiße Segel erkennen. Dr. Steward schüttelte leicht den Kopf und seufzte leise.
„Wisst Ihr, Gwyn hatte sich so sehr auf Kingston gefreut. Sie hatte schon viel über Jamaika gelesen und konnte es kaum abwarten…“, er schweifte ab.
„Ich verstehe, Sir“, bemerkte Wilde, dessen Aufmerksamkeit ebenfalls auf die See gerichtet war. „Es tut mir Leid!“
Dr. Steward drehte sich zu dem Kapitän. Zum ersten Mal seit dem Sturm lag der Hauch eines Lächelns auf seinen Lippen.
„Ich danke Euch, Kapitän Wilde!“, sagte er und ging.
Wilde blieb an der Reling stehen und sah wieder auf das unendliche Meer hinaus. Bis weit über den Horizont erstreckte sich die ruhige See.
An einem Tag wie diesem war es nur schwer vorstellbar, dass das Meer auch ein ganz anderes Gesicht haben konnte, ein tödliches Gesicht.
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Die ‚Ventus’ hatte in der Bucht geankert. Drei Ruderboote - zwei sehr groß und eines nur für wenige Personen gedacht - kamen zu der Fregatte, legten an deren Backbordseite an und ließen Dr. Steward, Wilde und die übrige Besatzung zusteigen.
Als der Kapitän den Kai bestieg, kam ein Mann mittleren Alters auf ihn zu. Er trug einen olivgrünen Justaucorps, den knielangen Gehrock, eine elfenbeinfarbige Kniehose und eine gleichfarbige Weste. Auf seinem Kopf thronte eine aufgebauschte Allongeperücke.
"Kapitän Andrew Wilde? Es ist mir eine Ehre und ein Vergnügen Euch kennen zu lernen!", meinte der Mann lächelnd. Wilde verneigte sich vor ihm.
„Lord Hamilton , es…“
„Und Ihr müsst Dr. Steward sein. Es freut mich außerordentlich, Eure Bekanntschaft zu machen, Sir." Lord Archibald Hamilton trat an dem jungen Mann vorbei und reichte Dr. Steward, der direkt nach dem Kapitän den Pier bestieg, die Hand.
„Ich heiße Euch, hier in Kingston, auf das herzlichste Willkommen, werter Dr. Steward“, begrüßte er den Arzt.
„Ich danke Euch, Lord Hamilton.“
Der Gouverneur von Jamaika warf einen suchenden Blick an Steward vorbei zu den Beibooten, die inzwischen alle angelegt hatten. Die meisten Matrosen drängten sich an den Soldaten, die an dem Kai standen, vorbei, um schnellst möglich eine Schenke aufzusuchen.
„Wo ist denn Eure Nichte? Ich meinte, Ihr hättet geschrieben, dass sie mit Euch kommt“ , fragte der Gouverneur unvermittelt.
Wilde, der die Arme hinter dem Rücken verschränkt hatte und stumm neben den beiden Herren stand, warf einen kurzen Blick auf den Arzt. Für den Bruchteil einer Sekunde fürchtete der Kapitän, er könnte die Etikette vergessen und in Tränen ausbrechen, doch Dr. Steward war Herr seiner Selbst.
„Meine Nichte ist bei dem Sturm, in den wir vor wenigen Tagen gerieten, verunglückt“, erklärte er trocken.
„Es tut mir außerordentlich Leid dies hören zu müssen. Mein herzlichstes Beileid, Dr. Steward“, sagte Hamilton mitfühlend und richtete sich dann an Wilde, der von einem leichten Unbehagen befallen wurde.
„Wie viele weitere Verluste müssen wir durch den Sturm bedauern?“
„Vierundachtzig arme Seelen. Unter ihnen ist auch Julian Alester, der erste Offizier“, entgegnete Wilde nüchtern.
„Nach dem Aussehen des Schiffes zu urteilen, muss der Sturm sehr stark gewesen sein. Und dennoch hat ein beträchtlicher Anteil der Mannschaft überlebt. Wilde, Ihr seid ein fähiger Kapitän!“, lobte Hamilton und wies Dr. Steward und den Kapitän zu einer bereitstehenden Kutsche.
„Vielen Dank, Sir.“ Wilde konnte seine Überraschung bei den Worten des Gouverneurs nur mit Mühe verbergen.
‚Was für ein Heuchler!’
Von der einst einhundertfünfundsiebzigköpfigen Besatzung hatten nur einundneunzig Männer überlebt und das war nach Wildes Empfinden alles andere als ein ‚beträchtlicher Anteil’. Noch vor einigen Minuten hatte er um seine Stellung gebangt und nun schien ihn Lord Hamilton geradezu zu lobhuldigen.
'Ich hätte es wissen müssen!'
Niemand würde es wagen, den Sohn des ehrenwerten Admiral Daniel Wilde zu degradieren. Oder auch nur ein schlechtes Wort über ihn zu sagen - zumindest nicht in aller Öffentlichkeit und in seinem Beisein. So war es schon immer gewesen. Man hatte ihm niemals Steine in den Weg gelegt, denn der Einfluss seines Vaters war grenzenlos.
Wilde war mit achtzehn Jahren zum Offizier ersten Grades befördert worden und war nun - mit gerade erst einundzwanzig Jahren - jüngster Kapitän in der Geschichte der Royal Navy.
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Die Kutsche fuhr zunächst durch das heruntergekommene Hafenviertel. Schäbige Kneipen mit dreckig ausladenden Hausfassaden reihten sich dicht aneinander. Ein fauliger Geruch lag in der Luft. Nur einige, trotz dieser frühen Stunde, betrunkene Männer waren auf der Straße zu sehen und vereinzelt standen Prostituierte am Straßenrand.
Je näher die Kutsche dem Marktplatz der Kolonialstadt kam, desto mehr Menschen waren auf den Straßen. Auf dem Platz selbst herrschte, unter der prallen Mittagssonne, das übliche geschäftige Treiben. Die Kutsche wurde langsamer; vereinzelt musste sie sogar gänzlich anhalten.
Dr. Steward verfolgte das rege Treiben der Stadt, das ihm eine willkommene Abwechslung bot, aufmerksam, während Kapitän Wilde dem Gouverneur über die Geschehnisse der Reise Bericht erstattete.
Stände mit Fisch- und Fleischwaren standen neben Tischen voller orientalischer Gewürze. Tische mit Schmuck schienen nahtlos in Gemüse- und Obstständen überzugehen. Tausend verschiedene Gerüche und Düfte lagen in der Luft. Marktschreier versuchten mit lauten Stimmen das Gerede der Menschen, das zu einem allgemeinen Stimmengewirr verschmolzen war, zu übertönen. Händler priesen überschwänglich gestikulierend ihre Waren an.
Zwischen den Ständen war eine gewaltige Menschenmenge zusammengekommen. Steward erkannte im ersten Augenblick nicht, was ihre Aufmerksamkeit erregt hatte, dann aber sprangen einige junge Männer zur Seite und gaben den Blick auf einen riesigen Tanzbären frei.
Plötzlich hielt der Kutscher laut fluchend an. Die Pferde wieherten panisch. Einige Kinder waren vor der Kutsche vorbeigelaufen. Ein Mädchen drehte im Laufen ihren Kopf.
Für einen flüchtigen Augenblick glaubte der Arzt, in dem Mädchen seine Gwyn zu erkennen. Dr. Steward senkte den Blick und unterdrücke nur mit Mühe ein Seufzen als das Pferdegespann weiterfuhr.
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Mit einem leichten Ruck hielt die Kutsche an.
‚Endlich!’
Erleichtert der stickigen Luft im Innenraum des Gefährts zu entkommen, stieg Wilde nach dem Gouverneur und Steward aus und sah sich, von einer ungewohnten Neugier ergriffen, um. Die Kutsche hatte vor einer weißen Villa angehalten. Das Gebäude besaß viele große Fenster. Vor dem Eingang standen Marmorsäulen, die einen Balkon stützten, der von einem äußerst aufwendig verarbeiteten schmiedeeisernen Geländer umgeben war.
Vor der hohen Umzäunung des Anwesens waren viele, kunstvoll zugeschnittene Rosen- und Fliederbüsche, deren Duft, durch die leichte Brise, Wilde angenehm entgegenströmte.
Als der Kapitän den angenehm kühlen Salon betrat, bot sich ihm ein sehr vertrautes Bild. Die hohe Gesellschaft von Kingston stand in kleinen Gruppen zusammen und unterhielt sich. Der Gouverneur war zu einigen Herren gegangen, um mit ihnen zu sprechen, wobei er zu Wilde und Dr. Steward, der unweit des Kapitäns stand, gestikulierte. Einige Damen waren beim Eintreten des jungen Mannes verstummt. Ihre Blicke lagen auf ihm, ihre Fächer verbargen einen Großteil ihrer Gesichter.
„Kapitän Wilde! Darf ich Euch mit den Herren bekannt machen?“ Hamilton kam mit der Gruppe Männer zu ihm, als Wilde ein Glas Brandy von dem Tablett eines Angestellten nahm.
„Dies ist Mr. Jonathan Millstone, der Pastor von Kingston.“
„Guten Abend, Sir!“, Wilde schüttelte dem Kleriker die Hand.
„Dieser Herr ist Lord Simon Burton, er ist Friedensrichter“
„ Freut mich, Eure Bekanntschaft zu machen, Sir!“
Nachdem Lord Hamilton Wilde alle ehrenwerten Männer von Kingston vorgestellt hatte, begab sich die Gesellschaft an den festlich gedeckten Tisch.
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Dr. Steward hatte stets eine gewisse Abscheu gegen jene Veranstaltungen der Gesellschaft gehegt, war aber pflichtbewusst zu ihnen erschienen und hatte sich die Zeit mit Debatten über politische Ereignisse, neue Steuern und die Kolonien vertrieben.
Der heutige Empfang aber erschien ihm wie eine langsame Folter.
Offensichtlich hatte sich die Neuigkeit vom Tod seiner Nichte schnell verbreitet, denn nach und nach sprachen ihm alle Anwesenden ihr Bedauern aus. Nach außen nahm es Dr. Steward mit Fassung hin, in seinem Inneren aber tobte ein Kampf.
Völlig teilnahmslos nahm er am Diner teil, ging auf keinen Gesprächsversuch der anderen Gäste ein und verabschiedete sich bevor die Herren der Gesellschaft sich in den Salon für einige Gläser Brandy begaben.
Noch ehe der junge Angestellte des Gouverneurs, der den Arzt zu seiner vom Empire gestellten Villa führte, anklopfen konnte, wurde die Tür von einem Dienstmädchen, offenkundig jamaikanischer Herkunft, geöffnet. Der Angestellte des Gouverneurs verbeugte sich tief vor dem Arzt und eilte davon, bis sich schließlich nur noch das Licht seiner Laterne aus der Dunkelheit, die sich über die Stadt gelegt hatte, abhob.
Als Steward in die Eingangshalle der neuen Villa trat, verbeugten sich alle Hausangestellten. Ein älterer Mann erhob sich und trat einen Schritt vor.
„Ich heiße Euch im Namen aller hier herzlich Willkommen in Kingston. Mein Name ist Jakob Witherby“, stellte er sich mit einer weiteren tiefen Verbeugung vor; sein irischer Akzent war nicht zu überhören. Der Arzt nickte nur. Als Witherby sich wieder aufgerichtet hatte, musterte er den neuen Hausherrn für einen Augenblick.
„Verzeiht mir, Sir, aber wir haben von dem tragischen Tod Eurer jungen Nichte erfahren und ich möchte Euch im Namen aller unser tiefstes Beileid aussprechen.“
Inzwischen hatten sich die übrigen Angestellten wieder aufgerichtet und beobachteten den Arzt neugierig. Steward schloss kurz die Augen, verschränkte die Arme hinter dem Rücken und atmete tief durch, ehe er völlig ausdruckslos meinte: „Mr. Witherby, wenn Ihr mir nun mein Schlafzimmer zeigen könntet?“
Der Ire verbeugte sich flüchtig, bevor er vor dem Arzt die große freie Treppe hinaufstieg. Steward folgte ihm gedankenversunken. Am Ende des mit einem bestickten Teppich ausgelegten Korridors blieb Witherby stehen, öffnete eine Tür und trat respektvoll zurück. Mit einer letzten Verbeugung wünschte er dem Arzt eine angenehme Nacht und ging.
Steward betrat das Zimmer und schloss leise die Tür hinter sich. Der Raum war riesig. Durch die beiden großen Balkonfenster fiel der fahle Mondschein und tauchte das Zimmer in ein unheimliches Licht. Mühelos erkannte Steward an der Wand zu seiner Rechten ein gigantisches Himmelbett und daneben einen Nachttisch mit einer Öllampe. An der Wand gegenüber dem Bett stand ein Frisiertisch mit einem Spiegel, der den Vollmond reflektierte, und einer Waschschüssel. Zu seiner Linken befand sich eine große Kommode.
In der Mitte des Zimmers, nahe den Fenstern, standen ein kleiner Tisch und zwei gepolsterte Stühle auf einem Teppich, der fast den ganzen Boden bedeckte.
Der Arzt war beeindruckt. Schon in Bristol hatte er mit Gwyn in einer Villa gelebt, doch das alte Herrenhaus war mit dieser Villa nicht zu vergleichen.
Dr. Steward ließ sich seufzend auf das Bett sinken und rieb sich mit den Händen über sein Gesicht.
‚Oh, Gwyn, wie hätte dir das gefallen...?’