Читать книгу Unter Piraten - Miriam Lanz - Страница 6
Оглавление12. Mai im Jahre des Herrn 1713:
An Bord einer großen, englischen Fregatte, an dessen Bug in vergoldeten Lettern der Name ‚Ventus’ zu lesen war, gingen die Matrosen ihrer gewohnten Arbeit nach.
Der junge Mastgast Jack Thunder streckte sich und sah zur Mars, der Plattform am unteren Ende der Großmarsstrenge, hinauf, auf der er noch vor wenigen Minuten gesessen hatte.
Er war auf seiner ersten großen Überfahrt in die neue Welt und obgleich er froh war, nicht mehr als Tagelöhner in Liverpool zu arbeiten, konnte er seiner Aufgabe als Mastgast nicht viel abgewinnen.
Mit einem zufriedenen Lächeln schlenderte er an seinen Kameraden vorbei zur Mannschaftsunterkunft.
„Thunder, was machst du hier?“ Oliver Moody goss schwungvoll einen Eimer Wasser auf das Deck. Jack sprang ein Stück nach hinten - allerdings wurden seine Hosenbeine dennoch nass.
„Has´ du sie noch alle?“
„Verzeiht, Eure Majestät.“ Moody verbeugte sich spöttisch.
„Ich bin ein freier Mann, für die nächsten vier Stunden zumindest, also fall' vor mir auf die Knie, du Sklave!“ Thunder stolzierte ein paar Schritte weiter. Moody wandte sich zu den anderen Matrosen um und nickte ihnen mit einem schiefen Grinsen zu.
„Der braucht ´ne Abkühlung!“
Sofort packten drei Matrosen den Mastgast, während die übrigen Seeleute mehrere Wassereimer über ihn kippten.
Moody zog einen neugefüllten Eimer über die Reling, als sein Blick am Großmast hängen blieb.
„Seht euch das an! Die Kleine is´ völlig übergeschnappt!“
Die Seeleute hielten in ihren Bewegungen inne. Auch sie richteten ihr Augenmerk auf den Großmast.
Thunder trat hustend einen Schritt nach vorne und strich sich das nasse Haar aus dem Gesicht.
„Verdammt! Wilde bringt mich um.“ Er warf einen beinahe hilflosen Blick zu seinen Kameraden, ehe er zu winken begann.
„Missy, kommt da runter. Das is´ zu gefährlich!“ Das Mädchen wandte den Kopf. Doch anstatt der Aufforderung des Mastgasts zu folgen, winkte sie zu ihm herunter.
„Verflucht!“ Thunder trat noch näher an den Mast heran.
„Was geht hier vor?“ Die forsche Stimme des Kapitäns ließ Jack erschreckt herumfahren; er hatte nicht gehört, dass der Kapitän an Deck gekommen war.
„Sir, wenn Ihr Euch selbst überzeugen wollt?“ Thunder deutete ein wenig kleinlaut mit einem Nicken auf den Ort des Geschehens.
Der Kapitän folgte der Anweisung und für einen kurzen Augenblick konnte er seine Überraschung beim Anblick des Mädchens nicht verbergen.
Ein schlanker, äußerst elegant gekleideter Mann mittleren Alters mit einem besorgten Gesichtsausdruck trat an ihm vorbei:
„Gwyn? Großer Gott, Gwyn! Komm sofort wieder herunter! Hörst du?“
„Miss, Ihr solltet herunterkommen! Euch könnte etwas widerfahren! Gray, Thunder, holt sie runter sofort und mit größter Vorsicht!“ Kapitän Wilde hielt sich die Hand vor die Augen, um die Situation besser verfolgen zu können.
Mittlerweile hatte sich die ganze Mannschaft um den Mast versammelt und sah in gespanntem Schweigen zu dem Mädchen hinauf.
Diese hatte auffallend große, smaragdgrüne Augen; ihre dunkelblonden Haare waren am Hinterkopf zusammengesteckt. Sie trug ein zartblaues enggeschnittenes Kleid, ganz nach der neuesten Londoner Mode, mit Spitzenkragen und Volantärmeln, die vom Ellenbogen an immer breiten wurden.
Gwyn stand auf der Plattform und sah auf das Deck herunter.
Die Besatzung beobachtete, wie die beiden angewiesenen Männer an den Webeleinen, die zwischen den Wanten, den starken Seilen zu jeder Seite des Großmastes, gespannt waren und so als Sprossen für den Aufstieg dienten, hochkletterten, um ihr zu helfen.
Dr. James Steward war noch einen Schritt auf den Mast zugegangen; seine dreizehnjährige Nichte ließ er nicht aus den Augen. Seine Besorgnis war nicht zu übersehen.
Endlich stand Thunder ebenfalls auf der Mars, und hielt dem Mädchen auffordernd seine Hand entgegen.
„Kommt, Missy. Ich helfe Euch!“
„Warum?“, fragte sie sichtlich verblüfft.
„Mir geht es gut, ich brauche keine Hilfe.“ Beim Anblick der verdutzten Gesichter der beiden Matrosen begann sie zu kichern.
Inzwischen ging ein Raunen durch die Reihen der Männer an Deck.
„Eure Nichte ist wirklich erstaunlich, Sir. Sie überrascht mich immer wieder aufs Neue“, meinte Kapitän Wilde, der sich sichtlich genervt dem Arzt zuwandte. Während er den Kopf drehte, war jedoch einen Augenschlag lang die Spur eines Lächelns auf seinen Lippen erkennbar. Dr. Steward nickte resigniert; sein Blick war noch immer unverwandt auf seine Nichte gerichtet.
„Nun kommt schon, Missy!“, drängte Thunder zum wiederholten Mal; seine Stimme war zu einem ungehaltenen Flüstern zusammengeschrumpft. Gwyn stellte zu ihrem Vergnügen fest, dass er sich sehr beherrschen musste, um eine möglichst ruhige Stimme zu wahren.
Auch Gray, der auf der letzten Sprosse der Webeleinen stand, hielt Gwyn einladend die Hand entgegen, hielt sich aber ansonsten aus der Diskussion heraus. Harry Gray, ein gutmütiger Seemann mittleren Alters, der schon sein halbes Leben auf Bootsdecks verbracht hatte, hielt es für klüger sich nicht in diese Situation einzumischen.
„Larsen, Moody, helft euren Kameraden!“, befahl Wilde barsch; ein Anflug von Ungeduld war deutlich in seiner Stimme zu erkennen. Die beiden angewiesenen Seeleute reagierten sofort.
„Missy“, zischte Thunder durch seine zusammengebissenen Zähne drohend und trat einen Schritt auf sie zu. „Ich möchte mich nicht noch einmal wiederholen müssen. Gebt mir Eure verfluchte Hand!“
„Ich möchte mich auch nicht noch einmal wiederholen, Mr. Thunder. Ich brauche keine Hilfe!“, entgegnete Gwyn frech und trat einen Schritt zurück auf die Rah, den Oberbalken des Großsegels, während sie sich an einem Seil festhielt. Jack wurde blass.
„Missy, ich bitte Euch. Rührt Euch nicht. Bleibt wo Ihr seid!“
Gwyn sah Thunder verständnislos an. Sie warf einen Blick auf das Deck. Auch aus dieser Höhe konnte sie erkennen, dass ihrem Onkel alle Farbe aus dem Gesicht gewichen war.
Erst jetzt bemerkte sie die beiden Matrosen, die ebenfalls zu ihrer Hilfe geschickt wurden.
Gwyn verdrehte die Augen und warf einen weiteren, prüfenden Blick nach unten auf das Bootsdeck, wobei sie gedankenversunken an ihrer Unterlippe kaute. Dann griff sie kurzentschlossen nach einem anderen, scheinbar losen Seil und ließ sich fallen.
„Missy!“, japste Thunder, die Augen vor Schreck weit aufgerissen, als er versuchte, noch nach ihr zu greifen. Gray war starr vor Schreck.
Auch die Besatzung an Bord hielt den Atem an. Sogar Kapitän Wilde schien schockiert.
Das Mädchen kreischte überdreht. Im letzten Augenblick, bevor sie Offizier Alester umgerempelt hätte, ließ Gwyn das Seil los. Sie fiel in die Arme des Offiziers. Der Mann schien ebenso verwirrt wie Gwyn selbst.
„Geht es Euch gut, Miss?“, fragte er schließlich und trat mit einem unbeholfenen Blick einen Schritt zurück. Gwyn nickte benommen, dann schlich sich ein amüsiertes Lächeln ob der Absurdität des soeben Geschehenen auf ihre Lippen, das sie nicht verbergen konnte.
Dr. Steward war neben seine Nichte getreten und legte ihr den Arm um die Schulter. In seinem Gesicht spiegelten sich Vorwurf und Erleichterung.
Die ganze Mannschaft beobachtete die beiden Passagiere interessiert. Als Wilde jedoch Stewards Gesichtsausdruck bemerkte, rief er die Männer im scharfen Befehlston zur Ordnung.
„Gwyn, wie kommst du nur immer auf solch absurde Ideen?“, fragte ihr Onkel anklagend nachdem alle Besatzungsmitglieder wieder an die Arbeit gegangen waren, während er seine Nichte vorsichtig zur Reling führte.
„Wenn dir etwas passiert wäre? Nicht auszudenken! Was hattest du eigentlich gedacht dort oben zu finden, hm?“
„Ich dachte von dort hätte man einen guten Ausblick. Kapitän Wilde sagte doch, dass wir bald ankommen. Außerdem ist Thunder auch immer da oben“, erklärte Gwyn etwas kleinlaut.
„Es ist die Aufgabe von Mr. Thunder Ausschau zu halten und nicht deine.“
„Ja, aber…“, wollte Gwyn sich verteidigen, doch ihr Onkel unterbrach sie: „So etwas gehört sich nicht für eine Dame.“
Das Mädchen schüttelte kaum merklich den Kopf und lehnte sich über die Reling, um die Wellen, die am Rumpf des Schiffes brachen, zu beobachten.
Ihr Onkel trat langsam neben sie und legte ihr sanft seinen Arm um die Schulter.
„Ich will keine Dame der Gesellschaft werden“, protestierte Gwyn, nachdem sie sich seufzend wieder ihrem Onkel zuwandte, und schob in kindhaftem Trotz ihre Unterlippe vor.
„Nun, ich glaube nicht, dass du dich dagegen wehren kannst.“
"Ich werde es zumindest versuchen! Onkel, auch wenn ich noch nicht all zu sehr in die Gesellschaft eingebunden werde, sehre ich mein Leben vor, als hätte ich es bereits hinter mir. Eine schier unendliche Aneinanderreihung von Banketts und Teepartys. Ich habe immer nur höflich zu nicken, darf aber meine Meinung nie aussprechen. Stattdessen unterhalte ich mich mit ebenso eingebildeten wie geistlosen Frauen über Mode und Skandale. Mit anderen Worten: Ich werde ein Schmuckstück, das man bei Bedarf präsentieren kann!“
„Nun ja, Prinzessin, dagegen wirst du nicht viel tun können. Bedauerlicherweise ist dies ein Schicksal, dass du wohl mit allen Frauen auf der Welt teilen musst. Aber dennoch ist dir eine Erziehung zu Teil gekommen, von der sehr viele Menschen träumen. Du kannst Lesen und Schreiben, bist des Rechnens und der lateinischen Sprache mächtig und mit deiner Meinung hältst du beim besten Willen nicht an dich …“, versuchte sie Steward zu besänftigen. Obgleich bei seinen Worten ein kurzes Lächeln über die Lippen seiner Nichte huschte, war sie nicht zu beschwichtigen.
„Das mag sein, aber ich werde niemals die Möglichkeit haben zu studieren, so wie du. In einigen Jahren werde ich irgendeinen reichen Mann heiraten, der um ein Vielfaches älter ist als ich und den ich bis zur Hochzeit im Grunde nicht kenne.“
„Jetzt übertreibst du aber…“
„Nein, dass tue ich nicht und das weißt du auch, Onkel!“, rief Gwyn aus und eilte unter Deck.
Andrew Wilde wurde, während er das Gespräch zwischen seinen Passagieren verfolgte, wieder bewusst, wieso er niemals eigene Kinder wollte. Womöglich hätte er dann auch ein solch sonderbares Mädchen zur Tochter und der Gedanke allein jagte dem jungen Kapitän eiskalte Schauer über den Rücken.
Dr. Steward lehnte an der Reling und dachte, auf das unendliche Meer blickend, nach. Vieles, was seine Nichte vorgebracht hatte, war nicht zu leugnen. Gwyn war in vielerlei Hinsicht anders als andere gleichaltrige Mädchen, die sich damit beschäftigten die Eigenschaften der ‚idealen’ Frau zu erlernen, um sich auf ihre spätere Aufgabe als Ehefrau und Mutter vorzubereiten. Gwyn dagegen vermied es tunlichst sich mit dieser Beschäftigung auseinander zusetzen und verbrachte ihre Zeit stattdessen mit geistig hochstehender Literatur.
Sie beherrschte Latein, die Sprache der Gelehrten, außerordentlich gut. Sie liebte es, Diskussionen zu führen und zu philosophieren. Ihr Wissensdurst war kaum zu stillen; sie war bestrebt für alles eine Antwort zu finden. Ein Leben als ‚Leibeigene’, wie sie es schon des Öfteren bezeichnet hatte, würde sie umbringen, das wusste Steward.
Doch in einer Gesellschaft, die das Leben des Einzelnen vorschrieb, wie Steuern oder Gesetzte, bot sich für seine Nichte außer einer Hochzeit nur der Eintritt in ein Kloster an. Dies würde sich für Dr. Stewards impulsive Nichte allerdings als genauso schlimm erweisen. Der Arzt unterdrückte nur mit Mühe ein Seufzen. Er hatte nicht bemerkt, dass Kapitän Wilde neben ihn getreten war.
„Verzeiht Sir, aber das Diner ist aufgetragen und ich hielt es für meine Pflicht, Euch darüber in Kenntnis zu setzten.“ Steward wandte sich langsam von der See ab und nickte.
„Ich danke Euch, Kapitän.“
Der Angesprochene verbeugte sich höflich. Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Falls Ihr es wünscht, werde ich mein Diner separat einnehmen.“
„Ihr meint, wegen meiner Nichte? Aber nein, ich bitte darum uns die Ehre zu erweisen mit Euch dinieren zu dürfen!“ Wilde verbeugte sich abermals. Dr. Steward huschte ein Lächeln über die Lippen. Der junge Kapitän war ein höflicher und ausgesprochen eifriger Mann.
In der großen Kabine trafen die beiden Herren auf Gwyn, die aus ihrer Kabine trat. Das Mädchen atmete tief durch, strich sich das Kleid glatt, trat vor ihren Onkel und knickste vor ihm, so wie sie es auf der Mädchenschule gelernt hatte.
„Verzeiht mir meine lose Zunge, Onkel“, sagte sie reumütig. Sie wandte sogar die förmliche Anrede an - dies hatte sie noch nie getan. Der Angesprochene war völlig perplex. Jede andere Reaktion wäre ihm plausibler erschienen. Dass aber seine Nichte vor ihm knickste und sich so förmlich entschuldigte, versetzte ihm einen Stich ins Herz. Er liebte seine Nichte, als wäre sie seine eigene Tochter. Als sie vor annähernd zehn Jahren, nach dem Tod ihrer Eltern, zu ihm gekommen war, war sie wie ein Segen für James Steward gewesen. Nach über drei Jahren voller Einsamkeit und Trauer hatte es die damals Dreijährige in kurzer Zeit geschafft, ihren Onkel aus seiner Depression zu reißen.
Der Grund für diese dunklen Jahre war der Tod von Jane Steward, Dr. Stewards Frau. Nach bereits einigen Fehlgeburten, war sie schließlich mit einunddreißig Jahren ein weiteres Mal schwanger geworden. Doch tragischerweise war dem Paar ein Kind nicht vergönnt gewesen, denn Jane verstarb bei einer erneuten vorzeitigen Sturzgeburt. Dr. Steward, der seine Frau sehr geliebt hatte, gab sich die alleinige Schuld an ihrem Tod und an dem seines Kindes und verfiel in tiefe Depressionen. Zumindest bis zu dem Tag als das aufgeweckte, kleine Mädchen über die Schwelle seiner Villa trat. Seither war seine Nichte der wichtigste Mensch in Stewards Leben.
„Aber nein, mein Schatz“, sagte er sanft und richtete Gwyn wieder auf.
„Ähm, …entschuldigt mich, Sir. Ich…werde Euch nun besser allein lassen", meinte Wilde plötzlich sehr verlegen und wandte sich zum Gehen um. Ihm waren alle Gespräche dieser Art äußerst unangenehm, ganz gleich, ob er sie führen musste oder zuhören.
"Das ist nicht nötig, Kapitän", meinte Dr. Steward knapp, bevor er mit Gwyn in ihre Kabine ging.
„Du musst dich doch wegen unserer Meinungsverschiedenheit nicht entschuldigen, das ist völlig absurd.“ Er hatte die Tür leise geschlossen und schüttelte leicht den Kopf, bevor er sich umwandte und lächelte. „Und außerdem bitte ich dich, mich nicht so förmlich anzureden. Wir kennen uns doch inzwischen lange und gut genug, nicht wahr?“
Gwyn nickte glücklich lächelnd und umarmte ihren Onkel. Sie liebte diesen Mann. Seit dem Tod ihrer Eltern lebte sie bei ihm. Gwyn wusste von der schweren Zeit, die ihr Onkel damals durchlebt hatte und sie wusste auch, dass er durch sie wieder in ein normales Leben zurückgefunden hatte. Aber was sie für ihren Onkel bedeutete, bedeutete auch er für sie. Er hatte ihr geholfen über den Tod ihrer Eltern hinwegzukommen. Gwyn verdankte dem Arzt sehr viel. Er hatte ihr Lesen und Schreiben, Rechnen und Latein beigebracht. Vor allem aber hatte er ihr nie das Gefühl gegeben ein sonderbares Mädchen zu sein - ganz im Gegensatz zu den Lehrerinnen in der höheren Töchterschule, die sie kurzzeitig besucht hatte.
„Na komm“, riss sie Steward aus ihren Gedanken und löste sich aus der Umarmung, “gehen wir essen. Wir sollten Kapitän Wilde nicht so lange warten lassen.“ Er hielt seiner Nichte den Arm entgegen. Gwyn hakte sich bei ihm unter und ließ sich zurück in die große Kabine führen.
Das Diner war bereits aufgedeckt und Wilde und sein erster Offizier Alester saßen schweigend am Tisch. Als sie die beiden Passagiere hörten, erhoben sie sich und Alester rückte Gwyn den Stuhl zurecht. Diese lächelte etwas verlegen, nahm aber Platz.
Nach dem Essen stopfte Dr. Steward seine lange Pfeife und begann mit den beiden Offizieren ein Gespräch über die stetig steigende Zahl der Piratenangriffe auf Handelsschiffe der Krone. Gwyn hörte interessiert zu.
In den vergangenen Monaten wurde das Gespräch immer häufiger auf Piraten gelenkt. Schon bei dem Abschiedsessen in Bristol, an dem sie teilgenommen hatte, drehten sich die meisten Gespräche, die an Tisch geführt wurden, um diese 'Plage' – das war die einheitliche Bezeichnung für Piraten bei hochdekorierten Mitgliedern der Royal Navy. Doch je mehr Gwyn über Piraten erfuhr, desto interessanter fand sie deren Leben.
Schließlich zog der Arzt seine goldene Taschenuhr heraus.
„Es geht schon auf elf Uhr zu. Möchtest du dich nicht langsam zurückziehen?“
Gwyn sah überrascht auf. Sie wusste, dass die Frage ihres Onkels eher als eine Aufforderung zu sehen war. Das Mädchen sah den Arzt mit bittenden, großen Augen an, so als wolle sie ihn nur mit ihrem Blick überreden, länger zuhören zu dürfen; dabei nahm ihr Gesicht wieder sehr kindliche Züge an. Dr. Steward sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen und einem Lächeln an. Zuerst hielt Gwyn seinem, ihr vertrauten Blick, mit ihrem bettelnden stand. Dann aber gab sie nach und erhob sich.
Als der Arzt einige Zeit später die Kajüte seiner Nichte betrat, saß Gwyn gedankenversunken und immer noch vollständig bekleidet auf dem Bett und kaute an ihrer Unterlippe.
„Was beschäftigt dich, Prinzessin?“, fragte er und ließ sich neben dem Mädchen auf die Bettkante sinken. Gwyn zuckte leicht zusammen und sah den Arzt verwirrt an.
Steward lächelte: „Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken.“
„Glaubst du, Piraten sind wirklich so schrecklich? Ich meine, das, was ich über sie höre, klingt doch eher spannend. Und sicher ist ihr Leben aufregender als das eines Kapitäns der Royal Navy. Ganz zu schweigen von dem einer Frau.“
„Gwyn, denke doch nur mal an deine Eltern. Ich finde ihr Schicksal ist Beweis genug für die Grausamkeit dieser Leute. Aber vermutlich ist ihr Leben aufregender, als das normaler Bürger, denn sonst hätten sie nicht eine so große Anhängerschaft. Ich hoffe nur, du spielst nicht mit dem Gedanken, zur Piraterie überzuwechseln.“
„Ach, Onkel...“ Gwyn lachte auf. „Ich sympathisiere beim besten Willen nicht mit diesen Leuten. Ich versuche nur gerade einen möglichen Ausweg für mein offenbar bereits besiegeltes Schicksal zu finden.“
„Du solltest dir jetzt noch nicht so viele Gedanken darüber machen, Prinzessin. Erstens hast du ohnehin noch einige Jahre Zeit bis zu deiner Vermählung und außerdem kommt es doch häufig anders als erwartet. Ich sollte ja ursprünglich auch Kaufmann werden und nicht Arzt. Ich schlage vor, dass du jetzt ins Bett gehst.“
Gwyn nickte und umarmte den Arzt: „Gute Nacht, Onkel.“
Dr. Steward tätschelte ihr den Rücken. „Gute Nacht, mein Schatz.“