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Freitag, 19. Januar 2001

Ich hatte gerade meine Stiefel angezogen, um das Büro zu verlassen, da klingelte das Telefon. Die Sekretärinnen waren schon längst zu Hause. Ich überlegte kurz, ob ich den Anruf dem Anrufbeantworter überlassen sollte – vielleicht war es ja Barry –, aber dann nahm ich doch den Hörer ab.

»Rechtsanwaltskanzlei Batten, Hogue & Fairstein.«

»Angela?«

Das war Yasmin, Ninas Babysitter. Das Herz rutschte mir in die Kniekehlen. »Ist etwas passiert?«

»Nein, nein. Es ist alles in Ordnung. Nina isst einen kleinen Karottensalat und hört Musik. Ich wollte nur wissen, ob Sie mich heute Abend brauchen.«

Ich musste über mich selbst schmunzeln. »Ach so, ich wollte Ihnen ja noch Bescheid sagen, tut mir Leid. Also, ich werde wohl doch noch weggehen.«

Ich legte auf, nahm meinen Mantel und ging hinaus in die kalte Nacht. Dann klappte ich den Kofferraum meines Hondas auf und legte meine Pullover und Ninas Schlittschuhe sowie meinen Aktenkoffer hinein.

Auf der Heimfahrt über die Boston Post Road dachte ich an die Feier heute Abend. Seit Wochen quälte ich mich mit der Entscheidung herum, ob ich hingehen sollte oder nicht, und hatte sie erst jetzt auf Yasmins Frage hin getroffen.

Eigentlich wollte ich es nicht. Sarahs Tod war mir noch zu nahe. Allerdings hatte Barry seine vorübergehenden Hemmungen, mich durch ausbleibende Unterhaltszahlungen unter Druck zu setzen, bereits wieder abgelegt, jetzt, wo meine Schwester schon ganze drei Monate unter der Erde lag. Das machte mir sehr zu schaffen. Es machte ihm riesigen Spaß, die Alimente aus irgendeinem Grund zurückzuhalten, sodass ich mit meiner Visa-Karte tiefer und tiefer ins Minus stürzte. Und dann behauptete er, ich wäre nicht in der Lage, für unsere Tochter zu sorgen. Die Fells hätten sicherlich Verständnis dafür, wenn ich nicht kommen würde. Eigentlich wollte ich lieber zu Hause bei Nina bleiben.

Andererseits fühlte ich mich zu jedem Menschen und jedem Ereignis hingezogen, wo es einen Hauch von Sarah zu spüren gab, eine Verbindung, eine Erinnerung – und Sarah hatte die Vorbereitungen für den vierzigsten Hochzeitstag ihrer Schwiegereltern noch aktiv mitgestaltet. Außerdem würde auch Sean dort sein –, Sean, mit dem ich hilflos zugesehen hatte, wie Sarah ihr Leben ausgehaucht hatte. Er würde meine Unterstützung brauchen.

Nina saß auf meinem Bett, während ich meinen Schrank durchwühlte.

»Nicht schwarz«, sagte sie. »Du solltest eine schöne Farbe nehmen.«

»Aber schwarz ist sehr angesagt im Moment.«

»Siehst du dann nicht genauso aus wie all die anderen?«

Ich schaute meine Tochter an, blickte in das ernste kleine Gesicht, eingerahmt von weichen, rostroten Haaren. Es waren Sarahs Haare, die Haare unserer Mutter. Wie immer war Ninas Logik anders als die anderer Kinder in ihrem Alter.

»Manchmal fühlt man sich besser, wenn man nicht auffällt«, sagte ich und hielt ihr ein schwarzes Seidenkostüm mit einem kurzen, maßgeschneiderten Jackett hin.

»Dann zieh doch zumindest ein leuchtendes Oberteil an.« Nina rutschte über das Laken vom Bett herunter und zeigte auf ein grünes Top im Schrank.

»Damit wird mir kalt«, sagte ich, legte das Top aber auf das Bett neben das Kostüm und holte ein Jade-Armband aus meiner Schmuckschachtel.

Um an die schwarzen Pumps zu kommen, musste ich den Rucksack beiseite schieben, der an einem Haken hing.

»Wie wär’s, wollen wir morgen eine Wanderung machen?«, fragte ich. »Wir könnten zum Nature Center rausgehen. Oder am Sumpf entlanglaufen.«

Nina klatschte in die Hände. »Zum Sumpf. Ich möchte die großen Vögel beobachten und die Aale. Was machen die Schnecken, damit ihre Häuser schön glänzen?«

»Keine Ahnung.«

»Ach, komm schon, Mom, nicht aufgeben.«

»Also gut. Lackieren.«

»Nein! Hausputz.«

Das Anwesen von Bruce und Nancy Fell grenzte direkt an das Universitätsgelände. Es gab auch auf dem Gelände selbst eine Unterkunft für den Präsidenten, einen grünen Bau im Kolonialstil, den die Fells sechzehn Jahre lang bewohnt hatten. Dann hatten sie sich ein zweiundzwanzig Hektar großes Grundstück gekauft und einen darauf befindlichen, hundertsiebzig Jahre alten Bauernhof in ein geräumiges Wohnhaus umgewandelt. Das Kolonialgebäude wurde nun vom Dekan der Universität bewohnt.

Ich fuhr die lange Auffahrt entlang. Überall hing noch die Weihnachtsbeleuchtung und verlieh den immergrünen Hecken und den dichten Büschen einen goldenen Schimmer. Auf der gepflasterten, kreisrunden Fläche vor dem Haus parkten die Autos dicht an dicht, der Parkplatz neben dem Haus war überfüllt.

Ich stellte den Honda ab und ging hinein.

In einem Schlafzimmer im ersten Stock mit Blick auf den Vorplatz stand Sean Fell vor einem geteilten Fenster, das vom Boden bis zur Decke reichte, und sah den Gästen bei der Ankunft zu.

Es wurde Zeit, die Party-Identität anzunehmen. Er arbeitete daran.

Obwohl in diesen Tagen sogar das Betreten der Dusche einen gewaltigen Aufwand bedeutete.

Seine Eltern erwarteten keine Showmasterqualitäten von ihm. Sie hatten sogar davon gesprochen, die Feier zu verschieben, aber Sean hatte das abgelehnt. Es war am besten, wenn das Leben so weiterging wie bisher. Dann konnte er nebenher laufen und irgendwann wieder auf den fahrenden Zug aufspringen.

Irgendwann.

Wann würde er wohl wieder einmal eine Nacht durchschlafen? Wann würde er aufhören, jedes Mal, wenn er nachts die Augen aufschlug, Sarah als Gespenst vor sich zu sehen, dem die Knochen aus der überdehnten Haut ragten und an dem überall Schläuche und Pumpen saugten? Wann würde die kalte Wolke der Leere, die ihn umgab, sich verziehen?

Aber wie üblich, wenn er sich selbst bedauerte, dachte Sean schließlich an die anderen, die durch den Tod seiner Frau erschüttert worden waren, und er dachte an sie selbst.

Er erinnerte sich an die Löwenmäulchen, die in einem Topf mit Erde zu Hause auf ihrer Sonnenveranda standen. Sarah hatte sie unbedingt bis zum Ende des Sommers zum Blühen bringen wollen. Aber sie hatte ihre Blüte nicht mehr erlebt, und er empfand deshalb Bedauern und fühlte sich schuldig. Er dachte an ihr Mountain-Bike, das in der Garage an der Wand hing, und an die Langlaufskier, die sie nie wieder untergeschnallt hatte. Wie hatte sie geflucht, weil sie mit der Bindung nicht zurechtgekommen war …! Wüste Schimpfwörter waren da aus ihrem ernsten Mund gedrungen. Er dachte an das Boot, das ihm immer noch gehörte, das er aber wohl nie wieder benutzen würde. Ein schwimmendes Bauernhaus hatte Sarah es einmal genannt.

Er dachte daran, wie sie mit Angela zusammen draußen im Tulpengarten Earl-Grey-Tee getrunken hatte, wie die beiden drauflosgeplappert und ständig das Thema gewechselt hatten, ohne dass er die Übergänge überhaupt mitbekommen hätte, als orientierten sie sich an einer Art unsichtbaren Landkarte, die vor ihnen auf dem Rasen lag.

In diesem Augenblick, als hätte er ihre Ankunft damit beschworen, kam Angela die Auffahrt entlanggefahren. Sean beugte sich vor und sah zu, wie sie einparkte und zur Haustür ging. Der Boden war frei von Schnee und Eis, aber trotzdem setzte sie ihre Schritte vorsichtig.

Wir alle fühlen uns jetzt verwundbar, dachte Sean.

Aber ihr neuer Status ließ sich dennoch bereits an ihrer Haltung ablesen, ein freudiger Stolz, den sie zeigte, seitdem sie erfahren hatte, dass die Sozietät sie am 1. Mai zur Teilhaberin machen wollte.

Bravo, Angela. Du hast es dir verdient.

Sie ging die breite Steintreppe hinauf, verschwand aus seinem Blickfeld, und er wandte sich zum Hinuntergehen um.

Während ich meinen Mantel auszog und ihn einem wartenden Hausangestellten reichte, lauschte ich automatisch nach der Stimme meiner Schwester, nach ihrem lauten Lachen. Dieses Haus wirkte noch immer wie ein Auslöser. Mein Unterbewusstsein hatte ihren Tod noch nicht akzeptiert. Ich konnte keinen Ort betreten, den ich mit Sarah in Verbindung brachte, ohne dass das geschah. Wie ein Hund, der einem bestimmten Geruch nachjagt, schaltete mein Gehirn auf Suche nach Beute, nach Bestätigung, nach der Person, auf die alle Erwartung gerichtet war.

»Gratulation«, sagte Bruce hinter mir. Ich drehte mich um und erwiderte seine Umarmung. »Wann genau wird denn nun gefeiert?«

»Am 1. Mai.«

»Wunderbar.«

»Die erste Rechtsanwältin in der Familie, und schon mit sechsunddreißig Teilhaberin«, sagte Nancy. »Das ist wirklich ein Anlass, noch eine Party zu schmeißen.«

Ich küsste sie. »Danke, dass du mich zur Familie rechnest.«

»Natürlich gehörst du zur Familie. Sarah hat uns sehr viel bedeutet, genau wie du und Nina. Wie geht’s denn der Kleinen? Ist sie stolz auf dich? Versteht sie schon, was das für dich bedeutet?«

Bruce sagte: »Aber natürlich versteht sie das.«

»Das ist sehr hübsch.« Nancy berührte mein Top.

»Nina hat darauf bestanden. Das ewige Schwarz hängt ihr langsam zum Hals heraus.«

»Da geht es uns nicht anders. Und Sarah würde das ganz genauso sehen.«

Ich bemerkte, wie Bruce mir einen schnellen Blick zuwarf, um sicherzugehen, dass ich Nancys Bemerkung nicht als Kritik auffasste. Der umsichtige und rücksichtsvolle Bruce – immer zum Plaudern aufgelegt, wilde Mähne, und auf seinen langen Beinen fröhlich grinsend auf dem Campus unterwegs – war nicht ohne Grund zum Leiter einer bedeutenden Universität berufen worden. Man konnte es bei seinem Auftreten manchmal völlig vergessen.

»Sean«, rief Nancy, als er die Treppe herunterkam. »Wir sind gerade dabei, Angela zu gratulieren.«

Sean nickte. »Sie ist wirklich einsame Spitze.«

»Na ja«, sagte ich, »eigentlich bin ich heute Abend hergekommen, um euch beiden zu gratulieren. Vierzig Jahre Ehe, das ist ein Anlass zum Feiern.«

»Danke, Schätzchen«, sagte Nancy. »Hast du schon gehört, was uns Sean geschenkt hat?«

»Nein.«

Sie lächelte. »Eine Reise nach Japan.«

»Sean!«, sagte ich. »Das ist ja eine wundervolle Idee.«

Sean meinte achselzuckend: »Einen Toaster haben sie ja schon.«

»Wann fliegt ihr?«

»Im Juni«, antwortete Nancy. »Bruce überlegt schon, wie er bis zu unserer Abreise fließend japanisch lernen kann.«

»So, wie ich ihn einschätze, ist er bis dahin schon Japanischlehrer.«

Sean hörte diesem Geplänkel abwesend zu und ließ seinen Blick durch die beiden Zimmer streifen, die er von ihrem Standort im Foyer aus sehen konnte. Das Foyer selbst war größer als ein durchschnittliches Wohnzimmer in einem durchschnittlichen Haus der gehobenen Mittelklasse. Seine Eltern genossen die Geräumigkeit, um die Teppiche und Kunstgegenstände, die sie im Laufe vieler Jahre gesammelt hatten, zur Schau stellen zu können, und es freute ihn, dass er seinen Teil dazu beigetragen hatte.

Es waren etwa sechzig Gäste. Sean fragte sich, wie viele ihn wohl auf seine Trauer ansprechen würden.

Diese Aussicht löste in ihm schlagartig einen Erschöpfungszustand aus. Er bemühte sich, dieses Gefühl zurückzudrängen, zu verbergen. Falls er das nicht schaffte, würde man ihm nur noch mehr besorgte Anteilnahme entgegenbringen.

Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder Angela zu, die immer noch mit seinen Eltern plauderte. Seine lebenslange Erfahrung sagte ihm, dass sein Vater das Gespräch so langsam zu Ende bringen und die anderen Gäste begrüßen wollte, aber seine Mutter konnte Angela noch nicht loslassen.

Seine Schwägerin wirkte noch ein wenig schlanker, ihre grünlichen Augen noch ein bisschen dominanter als sonst. Das konnte auch an der schwarzen Kleidung liegen und an der neuen, luftigeren Frisur. Vielleicht machte das volle, dunkle Haar ihr Gesicht schmaler. Aber jemand musste auf sie Acht geben, und es schien, dass diese Aufgabe – in Ermangelung anderer – ihm zufiel. Ihre Mutter war tot und ihr Vater so gut wie. Ihre Tochter war zu jung, und ihr Ehemann, von dem sie getrennt lebte, war ein nutzloses, cholerisches Ekel. Sicher hatte sie auch gute Freundinnen, aber keine, die erst kürzlich einen solchen Todesfall mitgemacht hatte. Außerdem konnte Angela nicht um Hilfe bitten. Sie war immer diejenige, die selbst Unterstützung gab.

In einem abgelegenen Winkel seines Gefühlslebens war Angela auch noch auf andere Weise gegenwärtig. Es war schon Jahre her, aber er konnte noch immer den Geschmack ihrer Lippen spüren und weiche Knie bekommen, wenn er sie gehen sah.

Das Leben war voller Beinahe-Erlebnisse …

Er wollte warten, bis seine Mutter sich verausgabt hatte, um Angela anschließend beiseite zu nehmen und ein echtes Gespräch mit ihr zu führen. Aber da kam Jim herein, nach allen Seiten grüßend. Seine Wangen waren gerötet, und das vermutlich nicht nur wegen der Kälte.

Ich bemerkte eine Veränderung der Gesprächsatmosphäre. Sean und Nancy schauten an mir vorbei. Ich drehte mich um und sah Jim auf uns zukommen.

Er war ein wenig kleiner als Sean und trug einige überflüssige Pfunde mit sich herum. Die kurz geschnittenen, kräftigen Haare saßen perfekt. Für seine achtunddreißig Jahre waren sie schon ziemlich silberig, aber er hatte ein jungenhaftes Gesicht.

Er umarmte alle, gratulierte Nancy und fragte nach seinem Vater.

»Er begrüßt die Gäste«, sagte Nancy. »Danke für die Rosen, die du geschickt hast. Sie sind wirklich außergewöhnlich schön. Wir haben sie zur Dekoration der Tische genommen.«

»Ich habe die Neuigkeiten schon gehört«, sagte Jim zu mir, den Arm immer noch um die Schultern seiner Mutter gelegt. »Du musst ja im siebten Himmel sein.«

»Ich bin hin und weg.«

»Hat Sarah noch rechtzeitig davon erfahren?«, fragte Nancy.

Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe es selbst erst am 1. Januar gesagt bekommen. Aber weißt du was? Genau das war mein erster Gedanke. Ich hatte keinen sehnlicheren Wunsch, als es ihr zu erzählen. Eigentlich bin ich mit guten oder schlechten Neuigkeiten immer sofort zu meiner Schwester gelaufen. Ich hätte sie so gerne angerufen.« Tränen schossen mir in die Augen. Nancy befreite sich aus Jims Umarmung und kam zu mir, um mir die Hand zu drücken.

»Es tut mir Leid«, sagte ich. »Nicht gerade das richtige Thema für eine Feier.«

Gegessen wurde neben dem Swimming-Pool, an Vierertischen, die beide Seiten des lang gestreckten Rechtecks säumten. Drei Musikstudenten mit schwarzen Krawatten hatten ein Kammertrio gebildet. Normalerweise arrangierten Bruce und Nancy die Sitzordnung so, dass die Verwandten mit den anderen Gästen gemischt wurden, aber heute Abend fand ich mich an einem Tisch mit Sean, Jim und Bruces taubstummer Tante Maeve wieder.

Danke, Nancy, dachte ich und aß schweigend meinen Schwertfisch. Meave hielt es genauso, während Sean und Jim – noch etwas angespannter als sonst – über ihre Hochzeitstagsgeschenke sprachen.

»Ich habe ihnen die Reise in unser beider Namen geschenkt«, sagte Sean.

»So was Bescheuertes.«

»Mein Gott, Jim, es ist ein Geschenk. Diese Feier hier ist ein fröhliches Ereignis. Hör auf, so ein finsteres Gesicht zu machen. Lass es einfach.«

»Sie wissen doch ganz genau, dass du es bezahlt hast. Was glaubst du eigentlich, wie ich mich dabei fühle? Als würdest du dem Ober heimlich ein Trinkgeld zustecken, nachdem ich die Rechnung bezahlt habe.«

»Das war vor fünf Jahren, und ich habe mich dafür entschuldigt …«

»Aber du denkst immer noch, du musst mir hinterherlaufen und mir den Hintern abwischen!«

Ich sagte: »Ihr werdet ein bisschen zu laut.«

Für einen kurzen Augenblick herrschte gespannte Stille. Jim warf sich gegen die Rückenlehne seines Stuhls, setzte sich dann wieder gerade hin und wandte sich erneut an Sean.

»Zufällig bin ich ein erwachsener, berufstätiger Mann. Eine Tatsache, die du offensichtlich völlig aus dem Blick verloren hast.«

»Habe ich nicht. Ich respektiere deine…«

»Nichts respektierst du!« Jim wedelte mit der Hand vor Seans Gesicht herum. »Du hast mich doch nicht wegen meiner Fähigkeiten eingestellt. Das ist doch wirklich nichts anderes als wieder so eine Barmherzigkeitsscheiße! Steck Jim in einen netten Anzug und lass ihn in einem deiner Restaurants den Grußonkel machen! Hilf Mom und Dad, ihr Gesicht zu wahren! Glaubst du wirklich, die anderen merken nicht, dass mein Job nichts weiter ist als ein Gnadenbrot? Aber, weißt du was? Ich bin viel besser in dem Job, als du denkst. Ich ziehe da mein eigenes Ding durch. Und du hast nicht den leisesten gottverdammten Schimmer!«

Die Worte waren jetzt trotz der Musik auch an den anderen Tischen zu verstehen. Die Umsitzenden drehten sich schon zu ihnen um.

Ich sagte: »Dieser Abend gehört euren Eltern. Hört sofort auf damit!«

Sean meinte: »Das ist nicht der richtige Zeitpunkt…«

Jim, immer noch mit hochrotem Gesicht, wollte gerade etwas sagen, als das Trio mit dem »Hochzeitstagswalzer« begann und eine Torte herausgefahren wurde.

Ich flüchtete auf die Toilette und ließ mir Zeit. Ich massierte mir den Nacken.

Alle waren bis aufs Äußerste angespannt. Ich überlegte, wann ich wohl gehen konnte. Das Essen war zu Ende. Partys im Hause der Fells dauerten für gewöhnlich länger, aber sie würden nicht von mir erwarten, dass ich blieb.

Andererseits… es war ihr Hochzeitstag.

Ich beschloss, noch fünfzehn Minuten dranzuhängen. Dann würde ich nach Hause gehen, Yasmin erlösen, auf dem Fernseher im Schlafzimmer den Disney-Kanal einschalten und Nina mit zu mir unter die Decke nehmen. Sie würde bald einschlafen. Ich kurz darauf auch.

Manchmal war das die einzige Möglichkeit, wie ich überhaupt einschlafen konnte.

Ich machte mich auf den Weg zurück zum Schwimmbad, um mich bald zu verabschieden. Meine Absätze klapperten über den auf Hochglanz polierten Fußboden. Dann erfasste mich der leichte Chlorgeruch zusammen mit einem Song von Peter Gabriel, dessen Titel mir gerade nicht einfallen wollte.

Jemand berührte meine Haare, und ich schnellte herum.

Ich wusste, wie es sich anfühlte, kurz bevor mein Magen von Säure überschwemmt wurde, und mir wurde schlecht.

Ohne jede Schuld / Vor aller Augen

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