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Dezember 1989 bis Juni 1991

Anlässlich meines Jura-Examens im Dezember hatte ich mir Langlaufskier gekauft – ein Sonderangebot nach Weihnachten, einhundertneunzehn Dollar für Skier, Stöcke, Bindungen und Stiefel. Es lag kein Schnee und es war auch keiner vorhergesagt, aber als ich am Morgen nach meinem Einkauf aufwachte, war draußen alles weiß.

Ich war sofort in den blaugrünen Ski-Anzug gestiegen, den Sarah mir geschenkt hatte, und ins Ward-Pound-Ridge-Reservat gefahren. Der Verkäufer in Herman’s Sport Shop hatte gesagt, dort gäbe es jede Menge Platz zum Lernen und Üben und außerdem viele andere Leute.

Er hatte Recht gehabt. Um die Mittagszeit hatte ich gelernt, wie ich mich abstoßen musste, um in Schwung zu kommen, und wann ich die Knie beugen musste. Der Stockeinsatz ging allmählich automatisch.

Ich freute mich über die schnellen Fortschritte, und als ich hungrig wurde, wollte ich nicht schon nach Hause fahren. Also setzte ich mich ins Auto, um irgendwo etwas zu essen zu besorgen und dann zurückzukommen.

In dem Städtchen Cross River entdeckte ich einen Markt mit einem Imbissstand. Ich erstand ein Sandwich mit Hühnchensalat und einen Grapefruitsaft und machte mich auf den Weg zurück in den Naturpark.

Nur noch zwei Straßen davon entfernt bog ich um eine vereiste Kurve. Eigentlich hatte es nur feucht ausgesehen, aber ich rutschte sofort seitlich weg. Aus der Gegenrichtung kam mir ein Saab entgegen, der die Kurve geschnitten hatte. Der Fahrer trat auf die Bremse, aber er war bereits auf meiner Spur und krachte breitseits in meinen Toyota.

Der laute Knall setzte mich so unter Schock, dass ich mich eine Minute lang nicht rührte.

Der Fahrer des Saab riss meine Tür auf.

»Ich glaube, ich bin nicht verletzt«, sagte ich, noch bevor er fragen konnte. »Und Sie?«

»Alles in Ordnung. Mein Gott, ich habe die Fahrertür nur knapp verfehlt. Die Beule ist direkt dahinter. Bleiben Sie ruhig sitzen. Ich untersuche Sie. Ich bin Arzt. Haben Sie sich den Kopf gestoßen?«

Er war um die dreißig, groß und drahtig, mit olivenfarbener Haut und hellgrauen Augen, die ständig in Bewegung waren, während er meinen Kopf und Hals untersuchte. Auf seinem Nummernschild standen die Buchstaben BCC MD. In dem Skiträger auf dem Dach seines Wagens steckte ein Paar Skier.

»Tut es Ihnen irgendwo weh?«

»Nein. Ich glaube, es ist alles in Ordnung.«

»Das glaube ich auch.« Er trat zurück. »So ein Riesenpech. Beide Autos verbeult.« Er streckte mir die Hand hin. »Barry Carnow.«

Ich schlug ein. »Angela Diamond. Sind Sie Allgemeinmediziner?«

»Facharzt für Magen-Darm-Erkrankungen.«

Andere Autos drängten sich vorsichtig an uns vorbei. Er sagte: »Wir sollten uns lieber verziehen, bevor uns noch jemand rammt. Bis auf den Blechschaden ist Ihrem Auto wohl nichts passiert. Waren Sie auf dem Weg zum Ward Pound Ridge?«

»Ja. Ich war heute Morgen schon zum Skifahren dort und habe nur etwas gegessen.«

»Das hatte ich gerade vor.«

Ich hielt ihm meine Tüte entgegen. »Wir könnten uns mein Sandwich teilen. Es ist riesig. Danach kümmern wir uns um die Schadensregulierung.«

Er fuhr mir nach. Die Sonne war herausgekommen, und wir parkten an einer freigeräumten Stelle mit einigen schmelzenden Schneeresten. Wir aßen in seinem Wagen, mit heruntergelassenen Fenstern.

Als wir fertig waren, holte ich meinen Geldbeutel hervor.

»Ich glaube, das können wir lassen«, sagte Barry. »Wir haben ungefähr den gleichen Schaden, sodass es sich nicht lohnt, es zu melden.«

»Aber Sie waren auf meiner Straßenseite. Sie haben die doppelte Linie überfahren«, sagte ich.

»Ich konnte nichts dafür. Ich bin gerutscht.«

»Erst, als Sie schon darüber weg waren. Die Straße war nur auf meiner Fahrspur vereist. Gut fünfzig Zentimeter vor der Linie hat das Eis aufgehört. Wir können gerne noch einmal zurückfahren, dann zeige ich es Ihnen.«

Er schaute mich an. Seine Augen glänzten silbrig im Sonnenlicht. »Sie meinen das wirklich ernst, nicht wahr?«

»Ja. Ich habe einen Schaden von sechs-, siebenhundert Dollar. Mein Auto ist sechs Jahre alt, ich habe also keine Unfallversicherung mehr. Ich finde, Sie sollten den Schaden begleichen.«

Er blickte mich noch eine Minute länger an. »Sie sind aber nicht zufällig Rechtsanwältin?«

»Doch. Das bin ich.«

Er runzelte die Stirn. »Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?«

Ich hatte gerade erst mein Examen gemacht. Ich hatte noch nie zuvor Gelegenheit gehabt, es zu sagen.

»Ich hab nicht daran gedacht.«

Mom war gestorben, als ich noch ein Teenager war, Dad war im Pflegeheim, und für meine jüngere Schwester war ich wichtig als Orientierung. Ich war immer gezwungen gewesen, stark zu sein. Ich hatte gar nicht gewagt, meine andere Seite zuzulassen, die Seite, die sich nach einer Atempause sehnte.

Aber jetzt, da Barry in mein Leben getreten war, konnte ich loslassen.

Je länger unsere Beziehung andauerte, desto mehr stellte ich fest, dass Barrys positiven Seiten – seinem dynamischen Enthusiasmus, seiner Intelligenz, der Energie, die er bei der Arbeit und in der Freizeit an den Tag legte – einige Eigenschaften gegenüberstanden, die ich von Anfang an in Andeutungen wahrgenommen hatte: eine Tendenz, zu viel zu bestimmen, zu viel zu organisieren und zu heftig zu reagieren.

»Wir sollten heiraten«, sagte er unvermittelt, als wir an Thanksgiving von einem Abendessen bei seinen Eltern in Larchmont wieder nach Hause fuhren.

Ich schnellte herum. »Heiraten?« »Ja, genau. Du weißt doch, diese Zeremonie mit den Ringen und den Eisskulpturen?«

Mein Herz hämmerte. »Ich bin sprachlos, Barry.«

»Und? Willst du? Wir sind doch sowieso die ganze Zeit zusammen. Wir wollen beide Kinder haben. Sag bloß nicht, dass du noch nie daran gedacht hast.«

Ich lächelte. »Schon, aber da war ich noch ein kleines Mädchen.«

»Das nehme ich dir nicht ab.«

Mein Lächeln wurde breiter. Ich zuckte mit den Schultern. »Also gut, ich habe daran gedacht.«

»Und?« Die Frage hatte sehr viel mehr Bedeutung, als sein beiläufiger Ton es erahnen ließ.

»Und… es ist ein schöner Gedanke. Ich wäre sehr gerne mit dir zusammen. Und ich hätte sehr gerne ein Kind mit dir.«

Er fuhr auf den Seitenstreifen des Interstate 287 und nahm mich in die Arme. »Ein kleines Mädchen«, sagte er. Dann zog er meinen Kopf an seine Schulter und sagte: »Ich kann es kaum erwarten.«

Pat, Barrys Mutter, wollte es sich nicht nehmen lassen, die Hochzeit vorzubereiten. Wenn ich meine eigenen Vorstellungen zu Gehör bringen wollte, dann musste ich mich mit aller Macht gegen ihre und Barrys diktatorische Art durchsetzen. Manchmal hätte ich sie am liebsten beide geknebelt. Aber die Tatsache, dass ich kaum mitbestimmen konnte, brachte auch völlig neuartige Annehmlichkeiten mit sich.

Zu meiner großen Überraschung gelang es Pat, den Harbor Point Club für den Hochzeitsempfang zu buchen, obwohl die herrlich am Ufer gelegene Einrichtung für gewöhnlich auf zwei Jahre ausgebucht war.

Als ich mit Barry darüber sprach, lächelte er.

»Da hast du deine Finger im Spiel gehabt«, sagte ich.

»Vielleicht.

»Sag schon.«

»Ich habe zufällig eine Reservierungsliste des Clubs in die Hände bekommen. Einer meiner ehemaligen Patienten hatte ihn für die Hochzeit seiner Tochter gebucht, und das an einem Samstagabend, der für uns genau richtig lag. Ich habe ihn schon vor einer ganzen Weile operiert. Er war mir sehr dankbar und außerdem bemerkenswert großmütig, indem er die Hochzeit seiner Tochter an einen anderen Ort verlegt hat.«

Ich schnappte nach Luft. »Nein. Das finde ich nicht gut.«

»Du machst wohl Witze.«

»Du machst hier die Witze! Wie sollen wir Freude an unserer Hochzeitsfeier haben, wenn wir dafür gleichzeitig die eines anderen Menschen verdorben haben?«

»Wir haben sie nicht verdorben! Sie waren damit einverstanden.«

Ich schüttelte den Kopf.

Barry sagte: »Ich habe eine ganze Menge Unannehmlichkeiten auf mich genommen …«

»Das spielt keine Rolle. Du tauschst wieder zurück. Wir nehmen den Saal, den die anderen gefunden haben.«

Die Gewissheit der Schwangerschaft überrollte mich mit einer Woge der Freude, stark und mächtig wie ein körperlicher Überfall.

Es war vier Tage vor der Hochzeit. Ich befand mich im Schlafzimmer meiner Wohnung und packte für unsere Hochzeitsreise nach London. Mein Job bei Batten, Hogue & Fairstein mit den hübschen, regelmäßigen Gehaltsschecks war gerade acht Monate alt. Der Großteil meiner Einkünfte wurde von den Ratenzahlungen für meinen alten Kredit und von meinem Kreditkartenkonto aufgefressen. Aber ein klein wenig hatte ich mir als Aussteuer aufgespart. An den Kleidungsstücken, die ich gerade zusammenfaltete, hingen immer noch die Etiketten.

Ich griff nach dem Schminkkoffer, den mir Barrys Schwester Mickey geschenkt hatte, und begann ihn voll zu packen: Shampoo, Conditioner, Hautlotion, Sonnencreme, Tampons.

Plötzlich hielt ich inne. Meine Hand steckte immer noch im Koffer und hielt die Tampons umklammert.

Ich ließ den Koffer auf das Bett fallen, sodass der Inhalt sich über die ganze Decke ergoss, und stürzte quer durch das Zimmer zu meiner Handtasche. Aufgeregt suchte ich nach meinem Terminkalender, handelte, ohne nachzudenken, weil mein Kopf bereits zwei und zwei addiert hatte.

Diese immer wiederkehrende Übelkeit… Schwindelgefühle … überempfindliche Brustwarzen … Ja. Meine Periode war eigentlich schon vor elf Tagen fällig gewesen. Noch nie im Leben hatte ich sie später als zwei Tage nach dem Termin bekommen.

Ich spürte die Erregung in mir aufsteigen, ließ mich mit dem Rücken auf das Bett fallen und begann laut zu lachen. Dann befühlte ich meinen Bauch und streichelte ihn, so wie ich es auch mit meinem kleinen Mädchen machen würde, wenn es angekommen war.

Es sah Barry ähnlich, dass er entschieden hatte, welches Geschlecht das Kind haben sollte. Ich wusste, dass das Baby ein Mädchen war. Etwas anderes würde es nicht wagen.

»Oh Angela. Liebste.« Sarah umarmte mich.

»Es war ein Unfall«, sagte ich, »aber was soll’s? Wir hätten sowieso bald angefangen, es zu probieren.«

»Wie fühlt es sich denn an? Ist dir schlecht?«

»Ein bisschen. Eher so eine Art angenehmes Schwindelgefühl. Es erwischt mich immer wieder mal und erinnert mich daran.«

Sarah schaltete den pfeifenden Wasserkessel aus. »Seit wann weißt du es?«

»Gestern ist es mir klar geworden. Heute Morgen habe ich zur Sicherheit noch einen Schwangerschaftstest gemacht. Barry weiß es noch nicht. Wenn ich es aushalte, dann sage ich es ihm erst, wenn wir in London sind.«

»Grauenhaft romantisch.«

Wir lachten. Sarah schenkte uns Tee ein. Eine Minute später sagte sie: »Ich wünschte, wir könnten es Mom erzählen.«

»Ich weiß.«

»Wird Barrys Mutter sich darüber freuen?«

»Sie gibt wahrscheinlich eine Presseerklärung heraus.«

»Ruf mich von London aus an«, sagte Sarah. »Ruf mich an, sobald du es ihm gesagt hast.«

Je länger ich das Geheimnis für mich behielt, desto größer wurde meine Freude. Ich fühlte mich, als hätte ich ein Geschenk für Barry, und wartete auf den einen, den richtigen Augenblick, um es ihm zu überreichen.

Immer wieder übte ich die Formulierungen, stellte mir unterschiedliche Orte vor, wo ich ihm die Neuigkeit offenbaren würde. Eines Tages würden wir unserer Tochter erzählen, wie wir auf der Treppe des Britischen Museums oder vor dem Buckingham-Palast zum ersten Mal über ihre bevorstehende Geburt gesprochen hatten.

An unserem zweiten Abend in der Stadt besuchten wir einen Nachtclub. Wir bekamen einen Tisch, aber der gefiel Barry nicht.

»Näher an der Bühne«, sagte er zu der Empfangsdame und steckte ihr ein paar gefaltete Geldscheine zu.

Die Frau schüttelte den Kopf. »Das ist nicht möglich, Sir.« Genauso unauffällig gab sie ihm die Scheine wieder zurück.

»Aber dort stehen doch noch zwei freie Tische.«

»Die sind reserviert.«

Barry sagte: »Ich möchte den Geschäftsführer sprechen.«

Sie ging weg und kam mit einem Mann im Anzug wieder. Sein Auftreten deutete darauf hin, dass es ihn gleichgültig ließ, von anmaßenden ausländischen Gästen belästigt zu werden.

Barry hielt ihm fünfzig Pfund hin, nicht ohne sich zu vergewissern, dass der Geschäftsführer und die Empfangsdame die Geldscheine sehen konnten. »Ich möchte einen dieser beiden Tische da vorne haben.«

Der Geschäftsführer warf einen Blick auf das Geld. Seine Hände blieben weiter in den Hosentaschen stecken. »Ausgeschlossen.«

In diesem Augenblick geschah etwas mit Barry. Ich sah sein Gesicht und seinen Hals fast violett anlaufen.

»Ich werde dafür sorgen, dass Sie beide gefeuert werden«, sagte er. Er schnappte meine Hand und zerrte mich hinter sich her zum Lokal hinaus.

Draußen angelangt, zog ich meine Hand zurück.

»Bleib lieber in meiner Nähe, wenn du nicht alleine zurückbleiben willst«, sagte Barry und hetzte den Bürgersteig entlang. Er entdeckte ein freies Taxi und winkte.

Mit pulsierendem Magen fuhr ich mit ihm ins Hotel zurück. Jedes Mal, wenn ich etwas sagen wollte, schnitt er mir das Wort ab. Als er schließlich am Telefon hing und versuchte, mit Hilfe seiner Beziehungen herauszufinden, wer der Besitzer des Nachtclubs war, konnte ich ihn zwingen, mir zuzuhören.

»Ich verstehe dich nicht. Ich erkenne dich gar nicht wieder«, sagte ich. Meine Hände waren schweißnass angesichts einer schrecklichen Erkenntnis, für die ich noch keine Worte hatte. »Du kannst doch nicht erwarten, dass alle Welt sich nach deinen Launen richtet. Du kannst doch nicht einfach irgendwelche Leute feuern lassen.«

»Doch, das kann ich«, sagte er. Sein Blick war aus Stein.

»Das ist doch verrückt!«

Meinem Magen ging es jetzt noch schlechter. Ich ließ mich in einen großen, gepolsterten Sessel sinken, in dem der Geruch von fünfzig Jahren Tourismus hing. Barry kam näher und beugte sich über mich.

»Nur, damit das klar ist, Angela. Inkompetenz ist inakzeptabel. Diese Leute dürfen nicht in einem Bereich arbeiten, wo sie mit Menschen zu tun haben. Ich kann durchaus dafür sorgen, dass Leute entlassen werden. Das habe ich immer wieder mal gemacht.«

»Wann denn?«

»Ach, schon oft. Eine Röntgenassistentin, die meiner Mutter bei einer Mammographie Unannehmlichkeiten bereitet hat, einen unhöflichen Limousinenfahrer …«

Er redete weiter, aber der Klang seiner Worte wurde leiser und leiser. An ihrer Stelle konnte ich meine eigene Stimme vernehmen, die mir sagte, was ich schon vor langer Zeit hätte hören sollen.

Ohne jede Schuld / Vor aller Augen

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