Читать книгу Ohne jede Schuld / Vor aller Augen - Molly Katz - Страница 20
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ОглавлениеSamstag, 20. Januar 2001
Als Sean mich früh am Morgen angerufen hatte, um mir zu sagen, dass Jim tot war, da hatte er mich nicht aufgeweckt, weil ich gar nicht im Bett gewesen war. Ich hatte die letzten acht Stunden damit verbracht, immer wieder aufs Neue zu durchleben, wie ich den Bruder meines eigenen Schwagers umgebracht hatte.
Zu sehen, wie sein Lächeln einstürzte, als ich ihm den Stein an die Schläfe schlug. Den dumpfen Aufprall zu hören, den ich gleichzeitig als Geräusch und als Explosion in meinem eigenen Körper wahrgenommen hatte.
Und als er zusammengekrümmt vor mir auf dem Boden lag, war mein ganzer Hass verschwunden, weil sich auch das Gift aus seinem toten Körper verflüchtigt hatte.
Und ich dachte: Jetzt hast du selbst etwas viel Schlimmeres getan als er jemals zuvor. Er hat dich immerhin nicht umgebracht.
Ich saß am Küchentisch und weinte, die Hände vors Gesicht geschlagen, schluckte jedes Geräusch hinunter.
Eine Weile später hörte ich auf damit und saß wie betäubt in der gräulichen Dunkelheit. Schon vor Stunden hatte ich Kaffee gemacht. Jetzt war er in der Tasse kalt geworden, eine Milchschicht schwamm auf der Oberfläche, aber ich hatte nicht die Kraft, ihn aufzuwärmen oder neuen zu kochen.
Der Tag, an dem Sarah gestorben war, war ein sadistisch schöner Sonnentag gewesen. Ihre Strahlen hatten Seans Küche erfüllt, als wir dort nach unserem letzten Besuch im Krankenhaus zusammengebrochen waren, die Chianti-Flasche auf dem Tisch.
Damals hatte Sean gesagt: »Ich hatte eigentlich gedacht, dass ich neben all dem Schmerz über ihren Verlust auch ein klein wenig erleichtert sein würde, wenn es vorbei ist. Aber das stimmt nicht. Es tut einfach nur schrecklich weh.«
Ich musste husten wie bei einer Grippe. Mein gesamter Körper schmerzte und brannte, als wäre ein Teil davon abgetrennt worden. »Kannst du dir das vorstellen? Ich starre fortwährend auf das Telefon und warte darauf, dass sie anruft.«
»Ja.«
»Als meine Mutter gestorben ist, ging mir das auch so«, sagte ich. »Normalerweise hat sie uns vom Krankenhaus aus dreimal am Tag angerufen. Und dann plötzlich nicht mehr, weil sie gestorben war. Sarah und ich haben das einfach nicht verkraftet. Ich bin nachts manchmal aufgestanden und habe den Hörer abgenommen, und dann war da nur dieses Tuten. Dann bin ich wieder eingeschlafen und habe weitergeträumt und gedacht, dass ich beim nächsten Mal schneller sein muss, damit sie nicht wieder auflegt.«
Ich hatte heftig geweint, und Sean hatte meine Hand genommen.
An diesem Morgen fiel kein Sonnenstrahl in die Küche, und ich spürte schon die Anzeichen des grausamen Schreckens, den dieser Tag für mich bereithalten würde. Aber nun kam noch die Schuld hinzu, so viel Schuld, und sie verwandelte den Schrecken in scharfe Klingen, die mich in Stücke schnitten. Wegen mir musste Sean alles das noch einmal durchmachen. Wegen meiner Tat standen Nancy und Bruce dem Unfassbaren gegenüber. Jims Tod war meine Schuld, meine, allein meine unverzeihliche, unaussprechliche Tat.
Nina hatte sich so unter ihre Decke gekuschelt, dass nur noch die Augenpartie hervorsah.
Ich flüsterte ihr zu, sie solle aufwachen, und berührte mit nassen Fingern ihre Stirn.
Ich sah zu, wie meine Tochter langsam zu sich kam, und versuchte, meine zitternden Lippen im Zaum zu halten, damit sie sich nicht zu Tode erschreckte.
Als hätte ich Nina nicht ohnehin schon in eine Situation gebracht, wo überall in Gegenwart und Zukunft das Entsetzen lauerte.
Zuerst einmal der Verlust eines weiteren Verwandten, und als Nächstes drohte der schmerzlichste Verlust von allen, falls die Mörderin gefunden wurde.
Ninas Tante gestorben, der Onkel tot und die Mutter wegen Mordes im Gefängnis.
»Schon Zeit zum Wandern?«, murmelte Nina. »So früh?«
»Nein, Süße. Es ist etwas passiert. Ich muss noch einmal zu Grandma Nancy. Yasmin kommt her und passt auf dich auf.«
Nina setzte sich auf. »Was ist passiert?«
Ich hätte nie gedacht, dass ich ihr so schnell wieder eine solche Nachricht überbringen müsste, und das auch noch in Form einer Lüge.
»Onkel Jim ist verletzt. Sehr schwer verletzt.«
»Onkel Jim?« Sie rieb sich die Augen. »Nicht Onkel Jim!«
»Süße, er… er ist tot.«
Nina schrie auf und kroch zurück unter die Decke. Ich hörte sie weinen und streichelte ihr durch die Decke hindurch den Rücken. Auch meine Tränen kamen wieder, und ich wandte mich ab, um gegen die wiederkehrende atemlose Hysterie anzukämpfen, die mich bis vor Minuten im Griff gehabt hatte.
Ich konnte Nina jetzt unmöglich alleine lassen. Aber ich hatte keine Wahl. Ich musste zu den Fells, musste meine Lügen erzählen, alleine.
Ich konnte sie nicht mitnehmen, ausgeschlossen. Dort würde das Chaos herrschen – Sean und seine Eltern am Boden zerstört, der Tatort, Polizei, Presse. Und da Mom und Sarah nicht mehr lebten, war Dad als einziger direkter Verwandter übrig geblieben. Ich konnte niemanden anrufen außer Yasmin.
Zumindest stand Nina ihr sehr nahe, hatte sie gerne und vertraute ihr. Die ernste, intelligente, junge Studentin hatte ein feines Gespür und eine ruhige Hand für meine Tochter.
Früher hatte Sarah mir Nina abgenommen, wenn es einmal eng wurde. Ich war sehr froh über diese Unterstützung gewesen. Die Gewissheit, dass sie Nina genauso behandelte wie ich selbst, war für mich von unschätzbarem Wert.
Ich half Nina beim Anziehen und Waschen, wollte sie – erfolglos – dazu bewegen, etwas zu essen, und zwang mich dazu, wenigstens halbwegs zu funktionieren.
Wie kannst du für Nina da sein, wenn du selber drohst durchzudrehen?
Diese Frage hatte Barry mir in den Wochen nach Sarahs Tod wiederholt gestellt. Er hatte mich absichtlich an meiner empfindlichsten Stelle gepackt, und das würde er jetzt wieder tun. Er wollte das Sorgerecht. Seine Familie wollte, dass er es bekam. Es waren miserable Großeltern, aber sie führten den Kampf immer weiter, und sie hatten das nötige Kleingeld dazu.
Es spielte keine Rolle, welche Qualitäten Yasmin hatte. Allein die Tatsache, dass ich ihr Nina anvertraute, würde Barry gegen mich verwenden. Diese Gewissheit überfiel mich jedes Mal, wenn ich Yasmin anrief – oder sonst etwas machte, was Barry aus dem Zusammenhang reißen und für seine Zwecke missbrauchen konnte.
Wie sollte ich jemals wieder in der Lage sein, meine Tochter zu beschützen?
Zum zweiten Mal innerhalb von vierzehn Stunden beobachtete Sean durch ein Fenster hindurch, wie Angela am Haus seiner Eltern angelangte.
Dieses Mal wurde der Honda auf halbem Weg in der Auffahrt von zwei Polizisten angehalten. Selbst aus dieser Entfernung wurde ihre Trauer sichtbar, an der kraftlosen Art, wie sie aus dem Wagen stieg, als könnte sie kaum die Energie aufbringen, sich auf die Beine zu stellen und zu gehen.
Vielleicht war es egoistisch von ihm gewesen, sie herzubitten.
Er eilte die Treppe hinunter und zur Tür hinaus.
»Angela Diamond«, sagte ich zu den Polizisten. »Ich bin die Schwägerin von Sean Fell«
»Ich habe sie gebeten, herzukommen«, sagte Sean und nahm meine Hand. Ich griff danach wie nach einem rettenden Strohhalm.
»Man wird bestimmt mit Ihnen sprechen wollen«, sagte einer der Beamten und nickte seitwärts. »Bleiben Sie im Haus?«
»Ja.«
Sean stellte mein Auto am Rand der Auffahrt ab, und wir gingen hinein. Überall im Haus und im Garten waren Menschen, gelbes Absperrband, all die Dinge, die ich normalerweise im Zusammenhang mit den Tragödien anderer Menschen zu sehen bekam.
Ich stellte mich auf Zehenspitzen und umarmte Sean. Ich machte keinen Versuch, meine Tränen zurückzuhalten. Wieder einmal weinten wir gemeinsam.
»Wo sind deine Eltern?«, fragte ich.
»Oben in ihrem Zimmer. Mom liegt im Bett. Sie haben die ganze Nacht mit der Polizei geredet.«
»Was ist denn genau passiert?«
»Soll ich nicht zuerst Wasser aufsetzen? Möchtest du etwas? Tee vielleicht?«
»Gerne.«
»Direkt da draußen, hinter den Geräteschuppen.« Sean stand am Esszimmerfenster und zeigte hinaus. »Auf der anderen Seite des Schwimmbadzauns. Auf diesem gepflasterten Stück, wo immer der Pool-Service parkt. Dort hatte Jim den Jaguar abgestellt. Er hat ihn immer abseits von den anderen Autos geparkt, damit er keine Kratzer bekommt.
Wir können nicht genau sagen, wann er die Party verlassen hat. Aber soweit wir wissen, hat er sich von niemandem verabschiedet.«
Sean wirkte ausgelaugt. Eine dunkle Haarsträhne hing ihm über das rechte Auge. Er bewegte sich mühsam, wie in Zeitlupe.
»Aber«, fuhr er fort, »das war ja nichts Besonderes. Du weißt es ja auch. Er schluckt ein paar Scotch, legt sich mit jemandem an und verschwindet dann. Also ist er irgendwann um zwölf oder um eins zu seinem Auto rausgegangen, wo offensichtlich irgend so ein Mistkerl nur darauf gewartet hat, dass er mit dem Schlüssel auftaucht. Der hat Jim dann eins übergebraten und… und hat das Auto gestohlen. Die Tatwaffe haben sie noch nicht gefunden. Vielleicht wollte er ihn ja gar nicht umbringen … aber …« Sean rieb sich die Augen. »… er hat es getan.«
Leise fragte ich: »Dein Vater hat ihn entdeckt?«
Sean nickte. »So gegen drei heute Morgen. Als das Küchenpersonal und die anderen alle weg waren, ist er hinausgegangen, um ein bisschen frische Luft zu schnappen. Und da hat Jim vor ihm im Gras gelegen.«
Sean ging vom Fenster weg, und ich ging ihm nach. Wir saßen auf einem kleinen Sofa in einem Erker des Esszimmers. Rosen – Jims Rosen – ragten aus einer Vase neben meinem Ellbogen. Ihr Duft war himmlisch und grässlich zugleich.
Die Erinnerung an jenen einzigen Augenblick mit Sean war im Laufe der Jahre um nichts schwächer geworden, das Empfinden seiner Nähe war heute so intensiv wie damals. Der Duft seiner Haut, das schwarze, seidene Haar…
Damals hatte ich meine Gründe gehabt, all das zu ignorieren, und später war es wegen Sarah gewesen. Natürlich hätte ich niemals auch nur daran gedacht, mich zwischen meine Schwester und Sean zu drängen. Und jetzt war eine solche Vorstellung vollkommen unmöglich, nichts weiter als ein schlechter Witz …
»Er hat sich gestern Abend mit mir angelegt«, sagte Sean. »Du hast es doch mit eigenen Ohren gehört.«
»Ja.«
Seans Augen füllten sich mit Tränen. »Warum habe ich bloß nicht nachgehakt? Warum habe ich ihn nicht gezwungen, deutlicher zu werden? Ich wollte es nicht hören. Ich habe zugelassen, dass er weggeht und ermordet wird.«
Ich hängte mich bei ihm ein. Vielleicht spürte er mein Zittern, aber er zeigte es nicht.
Ich nahm all meine Konzentration zusammen, um das zu sagen und zu tun, was ich im Falle meiner Unschuld gesagt und getan hätte. Also zwang ich mich zu einem geschwisterlichen Tonfall. »Aber so war es doch gar nicht. Und das weißt du auch. Warum musst du dich nur immer für alles verantwortlich fühlen?«
»Ich weiß nicht.«
Es stellte sich heraus, dass Detective Red Straker die Ermittlungen leitete. Wir waren schon gelegentlich mit den gleichen Fällen befasst gewesen, daher kannte ich ihn flüchtig. Er war ein kluger Kopf und hatte einen guten Ruf.
Bei jenen flüchtigen Begegnungen hatte ich das Gefühl gehabt, dass wir beide etwas gemeinsam hatten, eine gewisse direkte Unbestechlichkeit. Jetzt ließ schon der bloße Gedanke an ihn meine Hände feucht werden. Ich drückte sie gegen die Oberschenkel, um den Schweiß loszuwerden.
»Tut mir Leid, dass wir uns unter diesen Umständen wiedersehen müssen«, sagte Red. »Ihr Schwager, stimmt’s?«
»Genau genommen ist Sean mein Schwager. Er war mit meiner Schwester verheiratet. Sie ist vor drei Monaten gestorben.«
Red nickte. »Ich hab’s gehört. Schlimm, wenn man dann gleich von der nächsten Tragödie getroffen wird.«
Wir saßen auf einer Bank im Foyer. Es war nicht besonders hell. Straker hatte ein aufgeschlagenes Notizbuch mit einer Gästeliste der Feier vor sich. Die Seite war sehr eng beschrieben, und er musste sich dicht darüber beugen, um etwas lesen zu können.
»Sind Sie gestern Abend alleine hergekommen?«
»Ja.«
»Sie sind geschieden, stimmt’s?«
»Getrennt lebend.«
»Wie heißt Ihr Mann?«
»Barry Carnow.«
»Lebt er auch hier in der Gegend?«
Ich nickte. »Direkt in Rye.«
»Und Sie wohnen auch in Rye?«
»Ja.«
»Welcher Arbeit geht Mr. Carnow nach?«
»Dr. Carnow. Er ist Facharzt für Magen-Darm-Erkrankungen.« Ich wollte schon weiterreden, doch dann hielt ich inne. »Müssen Sie das wirklich alles wissen?«
»Ich weiß noch gar nicht genau, was ich wissen muss.« Er blätterte um. »Sie haben mit dem Verstorbenen beim Essen zusammengesessen. Sie und Sean und Maeve Byrne.«
»Das ist richtig.«
»Haben Sie etwas gehört oder gesehen, das für mich interessant sein könnte?«
Ich sah dem Detective direkt in die Augen. »Soweit es den Mord betrifft, nein. Ich bin so gegen halb zwölf nach Hause gegangen. Und bis zu Seans Anruf heute Morgen hatte ich keine Ahnung, dass etwas passiert war.«
»Sean hat ausgesagt, dass Jim ziemlich wütend war. Und dass es am Tisch einen Streit gegeben hatte.« Red blätterte weiter nach hinten. »Jeder, mit dem wir im Verlauf des heutigen Vormittags gesprochen haben, hat ausgesagt, dass Jim für dieses Auto sein Leben gegeben hätte. Und jetzt sieht es so aus, als hätte sich das buchstäblich bewahrheitet. Aber es gibt keinerlei Anzeichen für einen Kampf. Sean ist der Meinung, dass Jim durch den Streit noch abgelenkt war, unaufmerksam, und dadurch eine leichte Beute.«
»Das wäre möglich«, erwiderte ich.
»Worum ging es bei dem Streit?«
Bei dieser Frage hatte Straker seine Sitzhaltung ein klein wenig verändert. Zum ersten Mal im Verlauf unseres Gesprächs aktivierten sich meine Anwaltssensoren.
»Es ging um die Geschenke zum Hochzeitstag und um Jims Tätigkeit für Sean.«
»Wie heftig wurde gestritten?«
»Die Stimmung war angespannt. Ich habe beide daran erinnert, was der eigentliche Anlass dieses Abends war. Dann fingen die Musiker an zu spielen, und sie mussten mit der Streiterei aufhören. Ein paar Minuten danach bin ich zur Toilette gegangen. Falls sie also weitergemacht haben, dann nicht in meiner Gegenwart.«
Straker machte sich eine Notiz. »Was waren das für Geschenke?«
»Das müssten Sie doch alles schon längst wissen. Sean hat den beiden eine Japan-Reise geschenkt und angedeutet, dass das Geschenk von ihm und Jim gemeinsam sei. Aber Jim hat das überhaupt nicht gepasst. Er hatte riesige Bündel frischer Rosen geschickt und hat Seans Geste, ihn mit einzuschließen, wortwörtlich als ›bescheuert‹ empfunden.«
»Und Sean hat sich darüber geärgert?«
»Vermutlich. Aber da werden Sie ihn schon selbst fragen müssen.«
»Das mache ich.« Er schrieb wieder etwas auf. »Und die Sache mit der Arbeit? Worum ging es denn da? Sean besitzt eine Reihe von Restaurants, das weiß ich. Das Bobby’s hier in Rye, das Bobby’s East in Boston – und Jim war hier Empfangschef. Hat es da … Spannungen gegeben?«
»Jim hatte anscheinend den Eindruck, nicht hundertprozentig respektiert zu werden.«
»Mm-hm.« Straker beobachtete mich.
Das war eine Technik, die ich auch gelegentlich anwandte – Stille entstehen lassen und abwarten, bis der andere sie füllt. Ich starrte zurück, fast schon bebend vor Anstrengung.
Schließlich lehnte er sich zurück. »Kennen Sie die Frau, mit der Jim zusammengelebt hat?«
»Ardis? Nicht besonders gut. Sie haben sich lediglich die Wohnung geteilt. Es war keine Liebesbeziehung.«
»Hatte er mit jemandem eine Liebesbeziehung?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
Red blickte auf seine Notizen. »Ist Ardis Ärztin?«
»Nein. Ich glaube, sie hat eine Ausbildung als Sprachtherapeutin oder etwas in der Richtung. Aber sie bezeichnet sich selbst als Heilerin. Sie arbeitet mit Ölen und Kräutern.«
Straker schaute mich noch einmal durchdringend an. »Und was halten Sie von der Geschichte? Was ist Ihrer Meinung nach hier vorgefallen?«
Ich zuckte mit den Schultern. Ich hatte zahllose solcher Befragungen beobachtet und durchgeführt und wusste genau, dass das Gespräch beendet war. Meine Erleichterung bewirkte, dass ich genau die richtige Antwort parat hatte. »Ich habe noch keine Meinung. Ich weiß nur das, was ich von Sean und von Ihnen gehört habe.«
Es würde zwar grässlich werden, aber ich konnte nicht weggehen, ohne nach Bruce und Nancy gesehen zu haben.
Sean brachte mich nach oben und klopfte an ihre Schlafzimmertür. Bruce machte auf.
»Ich will nicht lange stören«, sagte ich. »Ich wollte euch nur sagen, dass ich hier bin.«
Dann umarmte ich Bruce. Er war ein großer, schwerer Mann, aber er fühlte sich weich an, geschlagen, überwältigt.
»Es ist wirklich furchtbar«, sagte er.
»Ich kann es nachfühlen.«
»Ja, das weiß ich.«
Nancy lag auf dem gemachten Doppelbett. Sie sah sehr ungesund aus. Ihre dunklen Haare wirkten im Gegensatz zu ihrer lehmigen Gesichtsfarbe richtiggehend schwarz.
Ich trat zu ihr und hielt ihr die kalte Hand. »Es tut mir so Leid, Nancy.«
Nancy nickte und hob ihre andere Hand an meine Wange. Sie sagte kein Wort. Ich nahm auch diese Hand in meine und drückte sie beide, versuchte, sie zu wärmen.
Nur unter Aufbietung aller Kräfte konnte ich verhindern, dass ich mich direkt auf das Bett erbrechen musste.
Sean hatte sich an das Kopfteil des Bettes gelehnt. Alle Lichter waren aus, nur der Fernseher lief. Sarahs Seite war weiterhin Sarahs Seite, auf die er nur gelegentlich im Schlaf geriet, so wie zu den Zeiten, als sie noch gelebt hatte.
Er schaute die Nachrichten und wusste, was kommen würde. Er hatte das Bild selbst zur Verfügung gestellt. Und doch traf es ihn wie ein Schlag mitten ins Gesicht, als das Auto auf dem Bildschirm auftauchte.
»… ein schwarzer Jaguar, Baujahr 1994, mit schwarzen Ledersitzen«, sagte der Nachrichtensprecher. »Der oder die Täter haben den Wagen vermutlich im Anschluss an die Ermordung von James Fell, Sohn des Präsidenten der Harrison University, gestohlen. Die Polizei nimmt an, dass die Täter entweder beim Diebstahl des Wagens überrascht wurden oder dass sie auf James Fell gewartet haben, um ihm die Schlüssel abzunehmen. Wenn Sie dieses Auto gesehen haben oder etwas über das geschilderte Verbrechen wissen, dann rufen Sie bitte die unten eingeblendete Nummer an.«
Jetzt wurde unter einem Familienfoto der Fells eine Telefonnummer eingeblendet. Sean beugte sich dichter vor den Fernsehschirm. Sie hatten alle vier die Arme umeinander gelegt und lächelten. Er überlegte, wann es aufgenommen worden war, aber er konnte sich lediglich noch an ein Essen im Freien erinnern, an Grillfeuer und Zikaden.
Vor Sarah.
Vor dem Tod.